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Christliche Werkstätten
Woran Inklusion scheitern kann

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist eindeutig: Behinderte wie Nicht-Behinderte sollen gemeinsam auf dem Ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Mit der Wirklichkeit in Deutschland hat das wenig zu tun. Für viele Behinderte bleiben nur Behindertenwerkstätten, die häufig von den Kirchen betrieben werden. Kaum jemand schafft von dort den Sprung ins "normale" Arbeitsleben.

Von Rainer Brandes |
    Behinderte Mitarbeiter in einer Werkstatt der Bethel-Stiftung in Bielefeld
    Behindertenwerkstätten stehen in der Kritik, ihre Mitarbeiter viel zu selten auf den Ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. (imago/epd)
    "Und dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat."
    Erster Brief des Petrus, Kapitel 4, Vers 10.
    1872. Die erst wenige Jahre alte "Evangelische Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische bei Bielefeld" bekommt einen neuen Vorsteher. Sein Name: Friedrich von Bodelschwingh. Der umtriebige Theologe hat eine Vision: Er will aus der Anstalt eine Kolonie machen, in der Gesunde wie Kranke gemeinsam leben und arbeiten.
    Diese Kolonie nennt er Bethel – hebräisch für "Haus Gottes". Im Laufe der Jahre kommen immer weitere Stiftungen hinzu. Sie kümmern sich um Behinderte, um Arbeitslose oder um alte Menschen. Friedrich von Bodelschwingh ist davon überzeugt: Das Gebot der Nächstenliebe verpflichtet Christen dazu, sich Bedürftiger anzunehmen. Er glaubt aber auch, dass jeder Mensch – auch der behinderte – Gaben besitzt, die er in die Gemeinschaft einbringen kann. Kranke und Behinderte sollen in Bethel nicht nur verwahrt werden, sie sollen entsprechend ihrer Möglichkeiten hier auch arbeiten.
    Behinderte als Vorbild für die Gesunden
    Friedrich von Bodelschwingh glaubt sogar, die Behinderten könnten ein Vorbild für die Gesunden in seiner Kolonie sein.
    "Denn, wenn es unfehlbare Heilmittel gegen diese, wie überhaupt gegen jede Krankheit gäbe, so wäre dadurch doch Gottes Gnadenabsicht bei der Zusendung einer Krankheit zunichte gemacht. Die Menschen würden dann, statt Gott selbst zu suchen, diese Heilmittel zu ihrem Gott machen, und jeder Segen des Leidens wäre verloren."
    Friedrich von Bodelschwingh, Gebet aus dem Christlichen Ratgeber für Epileptische, 1888.
    Das Leiden als Segen – von dieser Vorstellung hat man sich in Bethel längst verabschiedet. Heute versteht man sich als moderner Dienstleister – als das größte diakonische Unternehmen Europas. Am Prinzip der christlichen Kolonie aber hält man fest. Bethel ist heute ein eigener Stadtteil Bielefelds, idyllisch gelegen zwischen grünen Hügeln oberhalb der Stadt. Man muss hier nicht mehr wohnen, um hier arbeiten zu können. Viele tun es aber – Behinderte wie Nicht-Behinderte. Es ist eine Parallelwelt, die sich selbst als Vorreiter für eine inklusive Gesellschaft sieht – also eine Gesellschaft, an der alle Menschen gleichberechtigt teilhaben. Bethel will dazu beitragen, diese Ideen in die gesamte Gesellschaft hineinzutragen – so wie alle anderen Träger von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in Deutschland auch.
    Das Schlagwort "Inklusion" haben sie sich alle auf die Fahnen geschrieben. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert.
    "Die Vertragsstaaten verpflichten sich, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen."
    Artikel 4, UN-Behindertenrechtskonvention.
    Die größte Diskriminierung besteht am Arbeitsmarkt
    Experten sind sich einig, dass bisher die größte Diskriminierung behinderter Menschen am Arbeitsmarkt besteht. Warum das so ist, und ob ausgerechnet die traditionellen Träger von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen daran etwas ändern können, das lässt sich exemplarisch gut in Bethel beobachten. Denn neben der Lebenshilfe sind es vor allem die Kirchen, die in Deutschland diese Einrichtungen betreiben.
    "Einem arbeitsfähigen Menschen Arbeit geben ist stets viel barmherziger, als ihm ein Almosen geben; ersteres hebt ihn, letzteres entehrt ihn."
