Roth betonte, dasss eine Liberalisierung keinen Kniefall vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bedeute. Sie forderte, die Diskussion darüber unabhängig vom Flüchtlingsdeal mit der Türkei zu sehen. Beides müsse man voneinander trennen, sagte sie.
Aus Sicht von Roth könnte eine erleichterte Einreise den Austausch fördern und wäre wichtig für die demokratischen Kräfte in der Türkei. Auf diese sei beim Flüchtlingsdeal gar nicht geachtet worden.
Dass Deutsche für die Einreise in die Türkei kein Visum benötigten, umgekehrt aber schon, werde zu recht als Ungleichbehandlung wahrgenommen, so Roth weiter. Letztlich würden von der Liberalisierung alle Seiten profitieren: viele EU-Bürger, die EU-Länder und die Türkei.
Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: Wir sprechen darüber jetzt mit der Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Frau Roth.
Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Frau Klein.
Klein: Wir haben es gehört: Viele türken wünschen sich sehnlichst, endlich visafrei reisen zu können. Hieße das aber auf der anderen Seite auch, einen weiteren Kniefall vor Präsident Erdogan zu begehen?
Roth: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Denn eine Visa-Liberalisierung für die Türkei, die ist von Seiten der Europäischen Union längst, längst überfällig, und zwar völlig unabhängig vom EU-Türkei-Deal zur Rücknahme von Flüchtlingen. Die Türkei hat ja mit der Europäischen damals Gemeinschaft schon 1963 einen Vertrag abgeschlossen mit Perspektive hin zu einer Vollmitgliedschaft, und da war versprochen worden, die Visa-Liberalisierung schon in den 80er-Jahren erreicht zu haben. Es wurde aber immer und immer wieder verzögert.
Die Debatte jetzt um die Visa-Liberalisierung wird jetzt verknüpft mit dem EU-Türkei-Deal, den ich sehr, sehr kritisch sehe. Aber die Visa-Liberalisierung muss unabhängig gesehen werden und in der Tat, es ist wirklich aller-, allerhöchste Zeit. Nicht zuletzt würde die erleichterte Einreise für türkische Staatsbürger in die EU den Austausch fördern und gerade für demokratische Kräfte in der Türkei eine wichtige Unterstützung darstellen.
Visa-Liberalisierung ist schon seit 1963 versprochen
Klein: Aber kann man das unabhängig von dem von Ihnen ja auch kritisierten sogenannten Deal mit der Türkei in Sachen Flüchtlingspolitik sehen, denn diese Visa-Erleichterung, die wahrscheinlich jetzt empfohlen werden wird, kommt ja jetzt zu diesem Zeitpunkt und sie kam nicht vor drei Jahren. Das heißt, natürlich ist auch eine Interpretation, die jetzt vorgenommen wird, man kommt auch gerade in diesem Kontext jetzt Erdogan entgegen.
Roth: Ja, das passiert jetzt. Aber noch einmal: Ich glaube, man muss jetzt wirklich die Dinge klar sehen und voneinander trennen. In der Tat ist es so, dass schon sehr lange zum Beispiel deutsche Staatsbürger kein Visum für die Türkei brauchen. Umgekehrt ist es so und es wurde zurecht von vielen Menschen als ungleiche Behandlung wahrgenommen.
Und wenn die Türkei jetzt verspricht und zusagt, dass alle EU-Bürger, also auch die Mitglieder von elf EU-Staaten, die noch nicht visumsfrei sind, für die Türkei das Visum bekommen, dann ist das wirklich etwas, von dem beide profitieren können, beide Seiten, viele EU-Bürger, viele EU-Länder und die Türkei. Aber schauen Sie, es sind auch Dinge damit verknüpft und Kriterien damit verknüpft, die haben weder mit dem Flüchtlings-Deal was zu tun, noch mit der …
"Positiver Schritt der Unterstützung der demokratischen Kräfte"
Klein: Darauf würde ich gleich kommen, Frau Roth. Ich würde ganz gerne mal dort einhaken: Die EU-Kommission wird aber dann realpolitisch, wenn sie sich so entscheidet, darüber hinwegsehen, dass die Türkei Erdogans die europäischen Standards für visa-Freiheit eigentlich nicht erfüllt, nämlich Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ist das richtig, darüber hinwegzusehen?
