Die Stimmung im Online-Forum ist eindeutig: Hoffnungsvoll. Grund dafür ist eine Veröffentlichung von Forschern um den Stanford-Professor Ron Davis. Es geht darin um die Diagnose der rätselhaften Krankheit, an der viele, die hier mitdiskutieren, leiden. Chronisches Erschöpfungssyndrom, auch Myalgische Encephalomyelitis genannt, kurz ME/CFS.
Patienten-Kommentar: "Hoffentlich ergibt sich daraus eine Heilung und ich kann nach 6 Jahren endlich wieder sprechen, schlucken, kauen, atmen, duschen, muss nicht mehr im Dunkeln und geräuschisoliert liegen. :-) - Schwerste ME/CFS ist so grausam, es sind einem nicht mal Grundbedürfnisse möglich."
Auch unter Medizinern kaum bekannt
Seit 50 Jahren ist ME/CFS von der Weltgesundheitsorganisation offiziell als Erkrankung des Nervensystems anerkannt. Ihre Ursache ist nach wie vor unbekannt. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um einen vielschichtigen Defekt des Immunsystems handelt. Medikamente, Therapien, fundierte Leitlinien zur Behandlung gibt es nicht. Epidemiologischen Studien zufolge leiden drei von tausend Menschen unter der chronischen Erschöpfung. Obwohl die Erkrankung also gar nicht so selten ist, ist sie kaum bekannt – selbst unter Medizinern.
"Ein Problem das Betroffene oft haben ist, dass sie von Ärzten hören: Ihnen fehlt nichts. Alle medizinischen Tests sehen gut aus."
Ron Davis, der Leiter der aktuellen Studie im Fachmagazin PNAS, die so viel Hoffnung weckt, weiß wovon er spricht. Seit Jahren pflegen er und seine Frau ihren schwerstkranken Sohn.
"Mein Sohn ist ans Bett gefesselt. Er kann nicht essen, wir müssen ihn künstlich ernähren. Er kann nicht sprechen, nicht schreiben, nicht lesen, keine Musik hören. Aber wenn man ein Blutbild macht, sind alle Werte unauffällig. Es sieht aus, als wäre er top fit. Manche Ärzte meinen: Eine Krankheit, die man mit molekularbiologischen Tests nicht nachweisen kann, die gibt es nicht. Deshalb müssen wir etwas finden, das eine eindeutige Diagnose erlaubt."
Eine neue Diagnosemethode weckt Hoffnungen
Bis zur Diagnose ME/CFS vergehen oft Jahre. Zeit, in der die Patienten zahlreiche vergebliche oder sogar schädliche Therapieversuche durchlaufen. Insbesondere Bewegungstherapie, die bei vielen psychischen Leiden hilft, führt bei ME/CFS zu einer Verschlechterung des Zustands. Eine frühzeitige Diagnose könnte helfen, solche gut gemeinten aber schädlichen Maßnahmen zu verhindern. In der neuen Studie, die Ron Davis zusammen mit Kollegen von der University of Califorina in Irvine durchgeführt hat, meinen die Wissenschaftler ein wichtiges Puzzleteil für die Diagnostik gefunden zu haben: Ein für die Krankheit spezifisches, physiologisches Merkmal, einen so genannten Biomarker.
"Wir nehmen eine Blutprobe und entfernen die roten Blutkörperchen. Mit Elektroden in Nanometer-Größe messen wir dann, wie sich die elektrischen Eigenschaften der Probe verändern, wenn wir etwas Kochsalzlösung dazu geben."
Der durch das Salz hervorgerufene osmotische Stress ist für die verbleibenden weißen Blutkörperchen eine Art Belastungstest. Die Forscher imitieren damit körperlicher Aktivität, also den Zustand, der die ME/CFS Erkrankten so schwächt. Nach ein bis zwei Stunden im Dauerstress verändern sich die elektrischen Eigenschaften der Patientenblutproben drastisch. Bei Proben einer gesunden Kontrollgruppe ist das nicht der Fall. Ein Durchbruch für die Diagnostik?
