Claude Simon, der französische Literaturnobelpreisträger von 1985, ist bei uns wohl nur unter Kennern und Liebhabern der avantgardistischen Literatur bekannt. Und zwar als Autor eigenwillig erzählter und montierter Romane. Des Öfteren kreisen sie um das traumatische Kriegserlebnis des Kavallerieoffiziers Simon. Er überlebte, zusammen mit einem anderen, als einziger die Vernichtung seiner gesamten Kompanie durch die deutschen Truppen am 17. Mai 1940. Die vier Vorträge, die jetzt der Berenberg-Verlag vorgelegt hat, stammen aus dem Nachlass des 2005 gestorbenen Schriftstellers. Er hat sie zwischen 1980 und 1993 an verschiedenen Orten gehalten und mehrfach überarbeitet. Obwohl sie unterschiedliche Themen haben, verwenden sie oft dasselbe Zitatmaterial. Darin gleichen sie Simons Romanen oder der kubistischen Malerei, die er zweimal in ihnen erwähnt.
Ein glänzender Essayist war der Romancier in diesen, wie er sie nannte, "Plaudereien" nicht. Als Zuhörer dürfte man sogar, wegen der Abstraktheit und Simons verschachtelter Darlegungsstruktur, mit dem Redner Claude Simon seine Schwierigkeiten gehabt haben. Die erfahrene Übersetzerin Eva Moldenhauer hat alles getan, um uns im Deutschen auf die Sprünge zum Verständnis zu verhelfen.
Minutiöse Exegetik
Der bizarre Titel, den der erste und älteste der Vorträge hat, geht auf eine Metapher Marcel Prousts zurück. In dessen "À la recherche du temps perdu" wird einmal ein Hotel-Souper beschworen, bei dem man einen urtümlichen Fisch auftischt. "Diese Art Seeungetüm" heißt es bei Proust, "dessen Leib mit den unzähligen Rückenwirbeln und dem blau und rosa Geäder" sei "von der Natur (...) nach einem architektonischen Plan wie eine in vielen Farben gehaltene Meereskathedrale" gebaut worden. Den neunzeiligen, lang ausschweifenden Satz nimmt sich Simon vor wie ein Chirurg, der eine besonders muskulöse Körperpartie freilegt, die er dann liebe- und kunstvoll en détail vor den Augen seiner Medizinstudenten analysiert. Simons close reading dieser Proust-Passage deckt in deren Metaphern und Anspielungen ein dichtes Netz von Verweisen und Beziehungen auf. Zu ihnen gehört auch die seltsame Entsprechung eines Fischs mit einer "Meereskathedrale", womit die Kathedrale einer Küstenstadt gemeint ist, von der der Proustsche Erzähler fälschlicherweise in Erinnerung hatte, dass sie unmittelbar am Meer stehe.
Claude Simons minutiöse Exegetik liefert exemplarisch den Beweis für die Zentralthese des Autors. "Bei Proust", schreibt er, "wird die signifikante Rolle, die bisher der Handlung zukam, auf die Beschreibung übertragen". Eben das sei der Beginn der Moderne. Ihn, Claude Simon als Leser, interessiere zum Beispiel an Stendhals hinreißender "Kartause von Parma" nicht der verwickelte Plot um den Helden Fabriziodel Dongo, sondern einzig und allein die grandiose Beschreibung von Fabrizios fast kinematografisch montiertem Herumirren auf dem Schlachtfeld von Waterloo. "Der Roman", nach Simons Ansicht und unausgesprochener eigener Praxis, höre auch im 20. Jahrhundert nicht auf, "die Niederschrift eines oder mehrerer Abenteuer zu sein"; aber "zur gleichen Zeit und im gleichen Maße" beschreibe er "auch das Abenteuer seiner Niederschrift".
Hinweis auf den Kubismus
Erstaunlicherweise erwähnt Claude Simon nach dieser Charakterisierung seiner Roman-Poetik an keiner Stelle Laurence Sterne und dessen einzigartigen "Tristram Shandy". Dabei kam die selbstreflexivste Form des Romans, die heute von Simon unter anderem für eine späte Errungenschaft der Postmoderne gehalten wird, als humoristischer Zwilling bereits in der Geburtsstunde des europäischen Romans im britischen 18.Jahrhundert mit auf die Welt. Ist es etwa seine britische Herkunft oder Sternes feixender Witz oder gar schlicht Ignoranz, die den ernsthaften Franzosen zum "Tristram Shandy" schweigen lassen?
An einer anderen Passage Prousts - der für Simon noch vor Faulkner die einzige ästhetisch relevante Bezugsgröße ist - pointiert der französische Romancier das bewusst Zwei-, wo nicht sogar Mehrdeutige von dessen Prosa und Metaphorik - auch in sexueller Hinsicht. Als deutscher Leser fühlt man sich dabei gelegentlich an den späten Arno Schmidt erinnert. Im Vergleich zu dem phonetistisch-brutalistischen deutschen "Wortmetz" war allerdings der von Claude Simon gefeierte Proust ein feinmaschiger ironischer Wortsetzer.
Obgleich er zurecht in der Kunst keinen "Fortschritt" sondern nur "Unterschiede" und "Entwicklungen" am Werk sieht, dürfte Simons Hinweis auf den Kubismus in der Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ästhetische "Entsprechung" zur Erzählprosa von Proust, Joyce und Faulkner ebenso hilfreich wie sinnfällig für das literarische Verständnis der weltliterarischen Moderne sein. Überhaupt liebt es Claude Simon, beim Sprechen über Romane und Romantechnik sich immer wieder auf die Malerei zu beziehen und zum Beispiel einmal Giotto funktional in die Nähe von Balzac zu rücken. Nun, Claude Simon probierte erst die Malerei aus, bevor er erkannte, dass er, nach einem Lieblingswort seines Hausgottes Proust, in der "Fabrikation" von Romanen zum literarischen Meister wurde.
Claude Simon: Der Fisch als Kathedrale. Vier Vorträge. Deutsch von Eva Moldenhauer. Mit einem Nachwort von Andreas Isenschmid. Berenberg-Verlag, Berlin 2014. 107 Seiten, 20 Euro.