    Friedrich von Bodelschwingh, 1882.
    Bethel ist mit seinen über 17.500 Mitarbeitern das größte diakonische Unternehmen innerhalb der Evangelischen Kirche. Mehr als 3000 Menschen werden hier allein im Bereich Arbeit und berufliche Rehabilitation betreut.
    Ein Stück außerhalb der eigentlichen Ortschaft Bethel befindet sich inmitten eines gemischten Wohn- und Gewerbegebietes die Werkstatt Brokstraße. Ein schlichtes einstöckiges Gebäude, weiß gestrichen, große Fenster. Die Werkstatt gehört zur Betheler Stiftung proWerk. Innen stehen in einer großen Halle mehrere Werkbänke hintereinander. An einer der Werkbänke verpacken drei Mitarbeiter Staubsaugerteile in Kartons. Dahinter – an einer weiteren Werkbank – steht Sabine Pinkis.
    "Wir machen hier Fensterscharniere. Also, wir müssen das hochbiegen. Kann ich einmal so 'n unfertiges Teil haben, das man da mal zeigen kann?"
    Sie greift in eine Schachtel mit etwa drei Zentimeter großen beweglichen Metallsteckern.
    "Also, denn wenn das so runter ist, muss man das so hochbiegen. Und wir müssen das schön gerade machen und so, und dann kommt das hier in die Kartons rein."
    Außer Fensterscharnieren fertigt Sabine Pinkis auch Teile für Heizungsanlagen. Seit 25 Jahren arbeitet sie in Bethel. Vorher ist sie hier auch zur Schule gegangen – auf eine Sonderschule, wie das damals hieß. Sie sagt, ihr mache die Arbeit Spaß und sie fühle sich wohl in Bethel. Trotzdem hört man den Stolz in ihrer Stimme, wenn sie erzählt, dass sie inzwischen nicht mehr in Bethel wohnt.
    "Ich wohne außerhalb. Ich hab‘ eine eigene Wohnung auf dem Langen Kampe mit Betreuung. Da kommt einmal in der Woche – je nachdem, wie ich’s brauche – jemand."
    "Die Aussätzigen werden aus den Städten vertrieben, aus den Häusern, von den Marktplätzen, den Versammlungen, den Straßen, den Festlichkeiten und Gelagen und selbst – welch ein Jammer! – vom Wasser werden sie weggejagt. Doch andererseits treibt es diese elenden Jammergestalten immer wieder unter die Menschen. Und das ist wohl recht so."
    Gregor von Nazianz, Bischof von Sasima, um 370.
    Vermittlungsquote auf reguläre Arbeitsplätze unter einem Prozent
    Sabine Pinkis hat den ersten Schritt in die Gesellschaft geschafft. Sie lebt nicht mehr in einer speziellen Einrichtung für Behinderte, sondern in einer normalen Wohnung. Doch ob sie jemals auch den nächsten Schritt schafft, einen Arbeitsplatz in einem Unternehmen auf dem freien Markt zu bekommen, da ist sie skeptisch.
    "Es muss ja auch was sein, was mir gefällt, und dass es auch nicht zu stressig ist, dass ich das auch aushalte wegen meiner Gesundheit. Ich kann zum Beispiel nicht lange stehen wegen meinen Beinen, wegen meinem Rücken und weil ich kranke Knie, kranke Knochen hab‘."
    Sabine Pinkis ist damit kein Einzelfall. Sie ist die Regel. Etwa 300.000 Menschen arbeiten zurzeit in Werkstätten für behinderte Menschen – so viele wie nie zuvor. Laut Gesetz sind diese Werkstätten Rehabilitationseinrichtungen. Der Name sagt schon: Die hier beschäftigten Menschen sollen möglichst qualifiziert werden, um später einen Job auf dem Ersten Arbeitsmarkt antreten zu können.
    Mit der Wirklichkeit hat dieser Anspruch wenig zu tun. Die Vermittlungsquote auf reguläre Arbeitsplätze liegt bundesweit unter einem Prozent. Auch in Bethel ist das nicht anders. Die Zahlen sprechen eine so deutliche Sprache, dass der Produktionsleiter von proWerk, Udo Bröker, unumwunden zugibt, seinem eigenen Anspruch nicht gerecht zu werden.
