Es gab Momente, da mochte Winston Churchill über sich selbst staunen: "Ich diente unter der Ururgroßmutter der Queen, unter ihrem Urgroßvater, ihrem Großvater, Vater und jetzt ihr."
Das war im März 1953, zwei Wochen vor der Krönung Elisabeths II. Churchill, der 1895 in die britische Armee eingetreten war, als Königin Victoria auf dem Thron saß, war unter der jungen Elisabeth II. noch immer Premierminister - in der Tat eine achtunggebietende Lebens- und Arbeitsspanne. Er starb vor fünfzig Jahren, am 24. Januar 1965. Über eine so herausstechende Figur der Zeitgeschichte zu schreiben, das hat Thomas Kielinger in seinem Vorwort sehr richtig bemerkt, "gleicht einem Wagnis" - na ja, es ist ein Wagnis, denn der Mann, "der in einer Umfrage der BBC vor zwölf Jahren zur 'größten Figur der britischen Geschichte' gekürt wurde, entzieht sich jeder Eindeutigkeit."
Die Abläufe in Churchills Biografie sind oft genug erzählt worden, sie werden notwendigerweise auch hier erzählt. Aber Kielinger legt den Fokus auf den Charakter Churchills, auf die Grundzüge seines Selbstbildes und seines Denkens, die ihn in die Lage versetzt haben, dieses politische Leben zu führen. Er beschreibt den Bildungseifer des jungen Churchill, der in der Ödnis einer Garnison in Indien buchstäblich alles in sich hineinfraß, was er sich an politischer und historischer Literatur schicken lassen konnte. Und nebenbei noch einen Roman verfasste, dessen Hauptfigur - wie Kielinger mehrfach nachweist - sehr dicht an der Figur war, die Churchill selbst gern einmal abgeben wollte.
Von der Vorsehung berufen
Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit der ans Überhebliche grenzenden Selbstsicherheit des jungen Winston, der schon mit 18 Jahren wusste, dass er einmal ein großer Politiker werden würde. Die entsprechenden Formulierungen, die Berufung auf die "Vorsehung", die ihn zu Großem ausersehen habe, findet Churchill dann in seinen späteren Jahren, aber das Bewusstsein dafür hatte er schon früh - die Menschen empfand er als Würmer, doch sich selbst als Glühwurm.
Kielinger hat sehr erhellend darüber geschrieben, dass Churchill sich wie sein großer Gegenspieler Hitler auf die "Vorsehung" berief. Die beiden Atheisten oder Agnostiker brauchten wohl den Verweis auf diffuse höhere Mächte, um ihrer beider Selbstüberschätzung zu untermauern. Kielinger fügt mit feinem Humor ein Zitat aus dem Oxford Dictionary an, dass die Ehe von Winston Churchill und seiner Frau Clementine beschreibt: "Ihr durchgehend kluger Rat wurde immer fröhlich angehört, aber selten befolgt. Da 'Clemmie' hauptsächlich an Winston interessiert war, genau wie er, war die Beziehung zwischen ihnen immer enger als die zu ihren Kindern."
Weitere Facetten seiner Persönlichkeit werden aufgeblättert - sein Mut und sein Durchhaltevermögen in den militärischen Auseinandersetzungen, die er zu bestehen hatte. Seine Klugheit in der Bewertung der militärischen Aktionen des Empire - gerade heute, in der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terror, ist Churchills Buch über den Krieg gegen den Mahdi eine spannende, faszinierend geschriebene und klug analysierende Lektüre.
Mittelpunkt seines eigenen Denkens
Natürlich wird der spätere Literatur-Nobelpreisträger Churchill in Kielingers Buch als Schriftsteller und mehr noch als Rhetoriker geschildert - aber eben auch in seinen Entgleisungen, wenn er wieder einmal im Rausch des Wörtersetzens weit über das politische Ziel hinausschoss und die Nation gequält aufstöhnte. Sein Wankelmut und seine Unzuverlässigkeit sind ein wichtiges Thema - Churchill wechselte die Meinungen und auch die Parteien, wie es ihm zur gegebenen Zeit gerade opportun erschien, um seine Ziele zu erreichen, von denen er manchmal selbst nicht sicher war, ob es seine persönlichen Ziele waren oder die des Empires. Der eindeutige Mittelpunkt seines Denkens war nun einmal er selbst. Er beging politische und - in seinen diversen Ämtern - administrative Irrtümer, aber er lernte auch beständig hinzu. In Hitler fand er schon vor seiner Ernennung zum Premierminister 1940 den Gegenspieler, gegen den er zu seiner Bestform auflaufen konnte - etwa wenn er in einer seiner Ansprachen an die Nation den Kampf gegen Hitler-Deutschland emphatisch als Britanniens "finest hour" ausrief, dann galt das vor allem für ihn selbst.
Welche Strapazen dieser schon in seinen 60ern stehende Mann auf sich nahm, welche Arbeitsleistungen er erbrachte und wie sehr seine Unbeugsamkeit die Nation bei der Stange hielt - all dies hat Thomas Kielinger in einer spannenden Erzählung dargelegt. Er zitiert Churchill in einer flammenden Rede: "Wir werden auf den Stränden kämpfen (…), wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben."
Und fügt hinzu: "Nur die wenigsten wissen, was Churchill, als der Beifall nach dem letzten Satz wie eine Welle hochstieg (…)einem Abgeordneten neben sich zusteckte: "Und wir werden sie bekämpfen mit den Enden zerbrochener Flaschen, denn das ist verdammt alles, was wir noch haben."
Es bleibt noch Raum für Forschung
Der England-Korrespondent Thomas Kielinger muss über Jahre hinweg nahezu alles gelesen haben, was über Winston Churchill gedruckt wurde. Sein Buch ist geschöpft aus der Fülle dieser Publikationen, die er gern und mit kollegialer Hochachtung zitiert. Offen bleibt in seinem Porträt, warum der kluge und geistig wendige Churchill nie die Möglichkeit ins Auge gefasst hat, das Empire könne sich überdehnt oder überlebt haben. Er blieb "in der Blüte des viktorianischen Zeitalters geboren, der letzte Imperialist seiner Generation", wie Kielinger schreibt und da hätte man gern gewusst, was genau in diesem Punkt Churchill so aus seiner Zeit gehoben hat: War es sein rechthaberischer Starrsinn, war es übertriebener Patriotismus oder nur der blütenreiche Traum von der weltumspannenden Größe Britanniens, den der Teilzeit-Romantiker nicht aufgeben mochte. Da bleibt noch Raum für Forschung - oder Spekulation, je nachdem.
Aber im Grunde hat Thomas Kielinger Recht: Es dürfte kaum noch etwas grundstürzend Neues zur Person Winston Spencer Churchill zu entdecken sein, allenfalls kleinere Details, die das Bild vervollständigen. Man liest das Buch also nicht, weil man hofft, auf etwas Unbekanntes gestoßen zu werden, sondern um in einem genussvollen Akt der Lektüre sich Winston Churchill und seine Epoche wieder in Erinnerung zu rufen - manches kennt man, manches hat man vergessen, das alles wird spannend wieder auf den Tisch gelegt. Und manches wird sogar deutlicher, als man es bislang vor Augen hatte. Thomas Kielinger hat gewagt - und gewonnen. Aus gegebenem Anlass, dem 50. Todestag, und weil der Winter noch lang ist: ein empfohlenes Buch.
Thomas Kielinger: "Churchill. Der späte Held", C.H. Beck, 400 Seiten, 24,95 Euro.