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Claude Lévi-Strauss
Der die Völkerkunde verändert hat

Claude Lévi-Strauss hat den Blick auf Gesellschaften und Völker verändert. Bis heute gehört er zu den größten Vordenkern der Ethnologie. Er begründete eine revolutionäre Sichtweise der Völkerkunde, den Strukturalismus. Die französische Historikerin Emmanuelle Loyer hat eine umfassende Biographie über den 2009 gestorbenen Lévi-Strauss verfasst.

Von Tom Goeller | 30.10.2017
    Der französische Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss am 8. Juni 2001 in Paris (Hintergrundbild). Buchcover (Vordergrundbild)
    Buchcover: "Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biografie" und Claude Lévi-Strauss (Suhrkamp / AFP/ Joel Robine)
    "Wissen Sie, die Ethnologie im Allgemeinen ist eine der vielen Möglichkeiten, den Menschen zu verstehen. Wenn man den Menschen verstehen will, kann man, wie der Philosoph, sich ganz mit sich selbst befassen und versuchen, das Bewusstsein zu vertiefen. Man kann aber auch versuchen, herauszufinden, was in den vielfältigen Formen des menschlichen Daseins uns am ehesten entspricht."
    In Zeiten der Globalisierung und Migration wissen wir viel über außereuropäische Völker, über deren Denk- und Handlungsweisen. Allerdings sei es unerlässlich, den Umgang mit Menschen anderer Kulturen auf wissenschaftliche Aussagen zu stützen. Dafür, so war eben von Claude Lévi-Strauss zu hören, bedürfe es der Ethnologie als einer Wissenschaft vom Menschen. Selbst die Bundeswehr hat diesen Bedarf für ihre Auslandseinsätze erkannt und Ethnologen als interkulturelle Berater eingestellt.
    Von der Wiege bis zur Bahre
    In 21 Kapiteln, gegliedert in vier Großabschnitte, führt Emmanuelle Loyer in ihrer Biographie die Leser durch das Leben von Lévi-Strauss: von der Wiege bis zur Bahre, ja eigentlich sogar ausgehend von den Urgroßeltern. Sehr kleinteilig zeichnet sie die Genealogie der Familie nach, bis hin zu damals üblichen Feinheiten wie Inzestehen. Diese genaue Auseinandersetzung mit der Herkunft veranlasst Loyer zum eigentlich wirklich Neuen an der Bewertung und Einordnung des Lebens und der Arbeit von Lévi-Strauss. Denn sie folgert daraus für seine ethnologische Forschung, "dass sich der (von ihm) in den exotischen primitiven Gesellschaften untersuchte Organisationstypus in den ländlichen europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, insbesondere in seiner eigenen Genealogie, wiederfinden ließ."
    Mit anderen Worten: Hier findet sich nach Loyers Ansicht der Grund dafür, warum sich der Ethnologe so intensiv mit verwandtschaftlichen Strukturen von Naturvölkern beschäftigte. - Loyer hat das Leben von Lévi-Strauss in "Welten" eingeteilt. Nach den "Hinterwelten" seiner Herkunft stößt sie vor zum sechs Kapitel umfassenden Teil "Neue Welten", in dem sie seine Entwicklung als Ethnologe nachzeichnet: Nach dem Studium der Philosophie wird er zunächst Assistent des französischen Politikers Georges Monnet, unterrichtet ab 1931 als Lehrer an einem Gymnasium in der Provinz und erhält 1934 ein Angebot, an der gerade eröffneten brasilianischen Universität von Sao Paulo Philosophie und Soziologie zu lehren. Er willigt ein, da seine Frau Dina dort ebenfalls unterrichten kann - als Ethnologin. Beide unternehmen mehrere Expeditionen zu indigenen Stämmen in den Urwald und stellen ihre Sammelstücke nach ihrer Rückkehr nach Paris im Jahr 1939 aus. 1941 flieht Lévi-Strauss vor den Nazis nach New York, wo er sich mit der amerikanischen Ethnologie und dem Strukturalismus in der Linguistik vertraut macht.
