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Clankriminalität
"Das Problem über Jahrzehnte nicht ernst genommen"

Im Kampf gegen kriminelle Clans hätten Ermittlungsbehörden und Gerichte eine Menge Nachholbedarf, sagte Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel im Dlf. Der SPD-Politiker forderte härtere Strafen, mehr Kontrolle der Geldflüsse und schnellere Verfahren, auch gegen jugendliche Schwellentäter.

Martin Hikel im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Bei einem Einsatz gegen arabischstämmige Clans in Berlin führen Polizeibeamte mit Handschellen einen festgenommenen Mann nach einer Razzia in einem Wohnhaus in Tempelhof ab. | Foto: Paul Zinken/dpa | Verwendung weltweit
    Razzia gegen arabischstämmige Clans in Berlin: "Wir müssen an die Vermögen ran" (dpa)
    Christoph Heinemann: Fast vier Millionen Euro für zwei Stunden Arbeit – selbst wenn man diesen Betrag durch vier teilt, ergibt das einen auskömmlichen Stundenlohn. In Berlin müssen sich seit gestern vier junge Männer vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, im März 2017 eine 100 Kilo schwere Goldmünze aus dem Bode-Museum gestohlen zu haben. Das Goldstück war eben fast vier Millionen Euro wert. Drei der Angeklagten, zwei Brüder und ihr Cousin, tragen den Nachnamen einer arabischen Familie. Mehrere Mitglieder dieser Familie sind kriminell. Raubzüge am hellichten Tag sind keine Seltenheit. Im vergangenen Jahr ließ die Staatsanwaltschaft 77 Immobilien des Clans beschlagnahmen, die mutmaßlich mit illegalen Geldern finanziert wurden.
    Das sind Erfolge, aber das reicht den Ermittlern nicht. Sebastian Fiedler fordert einen Kraftakt gegen Clankriminalität. Der Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter gibt sich dabei keiner Illusion hin. Es werde Jahre dauern, um diese Kriminalität ansatzweise in den Griff zu bekommen. Das sagte er der Tageszeitung "Die Welt".
    Der Berliner Bezirk Neukölln gilt als eine der Hochburgen krimineller, arabischstämmiger Großfamilien. Am Telefon ist jetzt Martin Hikel, SPD, der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Guten Morgen!
    Martin Hikel: Guten Morgen.
    Heinemann: Herr Hikel, wieso können arabische Clans dem Staat, der Gesellschaft teils seit Jahrzehnten auf der Nase herumtanzen?
    Hikel: Wir müssen feststellen, dass diese Clanstrukturen ganz anders funktionieren, die mit unserem Rechtsstaat und unserem Sozialsystem überhaupt nicht übereinkommen beziehungsweise das überhaupt nicht respektieren. Und man muss auch sich ehrlich machen und muss an der Stelle sagen, dass der Staat dieses Problem und dieses Phänomen über Jahrzehnte lang nicht hinreichend ernst genommen hat. Wir stehen momentan an einem Punkt, wo aus unserer Sicht diese kriminellen Strukturen ihre kriminellen Machenschaften versuchen, in irgendeiner Weise zu legalisieren, und in der Öffentlichkeit sich damit auch ganz offensiv brüsten.
    Heinemann: Wer ist dafür verantwortlich, dass der Staat weggeschaut hat?
    Hikel: Ich glaube, der Staat ist ja in der Form die Politik, und in dem Fall sind wir Repräsentanten der gesamten Gesellschaft, und ich glaube, dass wir als gesamte Gesellschaft dieses Phänomen einfach über Jahre nicht wirklich ernst genommen haben. Wir gucken uns jetzt mit großen Augen an und sagen, was ist denn da passiert und wie konnte es soweit kommen. Ich bin aber trotzdem zuversichtlich, dass wir zukünftig aufgrund der extrem kriminellen Machenschaften jetzt tatsächlich auch zusammenkommen und sagen, der Rechtsstaat muss jetzt hier durchgreifen, und ich glaube, der Prozess ist da ein wichtiges Signal auch in diese Richtung.
    Heinemann: Herr Hikel, da kommen wir gleich zu. Ich bleibe noch mal bei der Ursachenforschung. Wurde möglicherweise auch deshalb wenig unternommen, weil Clankriminelle als Informanten über islamistische Terroristen eingesetzt werden könnten?