Roth: Nein, es ist nicht richtig, darüber hinwegzusehen. Aber noch einmal: Es gibt viele Länder, die die Visumsfreiheit in die Europäische Union haben, wo ich es mit der Pressefreiheit auch nicht sehe, und es wäre ein wichtiger Schritt, wenn zum Beispiel Zypern die Visumsfreiheit für die Türkei hätte. Damit wäre ein großer Schritt, ein alter Konflikt, der nichts mit der Flüchtlingsfrage zu tun hat, sondern der ein Streit ist innerhalb der Türkei mit Zypern, mit dem geteilten Land, das seit '74 ja geteilt ist, ein Stück weit gelöst und man könnte in diesem Konflikt, den es ja auch gibt, weiterkommen.
Noch einmal: Die Visumsliberalisierung ist ein positiver Schritt der Unterstützung der demokratischen Kräfte. Bei diesem ganzen Flüchtlings-Deal haben wir nämlich auf die überhaupt keinen Wert gelegt und es wurde praktisch auf diejenigen, die Opfer sind von einer repressiven Erdogan-Politik, überhaupt nicht geachtet und die könnten davon profitieren.
Streit Türkei-Zypern kann durch Visaerleichterungen gelöst werden
Klein: Ihre Haltung ist jetzt, glaube ich, auch klar geworden, Frau Roth. Ich würde gern noch mal nachfragen nach dem Stichwort, das Sie auch schon genannt haben, nämlich welche Klauseln denn eingefügt werden sollen für den Fall - das ist ja auch eine Befürchtung -, dass sich die Türkei an bestimmte Vorgaben oder Verträge nicht hält. In welchen Punkten ist das zwingend notwendig Ihrer Meinung nach?
Roth: Noch einmal: Visumsfreiheit soll erreicht werden und ich finde gerade die Kritik der CSU ziemlich doppelbödig. Wenn es denn alles so schlimm ist, warum macht man dann mit Herrn Erdogan einen Deal und kritisiert nicht von Seiten der CSU die Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei, die Unterdrückung der Minderheiten in der Türkei, die Frage der christlichen Minderheiten, die Frage des Krieges gegen die Kurden. Da ist die CSU sehr still, sondern jetzt geht es darum, versuchen zu verhindern, dass türkische Staatsbürger frei und ohne Visum reisen können und zu uns kommen können.
Da vermischt sich eine mögliche notwendige Kritik einer Repression von einer Politik Herrn Erdogans mit einem antitürkischen Ressentiment, und das wäre wirklich Gift. Also: Visumsfreiheit ja, darauf bestehen, dass alle EU-Staaten auch ihrerseits visumsfrei sind, was Reisen in die Türkei angeht, inklusive Zypern. Das ist sehr wichtig. Und davon unabhängig aber, ganz unabhängig davon aber endlich das Schweigen beenden, die Kritiklosigkeit beenden gegen die Repression in der Türkei, allen voran die Presse- und Meinungsfreiheit.
Klein: Nach meinem Eindruck wird schon auch durchaus kritisiert, eigentlich von Vertretern fast aller Parteien. Die Frage ist ja immer, welche Konsequenzen sollte man daraus ziehen, und da sagen Sie ja jetzt auch mehrfach, im genannten Falle sollte man nicht die Konsequenz daraus ziehen zu sagen, ihr bekommt keine Visa-Freiheit. Das ist ja auch eine andere Konsequenz als die, die jetzt denkbar wäre.
