Sie hätte auch auf der anderen Seite stehen können. Auf der Seite des Regimes, auf der Seite Assads: Sie ist Alawitin wie der Assad-Clan, eine Angehörige der schiitischen Minderheit in Syrien. Sie ist Mitglied einer großen Familie mit vielen persönlichen Kontakten zum Zentrum der Macht. Sie ist Fernsehmoderatorin, Schriftstellerin, Intellektuelle – und deshalb geradezu dafür prädestiniert, vor den Karren des Regimes gespannt zu werden.
Doch Samar Yazbek ist nicht eine von ihnen. Sie schloss sich schon früh der Demokratiebewegung an und wurde zum Gesicht der syrischen Revolution – und zur Chronistin des Aufstands. Vom 15. März bis Juli 2011 spannt sich der Zeitraum ihrer Tagebucheinträge – von jenem Schicksalstag also, an dem die Revolte ihren Anfang nahm: Damals wurden in der Provinzstadt Daraa Jugendliche festgenommen und furchtbar gefoltert, nachdem sie regimefeindliche Graffitis an die Wände gesprüht hatten. Das Buch endet am 9. Juli, dem Tag ihrer Flucht aus Damaskus und aus Syrien. Dazwischen liegen traumatische Wochen und Monate der Gewalt und der Angst, die sie nüchtern, geradezu distanziert schildert. Damaskus, am 16. März 2011: Demonstranten fordern die Freilassung eingesperrter Angehöriger.
Plötzlich tat sich die Erde auf, Geheimdienstler und Shabbiha brachen hervor und begannen, auf die Leute einzuschlagen. Die Gruppe, die anfangs versucht hatte, zusammenzubleiben, löste sich auf. Der Ehemann einer Gefangenen ließ seinen vierjährigen Sohn bei mir zurück. Zahlreiche Männer packten den Vater und seinen zehnjährigen Sohn. Ich stand völlig erstarrt da und drückte den Kleinen fest an meine Brust. Plötzlich bemerkte ich, dass der Kleine mitbekam, wie sein Vater und sein Bruder geschlagen wurden. Das Gesicht seines Bruders war so starr, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Eine Faust schnellte vor in Richtung des kleinen Kopfes. Der Kopf pendelte hin und her, und einen Augenblick später traten ihn die Männer zusammen mit dem Vater in den Bus.
Samar Yazbek nennt ihre Tagebucheintragungen, die sie nachts wie in Trance schreibt und in panischer Angst ins Internet setzt, ein "Gemälde zum Zusammensetzen". Sie spricht mit Demonstranten, Augenzeugen und Hinterbliebenen von Opfern. Sie lässt Szene auf Szene folgen, macht sich ein Bild von der anschwellenden Revolte und den immer brutaleren Reaktionen des Regimes – und entwickelt aus den schonungslos detaillierten und geradezu fotografisch-genauen Sequenzen ein bedrückendes Psychogramm des Assad-Regimes. Längst sind dessen Schergen auf die prominente Dissidentin aufmerksam geworden, verhaften sie mehrmals, drohen ihr und ihrer Tochter und führen sie zur Abschreckung in die Folterkammern des Geheimdienstes. Wie am 10. Mai 2011.
Der Mann packte mich am Ellbogen und stieß mich durch die geöffnete Tür und dort ... sah ich sie. Man konnte drei Männer in der Zelle wahrnehmen, knapp zwanzig oder etwas älter. Ihre jugendlichen Körper waren unter dem Blut zu erkennen, die Hände hingen in Eisenfesseln, ihre Zehen berührten kaum den Boden. Blut klebte an ihren Körpern, frisches Blut, tiefe Wunden zeichneten sich auf ihren Leibern ab, wie willkürlich mit einem Pinsel dahingemalt. Ihre Gesichter waren zu Boden gerichtet, sie waren bewusstlos und schaukelten hin und her wie Schlachtvieh.
"Hinzu kommt, dass dieses syrische Regime viel brutaler ist als jedes andere arabische. Es ist ein Unterdrückungsregime, wie man sich das gar nicht vorstellen kann. Das hat es in der modernen Geschichte wahrscheinlich nicht gegeben, die Art und Weise, die Brutalität, mit der das Regime gegen die Demonstranten vorgeht."
Samar Yazbek lebt heute in Paris und versucht, die Welt auf die Situation ihrer Landsleute aufmerksam zu machen – ihr Buch vermittelt Einblicke in die syrische Revolution, die schon deshalb so wichtig sind, weil es unabhängigen Journalisten praktisch nicht möglich ist, das Geschehen in Syrien zu verfolgen. Die Massaker wie jüngst in Haula interpretiert sie nicht als Einzelfälle, sondern als Teil einer Strategie, die darauf abzielt, die Revolte gegen das Regime in einen konfessionellen Bürgerkrieg umzumünzen.