Zweifel an der Aussagekraft des Bluttests
"Ein Biomarker würde natürlich in mehrerlei Hinsicht sehr hilfreich sein. Es würde helfen, dass man die Diagnose schneller stellt. Es würde natürlich auch ganz wichtig sein, um klinische Studien zu machen, um Medikamente zu haben, mit denen man die Erkrankung gut behandeln und wahrscheinlich auch heilen kann. Wenn man sich das mal anschaut, dann ist das Wissen um diese Erkrankung deutlich weniger, als für vergleichbare Erkrankung und es wird auch bis heute deutlich weniger geforscht."
Carmen Scheibenbogen ist Leiterin des Fatigue Centrums an der Berliner Charité - Deutschlands bislang einziger ME/CFS spezialisierter Ambulanz. Sie kennt und schätzt die Arbeit ihrer amerikanischen Kollegen. Dass sie einen Biomarker gefunden haben, mit dem sich ME/CFS bald mit einem einfachen Bluttest nachweisen lässt, sieht sie allerdings nicht. Was Ron Davis und sein Team geschafft haben, sagt Carmen Scheibenbogen, sei nur ein erster Schritt.
"Ich finde, sie haben die Schlussfolgerung ein bisschen zu weit gefasst. Sie müssen zunächst einmal zeigen, dass das wirklich ein Test ist, mit dem man auch CFS abgrenzen kann von anderen Erkrankungen. Das ist etwas, was noch fehlt, um zu sagen: Ich habe einen diagnostischen Test."
Reihe der Enttäuschungen ist lang
Zahlreiche andere Erkrankungen könnten möglicherweise zu ähnlichen Veränderungen in den elektrischen Eigenschaften des Blutes führen. Dazu gehören Herzkreislauf- oder Autoimmun-Erkrankungen. Multiple Sklerose und ME/CFS teilen viele Symptome und sind manchmal kaum zu unterscheiden. Ob der Bluttest solche schwierigen Abgrenzungen leisten kann, ist bisher nicht untersucht.
"Und dann fragen die Patienten: 'Warum gibt's denn da noch keinen Test an der Charité?' Wir gehen also ein bisschen zurückhaltender dran. Wir wollen natürlich auch vermeiden, dass Patienten Hoffnung schöpfen und wieder enttäuscht werden."
Patienten-Kommentare: "Nach vielen Misserfolgen in der Wissenschaft verliert man fast die Hoffnung. - Hoffentlich ist das nicht nachher wieder nur ein Flopp!"
Enttäuschungen haben die Betroffenen schon viele erlebt. Im Jahr 2009 zum Beispiel wurde eine scheinbar bahnbrechende Studie veröffentlicht, die einen Retrovirus als Auslöser für chronische Erschöpfung identifizierte. Zwei Jahre später wurde klar: Die Ergebnisse sind falsch. Kurz darauf zeigte eine Studie, dass Bewegungstherapie die beste, wirksame Behandlungsoption ist. Doch das Ergebnis ist umstritten und wird inzwischen auf einen methodischen Fehler zurückgeführt. Die jüngste Hoffnung lag auf dem Krebsmedikament Rituximab. In einer Pilotstudie schien es gut zu wirken, doch eine große klinische Studie konnte diesen Effekt nicht bestätigen.
Pharmaindustrie zeigt wenig Interesse
Diejenigen, die das Feld vorantreiben könnten, Pharmaindustrie und staatliche Forschungsförderer, haben bis jetzt wenig Interesse an der Erforschung von ME/CFS gezeigt. Viele Projekte sind über Spenden oder von Stiftungen finanziert. Auch die Arbeit von Ron Davis. Er weiß, dass die Ergebnisse seiner Studie für einen vollausgereiften diagnostischen Test nicht reichen. Sie jetzt zu publizieren, hält er trotzdem für wichtig.
"Wenn wir angefangen hätten, andere Erkrankungen mit einzubeziehen, hätte das die Ergebnisse vielleicht weniger eindeutig gemacht. Und dann wären sie wohl gar nicht veröffentlicht worden. Genau das ist aber das Wichtigste. Erstmal zu sagen: Die Leute sind krank."
Genau wie die Betroffenen, die seine Forschung im Internet begleiten und kommentieren, hofft Ron Davis auf Heilung. Der ersten Schritt auf dem Weg dahin: Bewusstsein schaffen für die Krankheit ME/CFS.