    "Es gelingt uns nicht gut, weil der Prozentsatz, den wir auf den Ersten Arbeitsmarkt vermitteln, ist ziemlich gering – liegt unter einem Prozent. Aber ich sag‘ mal: Das ist ja auch ein Wunschtraum, es gibt ja unter den Menschen, die wir hier haben, viele Leute, die können zwar auf dem Ersten Arbeitsmarkt arbeiten, aber zu bestimmten Bedingungen. Und dazu muss dann der Arbeitgeber auch bereit sein, bestimmte Bedingungen einzuhalten. Also, von daher sag‘ ich mal so: Die Hoffnung, dass wirklich ein großer Teil der Menschen hier auf dem Ersten Arbeitsmarkt arbeiten kann, die habe ich nicht."
    Die Kritik an den Werkstätten
    Genau hier setzt die Kritik an den Werkstätten an. Anstatt alles daran zu setzen, ihre Beschäftigten auf den Ersten Arbeitsmarkt zu bringen, hielten sie sie in Abhängigkeit fest. Die Träger der Werkstätten hätten ein wirtschaftliches Interesse daran, ihre Beschäftigten zu behalten. Das gelte auch für die vielen Werkstätten in kirchlicher Trägerschaft, für die wirtschaftlicher Erfolg eigentlich kein Kriterium sein dürfte. Diese Kritik kommt von Behindertenrechtsaktivisten. Sie kommt aber auch von Soziologen.
    "Es ist eine Frage institutioneller Verfestigung. Ändern Sie mal eine Institution. Das ist wahnsinnig schwer."
    Martin Baethge, Präsident des Soziologischen Forschungsinstitutes Göttingen an der Georg-August-Universität.
    "Da sind Machtinteressen mit verbunden. Da sind finanzielle Interessen mit verbunden. Da sind gesellschaftliche Statusinteressen mit verbunden. Und die stehen zur Disposition, wenn die Institution ihre originäre Widmung verliert."
    Das nämlich wäre die Konsequenz: Wollte man einen wirklich inklusiven Arbeitsmarkt, müssten sich die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen selbst abschaffen – oder zumindest radikal verändern. Ihre Aufgabe wäre es dann, ihre Beschäftigten so weit zu fördern, dass sie die Werkstatt möglichst schnell wieder verlassen können.
    Die Gefahr, allen das Leitbild Inklusion überzustülpen
    Erste Ansätze gibt es dazu bereits. ProWerk entsendet inzwischen einige seiner Beschäftigten an andere Unternehmen. Dort arbeiten sie dann gemeinsam mit den Angestellten dieser Firmen. Alle Fachleute sind sich einig, dass das ein gutes Modell ist. Doch bisher sind nur sehr wenige Firmen bereit, dabei mitzumachen. Noch geringer ist die Bereitschaft, die behinderten Menschen als eigene Mitarbeiter zu übernehmen. Das aber wäre das eigentliche Ziel eines inklusiven Arbeitsmarktes. Dauerhaft blieben in den Werkstätten dann nur noch schwerstbehinderte Menschen, die tatsächlich an einem regulären Arbeitsplatz nicht bestehen können.
    Doch genau vor dieser Entwicklung warnt Ulrich Pohl. Der Theologe ist Vorstandsvorsitzender der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.
    "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht von uns heraus Restgruppen von Menschen definieren, die dann sozusagen im Bereich der Inklusion minderen Rechts sind. Das halte ich für eine ganz große Gefahr, weil es natürlich auch das auslöst, dass einzelne soziale Gruppen dann immer wieder auch runtergucken und Gruppen, die größere Einschränkungen haben, stigmatisieren."
    Darüber hinaus warnt Ulrich Pohl davor, behinderte Menschen erneut zu bevormunden. Jahrzehntelang lang habe die Gesellschaft Behinderten vorgegeben, für sie sei es das Beste, in separaten Einrichtungen zu leben und zu arbeiten. Nun bestehe die Gefahr, ihnen ein neues Leitbild überzustülpen: das der Inklusion. Stattdessen sei es Aufgabe der Kirche, denjenigen einen Schutzraum zu bieten, die sich am Ersten Arbeitsmarkt überfordert fühlen.
    "Wir erleben ja auch Menschen, die auf dem Ersten Arbeitsmarkt Versuche gemacht haben, und zum Beispiel wegen ihrer Medikation, die sie haben, sagen: Das ist mir zu schnell, das kann ich nicht erfüllen, ich möchte zurückkommen in andere Formen von Beschäftigung, in so einen etwas mehr geschützten Raum, weil sie sagen: Das überfordert mich."