    Hikel: Das ist jetzt, glaube ich, nicht tatsächlich der ausschlaggebende Punkt. Ich glaube, man hat sich einfach über Jahre überhaupt keine großartigen Gedanken über echte Integration gemacht und was heißt eigentlich Integration in diese Gesellschaft. Wir in Neukölln haben vor vielen, vielen Jahren bereits darauf hingewiesen und haben bei uns im Kleinen versucht, zu tun was möglich ist, indem wir sagen: Die Menschen leben hier, und zwar unabhängig, ob sie aus einer Clanfamilie kommen oder ob sie aus anderen Ländern kommen, und sagen, die Menschen müssen teilhaben können an dieser Gesellschaft, damit sie nicht in dunkle Strukturen abdriften können.
    Heinemann: Sie haben eben gesagt oder angedeutet, dass Sie insgesamt optimistisch sind. Inwiefern?
    Hikel: Na ja. Wir haben jetzt in Berlin vor einigen Wochen unter anderem auch aufgrund dessen gesagt, wir müssen jetzt hier handeln und wir müssen vor allem schauen, in welchen Bereichen haben wir denn schon Erfolge vorzuweisen. Ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg ist aus unserer Neuköllner Sicht die Vernetzung unserer Behörden untereinander, weil wir müssen miteinander besser organisiert sein. Wir können nicht einfach jeder in seiner Struktur denken und dann machen wir Halt, wenn es in ein anderes Ressort geht, sondern wir müssen da an einem Strang ziehen. Das heißt, Staatsanwaltschaft und Ermittlungsbehörden müssen da den gleichen Fokus haben und müssen sich beispielsweise dem Thema Clankriminalität auch zusammen widmen.
    "Kriminelle Vermögen dürfen nicht legalisiert werden"
    Heinemann: Wo muss man ansetzen, damit es diesen Familien richtig weh tut?
    Hikel: Aus meiner Sicht sind wir mittlerweile an einem Punkt, wo wir nur noch an das Vermögen ran müssen, wo wir sagen müssen, die Kriminalität lohnt sich nicht. Das heißt, Sie haben es gerade gesagt: Die Münze ist bis zu vier Millionen Euro wert, ich glaube 3,7 Millionen Euro, und dieses Geld darf in keinster Weise in irgendwelche legalen Flüsse kommen, sondern wir müssen es als Staat tatsächlich wieder versuchen abzuschöpfen und müssen sagen, diese kriminellen Vermögen dürfen nicht legalisiert werden durch Geldwäsche oder durch andere Investitionen wie zum Beispiel auch in Immobilien.
    Heinemann: Herr Hikel, wir wollen uns anhören, was Sandro Mattioli sagt. Er leitet in Berlin den Verein "Mafia? Nein, Danke!"
    O-Ton Sandro Mattioli: "Es sind Männerbünde, die hier agieren. Es gibt eine Omerta. Das heißt, dass man nicht mit Sicherheitskräften zusammenarbeitet. Es ist sehr schwierig, aus den Organisationen rauszukommen. Es werden die Kinder schon von früh erzogen, auf kriminelle Art und Weise. Die bekommen quasi schon ihre kriminelle Karriere in die Wiege gelegt. Und es gibt letztlich eine kriminelle Kultur, die durchaus mit der von Mafia-Organisationen vergleichbar ist."
    Schule als Ankerpunkt
    Heinemann: Wie erreicht man Kinder oder Jugendliche, die quasi mit der Muttermilch auf Kriminalität gedrillt wurden?
    Hikel: Da müssen die staatlichen Instrumente natürlich grundsätzlich funktionieren. Das heißt, wir haben eine Schulpflicht beispielsweise. Das heißt, die Kinder und Jugendlichen müssen in die Schule gehen. Es hat ja auch einen Sinn, dass Kinder und Jugendliche in die Schule gehen sollen, damit sie fit gemacht werden für unsere Gesellschaft. Und da dürfen wir auch null Toleranz zeigen. Das heißt, Kinder und Jugendliche, egal ob sie aus Clanfamilien kommen, oder ob sie aus anderen Familien kommen, die müssen in die Schule beispielsweise, und dafür brauchen wir auch die besten Institutionen. Das heißt, unsere Schulen müssen an der Stelle auch gut aufgestellt sein - nicht mit dem Fokus, clankriminelle Kinder aus den Familien rauszuholen, sondern mit dem Fokus, Kindern und Jugendlichen den Weg in die Gesellschaft bereiten zu können. Aus meiner Sicht ist das ein ganz wichtiger Ankerpunkt.
