Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und hat ein Buch vorgelegt zum Thema: "Die Beschneidung Jesu". Darin plädiert er dafür, dass die katholische Kirche die Abschaffung des "Festes der Beschneidung des Herrn" vor mehr als 50 Jahren wieder rückgängig machen soll. Im "Fest der Beschneidung des Herrn" werde "symbolisch verdichtet und verdeutlicht die Tatsache der Beschnitten-Seins Jesu," so Tück.
Andreas Main: Herr Tück, lassen Sie uns am Anfang unseres Gesprächs möglichst viele Argumente vorwegnehmen, die für die Irrelevanz unseres Themas sprechen. Ich bringe sie vor, Sie antworten kurz. Ich sage: Die Beschneidung ist eine Verletzung der körperlichen Integrität eines jungen Menschen oder eines Babys. Also, der Jude Jesus von Nazareth wurde Opfer einer Menschenrechtsverletzung.
Jan-Heiner Tück: Das kann man so sehen, muss man aber nicht so sehen. Also, Sie haben schon richtig gesagt, das Zeichen der Beschneidung ist extrem komplex. Man kann natürlich den Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit geltend machen und hier quasi einen Eingriff bemängeln. Das wird ja auch getan.
"Ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung ist beschnitten"
Main: Haben Sie Verständnis für diejenigen, die einen archaischen Ritus wie diesen, die Beschneidung, für unakzeptabel halten?
Tück: Wenn man religionssensibel sich dem Thema annähert, muss man halt klar feststellen, dass Beschneidung ein Identitätsmarker für Juden ist - nach der Schoah übrigens nicht nur für religiöse Juden, auch für nicht-religiöse oder agnostische. Man kann darüber hinaus daran erinnern, dass fast ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung beschnitten ist. Das Zeichen der Beschneidung berührt kulturelle, religiöse, medizinische und auch noch andere Aspekte.
"Kirchen sind aufgerufen, an der Seite der Juden zu stehen"
Main: Ich lese Bücher wie Ihres über die Beschneidung Jesu quasi in der Freizeit, also abends oder früh morgens. Und eine Frau, die mir sehr wichtig ist, sagt das, was womöglich viele Hörer jetzt auch denken: Was liest du denn da? 'Beschneidung Jesu'. Ihr seid aber fixiert auf kleine Stückchen Haut. Also, bei der Mutter Jesu dreht es sich ums Jungfernhäutchen. Bei ihrem Sohn um die Vorhaut. Das ist ihr zu speziell. Also, haben Sie beim Schreiben auch solche Reaktionen bekommen wie ich beim Lesen?
Tück: Ja, selbstverständlich ist das zunächst mal auch etwas Fremdes, was Delikates. Aber die Sache stellt sich schon ganz anders dar, wenn man die Beschneidung Jesu als ein Zeichen betrachtet, in dem das Verhältnis von Altem und Neuem Bund, also, wenn Sie so wollen, von Judentum und Kirche, eine symbolische Verdichtung erhält.
Wenn Sie weiter darüber nachdenken, dass gerade in Deutschland Theologen im ‚Dritten Reich‘ sich bemüht haben, Jesus von seiner jüdischen Herkunftsreligion abzusondern und krasse Theorien über einen ‚arischen Jesus‘ entwickelt haben, und wenn Sie dann noch mitbedenken, dass die Schoah für jede Theologie im 20. Jahrhundert einen Anstoß der Revision von antijudaistischen Denkfiguren ist, dann stellt sich das Problem der Beschneidung noch mal ganz anders dar. Dann hat es nämlich im jüdisch-christlichen Dialog eine eminente Bedeutung.
Angesichts eines gesellschaftlich wieder aufflackernden Antisemitismus sind die Kirchen aufgerufen, ja, an der Seite der Juden zu stehen. Und in diesem Zusammenhang hat eben auch das Ritual der Beschneidung eine besondere Bedeutung.
Wenn Sie jetzt die juristische Dimension noch miteinspielen: Gerade das Kölner Urteil des Landesgerichts, das ja Beschneidung ohne medizinische Indikation für strafwürdig erachtet hat, hat hier ja noch mal für Klärung gesorgt - also, dergestalt, dass eben die Bundesregierung dann entschieden hat, dass Beschneidung minderjähriger Knaben durchaus möglich ist, vorausgesetzt, dass die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten werden.