    "Ich gebe Tobias jetzt Kabel an, die er anschlägt an der Maschine. Das hört man auch an dem Geräusch gleich."
    Zurück in der Werkstatt Brokstraße. Nicole Theophil hat genau das erlebt, wovon Ulrich Pohl gesprochen hat. Die junge Frau hat Epilepsie. Schon als Kind kam sie nach Bethel, ist hier auf eine Förderschule gegangen und konnte später ihren Hauptschulabschluss nachholen. Und sie hat sich auf dem Ersten Arbeitsmarkt versucht. Trotz der Unterstützung durch den Integrationsfachdienst von Bethel ist sie dort gescheitert. Als Epileptikerin muss sie strikt auf einen regelmäßigen Tagesrhythmus achten. Die Arbeitszeiten und der Leistungsdruck waren schließlich zu viel. Nach einem Anfall ist sie zurückgegangen in die Behindertenwerkstatt. Heute sagt sie über den Ersten Arbeitsmarkt:
    "Er überfordert einen, er kann anstrengend sein und wenn man wirklich Epilepsie hat und man muss auf seinen Schlafrhythmus achten, ist das schon sehr gefährlich."
    In der Werkstatt Brokstraße hat sie nun eine neue Aufgabe gefunden. Sie lässt sich zur Alters- und Arbeitsassistentin ausbilden. Dabei unterstützt sie andere Beschäftigte bei der Arbeit. Zum Beispiel Tobias Hille, der im Rollstuhl sitzt und seine Arme nur eingeschränkt bewegen kann. Nicole Theophil reicht ihm Elektrokabel an, die er dann in eine Maschine steckt, die die Kabel an den Enden abisoliert.
    "Dann sieht das so aus, und, ja, das ist meine Hauptaufgabe hier, die Kabel anzuschlagen, und, ja, das ist meine regelmäßige Beschäftigung."
    "Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird."
    Artikel 27, UN-Behindertenrechtskonvention.
    Tobias Hille sagt, ihm mache die Arbeit Spaß. Doch seiner Qualifikation entspricht sie nicht. Er ist nämlich ausgelernter Bürokaufmann. Nach seiner Ausbildung hat er viele Bewerbungen geschrieben – alle vergeblich.
    "Das scheiterte unter anderem an den Firmen und den räumlichen Gegebenheiten, die die Firmen zur Verfügung hatten, und an dem Betreuungsbedarf. Ich muss unterstützt werden in speziellen Arbeitsbereichen und deswegen ist die Werkstatt für mich die einzige Möglichkeit, vernünftig zu arbeiten, weil hier die Rahmenbedingungen anders gegeben sind."
    Ursprünglich hatte Bethel Tobias Hille einen einfachen PC-Arbeitsplatz angeboten. Der wurde ihm aber zu langweilig. Lieber ist er in die Produktion gegangen. Warum ihn Bethel nicht als Bürokaufmann in der Verwaltung einstellen kann? Tobias Hille zuckt mit den Schultern.
    "Da müsste ich spezielle Fördermaßnahmen kriegen und, ja, dafür fehlt dann ab und zu das Geld."
    Regulärer Lohn statt Taschengeld
    Dieses Beispiel zeigt, wie weit der deutsche Arbeitsmarkt noch vom Ideal entfernt ist, das die UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt. Tobias Hille ist dabei eher die Regel als die Ausnahme. 43 Prozent aller Behinderten mit abgeschlossener Ausbildung haben keine reguläre Arbeit.
    Der Soziologe Martin Baethge macht dafür die allgemeine Arbeitskultur in den Betrieben verantwortlich. Behinderte würden häufig nur als Kostenfaktor gesehen, nicht als Mitarbeiter, die ihre Kompetenzen einbringen. Letztlich sei dieses System ineffizient.
    "Ich denke, wenn man die Behindertenrechtskonvention umsetzen will, dann muss man zu einer anderen Arbeits- und Betriebskultur kommen, denn es hat ja keinen Zweck, die auszubilden, und dann versperrt sich ihnen der Arbeitsmarkt und versperren sich ihnen die Betriebe."