    Erfolg als Bestseller-Autor
    Was dazu führt, dass er dieses System in den nächsten Jahren auf Verwandtschaftsstrukturen überträgt und, 1949 nach Frankreich zurückgekehrt, seine These veröffentlicht. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, dass es weltweit Gesellschaften gibt, in denen bestimmte Heiratsregeln dazu führen, dass Allianzen unter Familien gebildet werden. Als häufigstes Vorkommen identifizierte Lévi-Strauss einen sogenannten "Frauentausch" basierend auf der Heirat eines Mannes mit der Tochter des Bruders seiner Mutter, also der matrilinearen Cousine. Damit begründete Lévi-Strauss den ethnologischen Strukturalismus, den er 1964 bis 1971 durch seine Mythenforschung in vier Bänden weiter untermauerte.
    Womit wir beim Großkapitel "Die Alte Welt" von Loyer angekommen sind, das ganz der "Wissenschaftsfabrik", wie Forschungsinstitut von Lévi-Strauss genannt wurde, gewidmet ist. Denn seit 1959 hatte er einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie am Collège de France in Paris erhalten. Vorausgegangen war ein publizistischer Bestsellererfolg. 1955 verdrängte er andere französische Bestsellerautoren, wie etwa seine einstige Mitstudentin Simone de Beauvoir, von der Hitliste - mit einem Buch, das bis heute in kein Genre einzuordnen ist. "Traurige Tropen" heißt der Titel. Manche nennen es eine Reiseerzählung, andere eine Autobiographie, Loyer nennt es "die Bekenntnisse von Claude Lévi-Strauss". Für einen Ethnologen bis heute ungewöhnlich, ist es eine relativ unwissenschaftliche Fundamentalkritik an der westlichen Zivilisation und eine rousseau-hafte Verherrlichung des "Guten Wilden". Dieses 400-Seiten-Buch wurde gewissermaßen zur Pflichtlektüre der 68er Studentenbewegung in Frankreich. Oder wie Loyer es nennt: "Traurige Tropen wird ein Klassiker des Denkens des 20. Jahrhunderts und macht seinen Autor bald in der ganzen Welt berühmt."
    Politische Phantasie
    Was bleibt? In ihrem Schlussteil, der schlicht "Die Welt" heißt, widmet sich die Historikerin Loyer der "Unsterblichkeit" - wie sie es nennt - von "unserem Zeitgenossen". Es ist der einzige Teil des Buches, in dem die Autorin etwas blass bleibt. So richtig gelingt es ihr nicht, das geistige Erbe ihres Landsmannes zusammenzufassen. Deshalb sei noch einmal auf Gedanken ihrer Einführung zurückgegriffen, wo Loyer über Lévi-Strauss philosophiert: "Schon 1979 bewies er erstaunliche politische Phantasie, als er vorschlug, nach dem Beispiel der exotischen Gesellschaften, die auch die Nichtmenschen zu integrieren verstanden, die Definition der "Menschenrechte" durch die der "Rechte des Lebenden" zu ersetzten: der Mensch […] an der Seite der Tiere, der Pflanzen, der Mineralien, der Dinge, statt diese auszuschließen."
    Das Buch von Emmanuelle Loyer ist mehr als nur eine Biographie: Es ist eine philosophierende Interpretation des Lebens und Werkes von Lévi-Strauss, auf hohem sprachlichen Niveau, das von der Übersetzerin Eva Moldenhauer hervorragend im Deutschen beibehalten wurde. Der Leser erhält anhand des Protagonisten tiefen Einblick in die Arbeits- und Denkweise des Wissenschaftszweiges Ethnologie, dem aufgrund der hohen Zuwanderung außereuropäischer Migranten dringend eine höhere Aufmerksamkeit zu wünschen ist.
    Emmanuelle Loyer: "Lévi-Strauss. Eine Biographie"
    Suhrkamp Verlag, 1088 Seiten, 58,- Euro