"Menschwerdung Gottes im Mann, im Juden Jesus"
Main: Noch ein Bedenken, ein Gegenargument. Wenn wir die Theologie beobachten, auch die katholisch-feministische, dann heißt es immer wieder, das Geschlecht Jesu sei nicht zentral. Deswegen müssten Priester heute auch nicht zwingend Männer sein – so die Denkrichtung. Nun sind wir zwei Männer, Baujahr 1967 beziehungsweise 1963. Wenn Ihr Vorstoß nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen soll, dann müssen Sie an diesem Punkt antifeministisch argumentieren?
Tück: Nein, muss ich nicht. Ich würde den feministischen Theologinnen sofort zugestehen, dass das Entscheidende, was im Zentrum des christlichen Glaubens steht, die Menschwerdung des Wortes Gottes ist. Ich würde allerdings ergänzend sagen, dass diese Menschwerdung tatsächlich im Modus des männlichen Geschlechtes erfolgt ist. Das hängt auch mit dem schon angesprochenen geschichtlichen Zusammenhang von Altem und Neuem Testament zusammen.
Denn wir haben im Alten Testament ein vielstimmiges Ensemble von Verheißungen, die sich auf den Messias, den Friedensfürsten, den Spross Davids, also alles Figuren, die männlich konnotiert sind, richten. Und insofern hat das eine durchaus konveniente, also angemessene Dimension, dass die Menschwerdung Gottes in dem Mann, in dem beschnittenen Juden Jesus von Nazareth erfolgt ist.
Ich würde das allerdings nicht ontologisierend aufladen und sagen, es hätte nicht anders sein können. Auch Thomas von Aquin gesteht im Blick auf die Allmacht Gottes durchaus zu, dass Gott sich auch anders hätte mitteilen können. Aber er hat es nun mal so getan.
Theologie hat sich an die faktisch ergangene Heilgeschichte zu halten und keine wünschbaren Alternativen zu konstruieren. Mag das nun willkommen sein oder nicht.
"Wurzelhafter Rückbezug der Kirche auf Israel"
Main: Herr Tück, lassen Sie uns ins Detail gehen. Die katholische Kirche hatte das Fest der Beschneidung des Herrn vor gut 50 Jahren abgeschafft. Aus welchen Gründen?
Tück: Ja, das ist ein eigentlich widersprüchlicher Befund, weil das Zweite Vatikanische Konzil ja ein neues Kapitel zwischen der Katholischen Kirche und dem Judentum aufgeschlagen hat.
Main: Stichwort Nostra Aetate.
Tück: Nostra Aetate, Kapitel vier. Da finden Sie einerseits den Aufruf zu einer kritischen Selbstbesinnung, also, dass alle antijudaistischen Figuren aus Theologie, Liturgie, Katechese, bitteschön, verschwinden sollen, und andererseits den Hinweis, dass die Kirche wurzelhaft rückverwiesen ist auf Israel. Gleichzeitig hat dann die Liturgiereform das Fest der Beschneidung des Herrn aus dem Kalender der katholischen Kirche entfernt, obwohl gerade dieses Fest ein Anlass gewesen wäre, den wurzelhaften Rückbezug von Kirche auf Israel deutlich zu machen und hier gegen die latente Israelvergessenheit einen Kontrapunkt zu setzen.
Main: Ihr Buch ist ja ein Sammelband. Sie sind der Herausgeber. Der einstige Kurienkardinal Walter Kasper, der hat ein Geleitwort für Ihr Buch geschrieben. Der Kardinal hat Ihr Buch auch wohlwollend Papst Franziskus übergeben. Auch der Provinzial der Schweizer Jesuiten, Christian Rutishauser, hatte schon vor Ihrem Vorstoß eine entsprechende Petition nach Rom geschickt. Wenn sich etwas in Ihre gemeinsame Richtung bewegen würde, was wäre gewonnen?
Tück: Ja, es wäre klar noch mal gewonnen ein Anstoß, dass in diesem Ritus der Beschneidung der Rückbezug auf Israel symbolisch verdeutlicht wird, dass er auch im kollektiven Gedächtnis der Gläubigen verankert wird. Darüber hinaus würde der Bogen Geburt, Beschneidung, Namensgebung, Darstellung und Taufe nicht unterbrochen dadurch, dass etwas fehlt.
Was ich dazusagen möchte: Man müsste, wenn man das Fest neu konfiguriert und einführt, den hermeneutischen Rahmen anders setzen. Man müsste jede Form von Überbietung vermeiden, die es in der theologischen Reflexion von Beschneidung immer auch gegeben hat, also etwa, die Taufe als das geistliche Ritual der Christen stünde hoch über dem fleischlichen Ritual der Beschneidung.