    Das ist besonders problematisch, weil die Behindertenrechtskonvention eigentlich eine gleichwertige Bezahlung verlangt, die den Lebensunterhalt sichert. Das aber ist in den Behindertenwerkstätten nicht der Fall. Tobias Hille zum Beispiel erhält für seine Vollzeit-Arbeit an der Kabelisoliermaschine knapp 120 Euro im Monat. Für seinen Lebensunterhalt ist er auf Grundsicherung angewiesen.
    "Dieser Zusammenhang ist fast überhaupt nicht zu vermitteln. Jeder normale Bürger denkt: Meine Güte, wie kann das sein? Acht Stunden Arbeit für dieses Entgelt!"
    Martin Henke, Geschäftsführer von proWerk in Bethel.
    "Aber wir reden hier über Eingliederungshilfe. Und wenn man die Leistungen, die damit zusammenhängen, mit einbezieht, die Leistungen des Fahrgeldes, des Fahrdienstes, ich werde betreut, ich bekomme pflegerische Unterstützung am Arbeitsplatz, es wird für mich in die Rente einbezahlt, ich habe nach 20 Jahren Tätigkeit in der Werkstatt Anspruch auf eine durchschnittliche Rente, wenn man das alles zusammenzieht, sind wir bei einem Verdienst, der deutlich, deutlich über dem Niedriglohnsektor liegt. Und damit wird ein großer Beitrag zur sozialen Absicherung von Menschen mit Behinderung geleistet."
    Trotzdem: Den Verantwortlichen in Bethel wäre es lieber, sie könnten ihren Beschäftigten einen regulären Lohn statt eines Taschengeldes zahlen. Denn das bisherige System zementiert für jeden sichtbar den Unterschied zwischen dem Ersten Arbeitsmarkt, wo reguläre Löhne gezahlt werden, und dem Sonderarbeitsmarkt der Werkstätten. Das Gefühl, immer in eine Sonderkategorie gesteckt zu werden, das begleitet viele Menschen mit Behinderungen ein Leben lang. Es beginnt schon in der Ausbildung.
    Ausbildung für Lernschwache anbieten
    "Also, hier ist jetzt der Fahrradbereich. Hier können Kunden auch hinkommen und Fahrräder reparieren lassen und wir verkaufen auch Fahrräder dann, wenn Leute hier welche kaufen möchten."
    Manuel Goffert führt durch eine Fahrradwerkstatt. Sie gehört zum Bildungszentrum Schopf, das ebenfalls Teil von Bethel ist. Der Jugendliche ist sichtlich stolz auf das, was er hier gelernt hat. Das Bildungszentrum soll junge Menschen fördern, die es schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Menschen wie Manuel Goffert. Er hat eine Lernschwäche, das Schreiben fällt ihm schwer. Trotzdem hat er jetzt den Absprung auf den Ersten Arbeitsmarkt geschafft. Nach einem Praktikum in einer Motorradwerkstatt hat ihm der Chef einen Ausbildungsplatz angeboten.
    "Ich hab‘ einfach gearbeitet und er fand mich ganz gut. Er fand, dass ich gut arbeite, war richtig begeistert von mir."
    Für Manuel Goffert ist das ein Riesenerfolg. Was er allerdings erst auf Nachfrage sagt: Er wird dort keine vollwertige Ausbildung als Zweiradmechaniker machen, sondern eine abgespeckte Ausbildung als Beihilfe. Das Gesetz sieht solche Sonderberufe vor, um benachteiligten jungen Menschen die Chance zu bieten, auf dem Ersten Arbeitsmarkt anzukommen. Doch in der Mehrheit der Fälle funktioniert das nicht, bemängelt der Soziologe Martin Baethge:
    "Wir wissen nur, dass also nicht einmal 40 Prozent von denen in ein Beschäftigungsverhältnis übergeht. Und das ist natürlich kein so starker und prickelnder Befund."
    Martin Baethge plädiert stattdessen dafür, auch lernschwächeren Jugendlichen einen normalen Ausbildungsplatz anzubieten. Die Ausbildungszeit könnte für sie verlängert werden. Einrichtungen wie Bethel müssten ihre Pädagogen in die Betriebe entsenden, wo sie dann die Jugendlichen unterstützen könnten. Das aber würde ein neues Verständnis von Behinderung voraussetzen, sagt Martin Baethge.
    "…nämlich ein Verständnis von Behinderung, das sagt, die Barrieren liegen in der Realität, nicht bei dem Jugendlichen, denn es sind ja die Barrieren, die seine Beeinträchtigung so steuern, dass er benachteiligt wird an der Teilhabe."