Vielleicht noch mal der Punkt, Frau Roth. Ein Argument dagegen ist ja auch, dass man sagt, oder eine Befürchtung ist, dass sehr viel mehr Menschen noch mal nach Europa kommen werden. Türken, die zunächst mal als Touristen kommen, aber auch Kurden, die fliehen vor dem Bürgerkrieg in anderen Gegenden der Türkei. Ist das etwas, was auf jeden Fall hingenommen und begrüßt werden sollte?
Gefahr neuer Fluchtursachen durch Erdogans Politik
Roth: Erst mal muss man sagen, dass in der Türkei von 78 Millionen Bürgern gerade mal zehn überhaupt einen Pass haben, einen biometrischen überhaupt noch nicht. Das dauert und wir reden nicht von 78 Millionen Türken oder von der Hälfte, die sich von Erdogan unterdrückt fühlen, die dann zu uns kommen würden. Das Problem an Erdogans Politik ist - und ich bin nicht der Meinung, dass darüber wirklich laut und kritisch geredet wird, oder dass Druck ausgeübt würde auf Herrn Erdogan, sondern dass man tatsächlich im Kotau das passieren lässt, was in der Türkei in der Innenpolitik passiert -, das Problem ist tatsächlich, dass durch seine repressive Politik, durch den Krieg in den kurdischen Städten neue Fluchtursachen entstehen könnten.
Das ist ja das, was wir sagen und was wir kritisieren. Man kann doch nicht einen Abschottungs-Deal machen und glauben, man könnte sich abschotten, und Erdogan macht die Arbeit an der Außengrenze und dafür bekommt er Geld und dafür bekommt er vor allem das Stillschweigen über das, was in der Türkei passiert. Ich finde nicht, dass man sich gleichermaßen einsetzen würde für die Pressefreiheit, für die Meinungsfreiheit, für den Friedensprozess der Kurden, für das Ende des Versuchs der Kriminalisierung der Opposition.
Schockierende Ereignisse im türkischen Parlement
Wir haben ja vorgestern Ereignisse gesehen im türkischen Parlament, Prügeleien. Da geht es ja unglaublich zu, weil versucht wird, die Immunität vor allem der kurdischen Abgeordneten, der Mitglieder der HDP-Partei aufzuheben, um sie dann aus dem Parlament zu schmeißen. Da würde ich mir eine laute Stimme und ein lautes Agieren von Seiten der Mitgliedsstaaten, von Seiten der EU, von Seiten unserer Bundesregierung wünschen und jetzt nicht eine Debatte, ob man etwas, was seit Jahrzehnten versprochen ist, nämlich tatsächlich die Visumserleichterung, genehmigen soll oder nicht.
Klein: Frau Roth, letzte Frage mit Bitte um eine kurze Antwort. Der Streit um Pressefreiheit drehte sich ja vor allen Dingen in den vergangenen Wochen um den ZDF-Moderator Jan Böhmermann, der jetzt in der Wochenzeitung "Die Zeit" noch mal scharf die Kanzlerin kritisiert und sagt, sie habe ihn einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert. Finden Sie diese starke Kritik berechtigt?
Roth: Na ja, ich glaube, er ist als Satiriker zurückgekehrt. Satire kann einem gefallen oder nicht, aber sie muss frei sein. Frau Merkel hat einen massiven Fehler gemacht, indem sie dieses sogenannte Gedicht eingeordnet hat.
Klein: Das hat sie aber selbst bedauert und auch zurückgenommen.
Roth: Ja, ja! Sie hat einen Fehler gemacht und das hat sie gesagt. Das war gut so. Ich fände gut, wenn Herr Böhmermann sich einsetzen würde für die Satiriker, die Künstler, die Dichter und die Journalisten in der Türkei und jetzt vielleicht nicht so viel über sein Schicksal jammern sollte.
Klein: Claudia Roth, die Vize-Bundestagspräsidentin von den Grünen, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für Ihre Zeit, Frau Roth, und für das Gespräch heute Morgen.
Roth: Danke, Frau Klein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.