Das ist deshalb schon unterkomplex, weil im Alten Testament selbst schon eine Ethisierung des Beschneidungsmotivs stattfindet: also Beschneidung der Lippen, Beschneiden des Herzens – das soll der Beschneidung des Fleisches entsprechen.
Also, würde diese Markierung am Fleisch Jesu vergessen, dann drohte vielleicht auch das konnektive Band des Gedächtnisses zerschnitten zu werden, das die Kirche eben mit Israel verbindet.
"Für gläubige Juden ist die Beschneidung mehr als ein Symbol"
Main: Jan-Heiner Tück, es ist bisher deutlich geworden, es geht bei der Vorhaut ums große Ganze, ums Jüdisch-Christliche. Sie sind Katholik und können nicht für Juden sprechen. Aber was sagt die Beschneidung eines männlichen Juden kurz nach der Geburt theologisch aus? Sie haben eben vom Identitätsmarker gesprochen. Ist die Beschneidung Symbol oder ist sie mehr?
Tück: Sie ist für einen gläubigen Juden mehr, weil mit dem Ritual der Beschneidung die Einfügung in den Bund Abrahams mit Gott erfolgt. Im Buch Genesis Kapitel 17 findet sich eben die Weisung: "Es soll bei euch beschnitten werden alles, was männlich ist. Am Fleisch eurer Vorhaut sollt ihr euch beschneiden lassen."
Natürlich gab es auch innerhalb des Judentums Diskussionen um die Beschneidung. Die bei den Propheten zu findende Ethisierung habe ich bereits angesprochen. Aber es gab einen ersten dramatischen Einschnitt, als der Seleukiden-Herrscher Antiochus IV. Epiphanes im 2. Jahrhundert Maßnahmen einer Zwangshellenisierung durchführte und hier eben auch das Ritual der Brit Mila, also das Ritual der Beschneidung, unter Strafe gestellt hat. Hier gab es innerhalb des Judentums zwei Parteien. Die einen waren eher assimilierungswillig. Die anderen waren assimilierungsresistent. Die Assimilierungswilligen, die also an die hellenistische Mehrheitskultur anschließen wollten, haben in Jerusalem sogar eine Sportschule mit Stadion errichtet. Bei den athletischen Übungen haben sie nach Art der Griechen auch nackt trainiert. Und dann heißt es dort: ‚Und sie ließen sich die Beschneidung rückgängig machen‘, um eben irgendeine soziale Stigmatisierung, also um die zu vermeiden. Dagegen haben sich die Makkabäer entschieden zur Wehr gesetzt. Hier wurde also erstmals die Beschneidung zu einem scharfen Identitätsmarker.
Das ist im Prinzip in der Geschichte des Judentums auch so geblieben, auch wenn es im 19. Jahrhundert noch mal Diskussionen auch innerhalb des Judentums gab, ob es nicht reiche, sich im bürgerlichen Register eintragen zu lassen unter Verzicht auf den operativen Eingriff der Beschneidung. Aber gerade nach der Schoah ist es eigentlich weithin Konsens, nicht nur unter orthodoxen und liberalen Juden, sondern auch unter agnostischen, dass die Beschneidung ein Identitätsmarker ist.
In Israel gibt es eine kleine Minderheit von zirka zwei Prozent der jüdischen Eltern, die ihre männlichen Kinder nicht beschneiden lassen. Also, es gibt auch hier durchaus eine kleine Gruppe, die Widerstand leistet, aber gegen eine überwältigende Majorität.
"Zum Antijudaismus gehört Polemik gegen Beschneidung"
Main: Wer Juden bekämpfen will, arbeitet sich immer an der Beschneidung ab. Kann man das so sagen?
Tück: Ja, also zu den Mustern des Antijudaismus gehört immer auch Polemik gegen die Beschneidung als ein körperverletzendes Ritual, als ein tyrannisches Kontrollinstrument, als ein Ritual der Integrationsverweigerung. Horaz spottet über die verschnittenen Juden. Andere bringen die Zirkumzision mit ungehemmter Sexualität in Verbindung. Und so finden Sie ein ganzes Ensemble an solchen Stereotypen.
Das geht teilweise auch bei den Kirchenvätern weiter. Hier findet sich zum Beispiel die Umkodierung des Bundeszeichens hin zu einer Strafmarkierung. Also, gerade, weil die Juden ihren Messias nicht angenommen haben und ihn getötet haben, so wird jetzt quasi die Beschneidung zum Zeichen der Strafwürdigkeit.
