Sie habe im privaten Umfeld ein verstörendes Phänomen beobachtet, schreibt eine Hörerin dem Deutschlandfunk. In ihrer Familie gebe es einige Personen, die evangelisch und "stark gläubig" seien und die Impfungen gegen das Coronavirus rigoros ablehnen würden.
"Sie sagen, dass die Corona-Pandemie eine Strafe Gottes sei und der Weg da heraus über ein gottgefälliges Leben und das Gebet führt. Ich weiß weiterhin, dass der Pfarrer unserer Gemeinde […] Impfen ebenfalls ab[lehnt]. Ein drittes Beispiel wurde mir von einer Freundin nahe gebracht[...]. Sie erzählte von einer Bekannten, die sich hat impfen lassen und dies [...] in ihrem Umfeld der Glaubensgemeinde [...] auf keinen Fall sagen [könne], weil sie sonst umfangreichen Anfeindungen ausgesetzt wäre. […] In allen drei evangelischen Gemeinden scheint es unter den Gläubigen bis hinauf zum Pfarrer den Konsens oder zumindest die weitreichende Verbreitung der Ansicht zu geben, dass Corona von Gott gemacht und eine Impfung nicht im Sinne Gottes sei […]."
"Dualistische Frömmigkeit"
Evangelischer Glaube als Impfhindernis? Statistisch lässt sich das für Deutschland nicht belegen – für die USA hingegen schon. Laut dem Forschungszentrum Pew sind dort weiße Evangelikale diejenige Gruppe, die Corona-Impfungen am stärksten ablehnt: Nur etwa jeder zweite weiße Evangelikale will sich impfen lassen, deutlich weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt in den USA.
Auch in Deutschland gibt es zwar immer wieder Umfragen dazu, wer sich gegen Corona impfen lassen möchte und wer nicht, nach der Religion oder nach religiösen Beweggründen wurde dabei bislang jedoch nicht gefragt.
Aus den großen christlichen Kirchen kommt generell eher Zustimmung zu den Impfungen. So bezeichnete die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs sie im "Hamburger Abendblatt" als einen "Aspekt der Nächstenliebe". Es gibt aber eben auch ganz andere evangelische Stimmen, die:
"den Verzicht aufs Impfen und die Impfskepsis als Ausdruck der eigenen Rechtgläubigkeit verstehen."
Erklärt der evangelische Theologe Martin Fritz. In Teilen des Protestantismus herrsche eine "dualistische Frömmigkeit" vor. Und diese ziehe eine klare Grenze:
"Zwischen der ungläubigen, gottlosen Welt draußen und den Frommen, die wirklich berufen sind und sich bekehrt haben."
Martin Fritz ist theologischer Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Er beobachtet, wie sich religiöse Gruppen in der Corona-Pandemie verhalten und positionieren - wer beispielsweise Impfungen ablehnt und wer sie befürwortet:
"Eine liberalere, kirchlichere Frömmigkeit ist eher dazu geneigt – und zwar katholischerseits wie evangelischerseits -, den Aufrufen zur gesellschaftlichen Verantwortung durchs Impfen nachzukommen und auch grundsätzlich ein Vertrauen gegenüber den staatlichen Institutionen und auch den öffentlichen Medien zu haben."
Aus Abtreibungsgegnern werden Impfgegner
In kleineren christlichen Gruppen könne das allerdings anders aussehen - etwa in den Freikirchen.
"Die meisten sind da genauso verantwortlich. Aber es gibt eben einen kleinen Teil tendenziell - kann man glaube ich sagen - mit einer Neigung zu einer fundamentalistischen Frömmigkeit, wo es eine größere Reserve gegenüber dem Staat generell gibt. Auch gegenüber den Medien, die dann gerne auch als Staatsmedien bezeichnet werden. Da ist eine tiefe Reserve, die wirkt sich dann auch im Bereich des Impfens aus, um in der Impfskepsis der allgemeinen Reserve gegenüber dem Staat und überhaupt der Welt draußen Ausdruck verleihen zu können."
Da heißt es dann etwa, dass Impfungen kein Gebot der Nächstenliebe seien, weil die Nächstenliebe sich nur auf konkrete Menschen beziehe, aber nicht auf die ganze Gesellschaft. Oder dass es Gott vorbehalten sei, Krankheit, Tod und Pandemie zu überwinden. Und manche argumentieren sogar: Jesus war ja auch nicht geimpft.
Solche christlich-fundamentalistischen Positionen finden sich nicht nur im evangelischen Kontext, sondern auch im katholischen. Eine entscheidende Rolle spielt auch die Befürchtung, dass Impfstoffe menschliche Stammzellen enthalten könnten, die von abgetriebenen Föten stammen. In der Impfstoffforschung werden tatsächlich teilweise Zelllinien von legal abgetriebenen Föten eingesetzt. Das führt dazu, dass aus manchen christlichen Abtreibungsgegnern generelle Impfgegner werden.
Predigten bei "Querdenken"-Veranstaltungen
Anzutreffen sind sie unter anderem in der "Querdenken"-Bewegung, die die Maßnahmen gegen das Coronavirus generell ablehnt. Dazu recherchiert der Politikwissenschaftler Josef Holnburger:
"Wenn wir jetzt diese Szene noch mal genauer angucken, dann stellen wir fest, dass da durchaus einige Menschen mit dabei waren, die in freien evangelikalen Kirchen aktiv sind, die in Sekten aktiv waren, die in kleineren Gemeinden zum Beispiel Prediger und Predigerinnen waren und diese Predigten jetzt plötzlich bei diesen 'Querdenker'-Demonstrationen gehalten haben."
Josef Holnburger ist Geschäftsführer vom CeMAS, dem Berliner Center für Monitoring, Analyse und Strategie, das sich unter anderem mit Verschwörungsideologien befasst. Verschwörungsideologien treten auch rund um die Corona-Impfungen immer wieder auf. Dass die damit verbundene Impfablehnung vor allem von stark religiösen Menschen ausgeht, lässt sich statistisch nicht belegen, sagt Holnburger. Er beobachtet aber:
"Eine eindeutige Signifikanz bei Menschen, die denken, dass wir in der Endzeit leben."
Impfen in der Endzeit
Ein Endzeit-Glaube findet sich im christlichen Mainstream eher selten, dafür umso mehr in fundamentalistischen Gruppen. Diese würden sich nun durch die Coronakrise in ihrem Endzeit-Glauben bestätigt fühlen, sagt auch Martin Fritz von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen:
"Manche sehen eben jetzt die Coronakrise – also wirklich eine der größten weltweiten Krisen mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg – als ein Zeichen, dass die Endzeit angebrochen ist. Und wenn ich das so verstehe, dann gibt es natürlich sowieso keinen Grund, mich impfen zu lassen."
Mit rationalen Argumenten könne man nicht viel bewirken gegen eine solche religiös begründete Impfablehnung, so Fritz. Und auch der Politikwissenschaftler Josef Holnburger glaubt, dass Staat und Medien bei eingefleischten Impfgegnern kaum noch Einfluss haben.
"Deswegen ist es tatsächlich der bessere Schritt, wenn insbesondere Familien, Bekannte und Freunde auf diese Personen zugehen und dazu einladen, dass man ohne das Gesicht zu verlieren jetzt doch sich impfen lassen könnte, die Vorteile dann genießen kann, eben nicht krank wird."
Das persönliche Umfeld ist also gefragt – wie die Deutschlandfunk-Hörerin, die sich Sorgen macht um evangelische Impfgegner in ihrer Familie. Doch diese umzustimmen, da sind sich die Experten einig, ist nicht einfach.