"Ich stimme nicht ganz damit überein, dass das Land schon in einem Bürgerkrieg ist oder in einen Bürgerkrieg rutscht. Allerdings muss man sagen, dass das Regime versucht, das Land in einen Bürgerkrieg zu zwingen. Und je länger das Regime sich an der Macht hält, desto größer wird allerdings die Gefahr eines Bürgerkriegs."
Dem Gewalt- und Unterdrückungsapparat des Regimes setzt die Protestbewegung unter Lebensgefahr den Versuch entgegen, die Revolte aufrecht zu erhalten und den Widerstand zu organisieren, zu vernetzen und nach innen und außen weiter zu tragen. Samar Yazbek schildert die Arbeit der Untergrundgruppen und die wichtige Rolle, die Syriens Frauen darin spielen. Und sie beschreibt die Risiken des Internets, das zu Beginn des Aufstands so wichtig war - jetzt erweist es sich immer wieder als Falle, denn das Regime hat mit technischer Unterstützung aus dem Westen Mittel und Wege gefunden, die Handy- und Netzaktivisten aufzuspüren. Als Hypothek erweisen sich zunehmend die Differenzen und Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen syrischen Oppositionsgruppen. Allein in dem Ziel, das Regime zu stürzen, seien sich alle Aktivisten des syrischen Frühlings einig – und das gilt auch für die Islamisten, die dem Westen im Grunde immer noch als das größere Übel gelten als das Assad-Regime.
"Das kann durchaus sein, dass die Islamisten an die Macht kommen für eine kurze Zeit. Aber man darf Syrien nicht mit Ägypten vergleichen. In Syrien gibt es viele andere Gruppierungen, die nicht islamisch sind und nicht islamistisch. Und deswegen halte ich dieses Szenario für vollkommen falsch."
Samar Yazbek fordert die internationale Staatengemeinschaft auf, das Regime noch viel entschlossener zu isolieren – eine militärische Intervention hält auch sie angesichts der schwierigen geostrategischen und politischen Gemengelage für viel zu riskant. Deshalb befürchtet sie, dass sich der Konflikt in Syrien noch in die Länge ziehen wird – wenngleich sie dem Regime keinerlei Chancen mehr gibt, zu überleben.
Samar Yazbek: Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution.
Nagel & Kimche
224 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-312-00531-4
Doch Samar Yazbek ist nicht eine von ihnen. Sie schloss sich schon früh der Demokratiebewegung an und wurde zum Gesicht der syrischen Revolution – und zur Chronistin des Aufstands. Vom 15. März bis Juli 2011 spannt sich der Zeitraum ihrer Tagebucheinträge – von jenem Schicksalstag also, an dem die Revolte ihren Anfang nahm: Damals wurden in der Provinzstadt Daraa Jugendliche festgenommen und furchtbar gefoltert, nachdem sie regimefeindliche Graffitis an die Wände gesprüht hatten. Das Buch endet am 9. Juli, dem Tag ihrer Flucht aus Damaskus und aus Syrien. Dazwischen liegen traumatische Wochen und Monate der Gewalt und der Angst, die sie nüchtern, geradezu distanziert schildert. Damaskus, am 16. März 2011: Demonstranten fordern die Freilassung eingesperrter Angehöriger.
Plötzlich tat sich die Erde auf, Geheimdienstler und Shabbiha brachen hervor und begannen, auf die Leute einzuschlagen. Die Gruppe, die anfangs versucht hatte, zusammenzubleiben, löste sich auf. Der Ehemann einer Gefangenen ließ seinen vierjährigen Sohn bei mir zurück. Zahlreiche Männer packten den Vater und seinen zehnjährigen Sohn. Ich stand völlig erstarrt da und drückte den Kleinen fest an meine Brust. Plötzlich bemerkte ich, dass der Kleine mitbekam, wie sein Vater und sein Bruder geschlagen wurden. Das Gesicht seines Bruders war so starr, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Eine Faust schnellte vor in Richtung des kleinen Kopfes. Der Kopf pendelte hin und her, und einen Augenblick später traten ihn die Männer zusammen mit dem Vater in den Bus.