Im Barnabasbrief gibt es sogar die verrückte These, Abraham sei also von einem bösen Engel zugeflüstert worden, er solle seinen Nachwuchs beschneiden lassen, also eine Dämonisierungsstrategie, wenn Sie so wollen. Das zieht sich eigentlich durch.
Auch in der europäischen Aufklärung finden Sie schroffe Polemik gegen die Beschneidung. Etwa bei Kant, wenn er sagt, ja, die Euthanasie des Judentums werde nur dann Erfolg haben, wenn sie zur moralischen Vernunftreligion übergehen und ihre Satzungen hintanstellen. Bei Fichte, dem vielleicht schärfsten Kritiker, findet sich die Aussage, Bürgerrechte solle man den Juden schon geben, aber vorher solle man ihnen die Köpfe mit den eingefleischten jüdischen Ideen abschneiden. So zieht sich das im Prinzip durch.
Deswegen ist ein waches Sensorium im Blick auf die Debatte über Beschneidung immer auch aufschlussreich im Blick auf, ja, antisemitische, antijudaistische Denkmotive.
"Das Jüdisch-Sein Jesu ist kein Zufall, keine Lappalie"
Main: Herr Tück, nun zu Jesus, zu einer christlichen Perspektive. Ähnlich wie bei den schon erwähnten feministischen Theologinnen und Theologen: Der von Ihnen und wohl den meisten Theologen, egal, welcher Konfession, hochverehrte Karl Rahner wird von Ihnen in Ihrem Buch zitiert in dem Sinn, dass Jesu Beschneidung ein zufälliger Faktor sei. Was halten Sie Karl Rahner entgegen?
Tück: Karl Rahner betont zu Recht, dass der Hauptskopus der der Menschwerdung des Wortes Gottes ist. Ja, die Inkarnation hat für alle – ob jetzt Männer oder Frauen – Bedeutung. Rahner geht dann aber weiter, dass er jetzt Jude war, das spielt eigentlich keine Rolle.
Hier würde ich ihm widersprechen und sagen: Das sind doch Tendenzen einer Desinkarnation, die die konkrete Leiblichkeit und geschlechtliche Identität zu stark marginalisieren. Jesus ist nach dem Lukasevangelium am achten Tag beschnitten worden und in den Abrahamsbund mit hineingenommen worden. Er hat das Schma Jisrael gebetet. Er hat die Psalmen Israels gekannt. Kurz, er ist im semantischen Universum Israels groß geworden. Und das ist kein Zufall. Es ist keine Lappalie. Und man kann Jesus nicht verstehen, ohne den Hintergrund der Tora, der Propheten, des Psalters zu kennen. Und das wird natürlich symbolisch verdichtet an der Tatsache des Beschnitten-Seins Jesu verdeutlicht. Und darin liegt quasi die Chance einer Revitalisierung dieses Gedenktages Circumcisio Domini – die Beschneidung des Herrn.
"Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum"
Main: Jetzt halte ich Ihnen Paulus entgegen. Auch er beschnitten. Er relativiert die Bedeutung der Beschneidung. Wollen Sie sich gegen Paulus wenden?
Tück: Nein, absolut nicht. Also, Paulus war, wie Sie zu Recht sagen, selbst beschnittener Judenchrist. Und er hat natürlich im Konvent von Jerusalem quasi dafür geworben, dass die Weisungen der Tora, insbesondere die Speisevorschriften und die Beschneidung, keine Auflagen seien für die Heidenmission. Er sagt, in Christus spiele es keine Rolle, ob man beschnitten oder unbeschnitten ist. Das würde ich natürlich überhaupt nicht bestreiten wollen.
Für das Christentum ist das Initiationssakrament die Taufe. Also, hier werden wir auf den Namen des dreifaltigen Gottes in die Wirklichkeit Jesu Christi hineingenommen. Das steht nicht zur Disposition. Aber um ein Wort von Johannes Paul II. zu bemühen: ‚Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum.‘ Das wird konkret daran deutlich, dass Jesus tora-konform gelebt hat und auch so sozialisiert worden ist.
Wenn wir uns heute - nach der Schoa - um eine Theologie bemühen, die das Judentum auf gleicher Augenhöhe wahrnimmt, wenn wir sogar soweit gehen zu sagen, Israel ist der Augapfel Gottes und steht im ungekündigten Bund, dann müssen wir auch dieses Bundeszeichen theologisch neu würdigen und werten und können das nicht mit Karl Rahner als Bagatelle abtun, die von keinerlei Relevanz ist.