    Heinemann: Das hat bei den Angeklagten von Berlin hinten und vorne nicht funktioniert. Beispiel: Gewalttätigkeit und Respektlosigkeit, insbesondere gegenüber Lehrerinnen schon in der fünften Klasse. Ab dem 14. Lebensjahr dann Diebstahl, Hausfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, Diebstahl unter Mitführung einer Waffe, Urkundenfälschung, Abbruch der Schule und der Ausbildung - so fasste die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" jetzt die Karriere eines 20-jährigen Angeklagten zusammen. Das Ergebnis: Vier Wochen Jugendarrest und 40 Tage Freizeitarbeit. Herr Hikel, wie muss ein Rechtsstaat aussehen, über den solche junge Männer nicht lachen würden?
    Hikel: Der Rechtsstaat muss da konsequent sein. Das heißt, beispielsweise auch bei Anklagen, insbesondere bei Jugendlichen, die vielleicht dazu drohen, Intensivtäter zu werden, die noch an der Schwelle stehen - wir nennen sie Schwellentäter -, da muss natürlich, wenn diese Jugendlichen kriminell werden, die Strafe auf dem Fuße folgen. Wir haben da in Neukölln bereits ein Modellprojekt gehabt, wo wir gesagt haben, die Strafe muss auf dem Fuße kommen, wo ein verkürztes Verfahren angewendet wird, weil natürlich weiß ein Kind, weiß ein Jugendlicher nicht mehr, warum er jetzt bestraft wird, wenn die Anklage erst viele, viele Monate später kommt und dann sich so ein Verfahren auch über lange Zeit zieht. Das ist eine Frage der Ressourcen auch bei unseren Juristinnen und Juristen. Ich glaube, auch da können wir unsere Kräfte noch effizienter bündeln und auch entsprechend verstärken.
    "Milde Strafen lassen Staat als schwach dastehen"
    Heinemann: Die Gerichte müssten allerdings mitziehen. Die "FAZ" schilderte den Fall eines Clanmitgliedes, das zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde - und nach einem Jahr wurde bereits offener Vollzug gewährt. Welche Rolle spielen solche milden Strafen?
    Hikel: Sie lassen natürlich den Staat als schwach dastehen, weil wir dürfen auch nicht vergessen, dass in diesem Milieu auch eine Haftstrafe, egal ob ein Erwachsener oder ein Jugendlicher, unter Umständen eher dazu führt, dass der Spruch "Knast macht Männer" da Realität ist. Das dürfen wir an der Stelle auch nicht hinnehmen. Das heißt, auch da müssen wir entsprechend konsequenter sein, und ich glaube, da haben wir noch eine Menge Nachholbedarf, weil unsere rechtsstaatlichen Strukturen natürlich nicht mit diesen archaischen Strukturen in irgendeiner Weise zusammenkommen. Ich glaube, auch da gibt es durchaus noch Nachholbedarf.
    Heinemann: Man muss es erst mal schaffen, diese Leute in den Knast zu bringen. – Was muss geschehen, damit Mitglieder krimineller Großfamilien zum Beispiel Zeugen nicht weiter einschüchtern können?
    Hikel: Wir müssen vor allem erst mal unsere Kräfte bündeln, auch bei uns in der Staatsanwaltschaft. Wir müssen sagen, wir müssen klären, dass wir nicht nach dem Buchstabenprinzip beispielsweise vorgehen, sondern dass wir Fälle gebündelt bearbeiten und dann unter der Überschrift, sage ich mal, Clankriminalität behandeln und dann alle Delikte, die anfallen, zusammen auch behandeln, damit dort auch die entsprechende Strafe, ein Urteil entsprechend gefällt werden kann, und nicht Delikt A, Delikt B, Delikt C, drei verschiedene Verfahren, sondern ein Verfahren, wo diese Delikte auch miteinander gebündelt behandelt werden und nicht quasi nach dem Buchstabenprinzip abgearbeitet werden.
    Heinemann: Martin Hikel (SPD), der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Hikel: Ja, auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.