Samar Yazbek nennt ihre Tagebucheintragungen, die sie nachts wie in Trance schreibt und in panischer Angst ins Internet setzt, ein "Gemälde zum Zusammensetzen". Sie spricht mit Demonstranten, Augenzeugen und Hinterbliebenen von Opfern. Sie lässt Szene auf Szene folgen, macht sich ein Bild von der anschwellenden Revolte und den immer brutaleren Reaktionen des Regimes – und entwickelt aus den schonungslos detaillierten und geradezu fotografisch-genauen Sequenzen ein bedrückendes Psychogramm des Assad-Regimes. Längst sind dessen Schergen auf die prominente Dissidentin aufmerksam geworden, verhaften sie mehrmals, drohen ihr und ihrer Tochter und führen sie zur Abschreckung in die Folterkammern des Geheimdienstes. Wie am 10. Mai 2011.
Der Mann packte mich am Ellbogen und stieß mich durch die geöffnete Tür und dort ... sah ich sie. Man konnte drei Männer in der Zelle wahrnehmen, knapp zwanzig oder etwas älter. Ihre jugendlichen Körper waren unter dem Blut zu erkennen, die Hände hingen in Eisenfesseln, ihre Zehen berührten kaum den Boden. Blut klebte an ihren Körpern, frisches Blut, tiefe Wunden zeichneten sich auf ihren Leibern ab, wie willkürlich mit einem Pinsel dahingemalt. Ihre Gesichter waren zu Boden gerichtet, sie waren bewusstlos und schaukelten hin und her wie Schlachtvieh.
"Hinzu kommt, dass dieses syrische Regime viel brutaler ist als jedes andere arabische. Es ist ein Unterdrückungsregime, wie man sich das gar nicht vorstellen kann. Das hat es in der modernen Geschichte wahrscheinlich nicht gegeben, die Art und Weise, die Brutalität, mit der das Regime gegen die Demonstranten vorgeht."
Samar Yazbek lebt heute in Paris und versucht, die Welt auf die Situation ihrer Landsleute aufmerksam zu machen – ihr Buch vermittelt Einblicke in die syrische Revolution, die schon deshalb so wichtig sind, weil es unabhängigen Journalisten praktisch nicht möglich ist, das Geschehen in Syrien zu verfolgen. Die Massaker wie jüngst in Haula interpretiert sie nicht als Einzelfälle, sondern als Teil einer Strategie, die darauf abzielt, die Revolte gegen das Regime in einen konfessionellen Bürgerkrieg umzumünzen.
"Ich stimme nicht ganz damit überein, dass das Land schon in einem Bürgerkrieg ist oder in einen Bürgerkrieg rutscht. Allerdings muss man sagen, dass das Regime versucht, das Land in einen Bürgerkrieg zu zwingen. Und je länger das Regime sich an der Macht hält, desto größer wird allerdings die Gefahr eines Bürgerkriegs."
Dem Gewalt- und Unterdrückungsapparat des Regimes setzt die Protestbewegung unter Lebensgefahr den Versuch entgegen, die Revolte aufrecht zu erhalten und den Widerstand zu organisieren, zu vernetzen und nach innen und außen weiter zu tragen. Samar Yazbek schildert die Arbeit der Untergrundgruppen und die wichtige Rolle, die Syriens Frauen darin spielen. Und sie beschreibt die Risiken des Internets, das zu Beginn des Aufstands so wichtig war - jetzt erweist es sich immer wieder als Falle, denn das Regime hat mit technischer Unterstützung aus dem Westen Mittel und Wege gefunden, die Handy- und Netzaktivisten aufzuspüren. Als Hypothek erweisen sich zunehmend die Differenzen und Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen syrischen Oppositionsgruppen. Allein in dem Ziel, das Regime zu stürzen, seien sich alle Aktivisten des syrischen Frühlings einig – und das gilt auch für die Islamisten, die dem Westen im Grunde immer noch als das größere Übel gelten als das Assad-Regime.
"Das kann durchaus sein, dass die Islamisten an die Macht kommen für eine kurze Zeit. Aber man darf Syrien nicht mit Ägypten vergleichen. In Syrien gibt es viele andere Gruppierungen, die nicht islamisch sind und nicht islamistisch. Und deswegen halte ich dieses Szenario für vollkommen falsch."
Samar Yazbek fordert die internationale Staatengemeinschaft auf, das Regime noch viel entschlossener zu isolieren – eine militärische Intervention hält auch sie angesichts der schwierigen geostrategischen und politischen Gemengelage für viel zu riskant. Deshalb befürchtet sie, dass sich der Konflikt in Syrien noch in die Länge ziehen wird – wenngleich sie dem Regime keinerlei Chancen mehr gibt, zu überleben.
Samar Yazbek: Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution.
Nagel & Kimche
224 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-312-00531-4