Main: Schauen wir nach vorne, Herr Tück. Lassen Sie uns ein paar Perspektiven für einen Neuanfang deutlich machen. Einen Ausweg weist ja womöglich auch der schon erwähnte Kardinal Walter Kasper, der ehemalige Kurienkardinal, ein Mann des Dialogs in alle Richtungen. Er sagt in Ihrem Buch: "Das Christentum sei dem Judentum eingepflanzt. Es sei wie ein Zweig. Die Wurzel aber, die ist das Judentum." Sie haben das eben ähnlich ausgedrückt. Wenn wir dieses Bild weiterspinnen, müssten die christlichen Zweig inklusive der Blätter alles dafür tun, dass die Wurzel stark, kräftig und lebendig ist. Oder wie deuten Sie die Kernthesen seines kurzen Essays?
Tück: Ja, die Kernthese ist die, dass es tatsächlich einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Bund gibt, zwischen Israel und der Kirche gibt, der nicht zur Disposition steht. Wir wissen, dass wir auch heute mit neomarkionitischen Tendenzen innerhalb von Kirche und Theologie zu tun haben. Neomarkionitisch - das spielt an auf den sogenannten Erzketzer Markion an, der gemeint hat, die Schriften des Alten Testamentes aus dem Kanon herauszunehmen, der quasi ein reines Evangelium meinte konstruieren zu können.
Wenn man diesen Konnex als konstitutiv zur Geltung bringen will, dann ist es sinnvoll, an die Beschneidung des Herrn zu erinnern. Und Kardinal Kasper weist zu Recht darauf hin, dass das Christentum zum einen den Monotheismus Israels quasi geerbt hat, aber auch das Ethos der Zehn Gebote, des Dekalogs, und dass das durch die Heidenmission, also durch die Öffnung für die Völker hin durch das Christentum universalisiert worden sei.
Das wird heute auch von Juden im jüdisch-christlichen Dialog durchaus anerkannt, dass das Christentum zur Universalisierung des Monotheismus Israels beigetragen hat und insofern diese Bemühungen auch anerkannt werden können.
Main: Papst Benedikt, der irrtümlicherweise immer mal wieder in Verruf gebracht wird, was seine Haltung zum Judentum betrifft, wissen Sie auf Ihrer Seite, vermute ich. Bei Papst Franziskus dürfte es ähnlich sein. Heute ist allerdings mal wieder – jährlich grüßt das Murmeltier – ein Neujahrsmorgen, und es ist in der katholischen Kirche kein Tag der Beschneidung des Herrn. Nun ist klar, dass sich Päpste Zeit lassen, weil Entscheidungen, wenn auch nicht für die Ewigkeit, so doch möglichst lange halten sollen. Dennoch, werden Sie ungeduldig, dass da mal was passiert in Ihrem Sinne?
"Papst Franziskus ist sehr sensibel im Blick auf das Judentum"
Tück: Also, Papst Franziskus hat sich ja zum Thema bereits geäußert. 2016 hat er die Große Synagoge in Rom besucht. Und ein älterer Rabbiner hat ihn angesprochen: "Heiliger Vater, wollen Sie das Fest der Beschneidung des Herrn nicht wieder einführen?" Und auf seine spontane Art hat Franziskus geantwortet: "Warum nicht? Keine schlechte Idee."
Man weiß von ihm, dass er sehr sensibel im Blick auf das Judentum ist. Insofern ist es nicht völlig unwahrscheinlich, dass er sich diesen Vorstoß auch zu eigen macht. Allerdings hat man aus der Gottesdienstkongregation, die ja von Kardinal Sarah geleitet wird, bislang nichts vernommen. Es bleibt abzuwarten. Sie haben Recht. Also, in der katholischen Kirche geschehen Reformen oft, ja, sehr langwierig. Es braucht Zeit. Ich habe da jetzt keine große Ungeduld.
Main: Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück über den Vorstoß in der Katholischen Kirche, am 1. Januar wieder den sogenannten Tag der Beschneidung des Herrn einzuführen. Jan-Heiner Tück, danke für dieses Buch und danke für dieses Gespräch.
Tück: Gerne, Herr Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jan-Heiner Tück: "Die Beschneidung Jesu: Was sie Juden und Christen heute bedeutet". Herder Verlag, 407 Seiten, 48 Euro.