Der russische Angriffskrieg in der Ukraine sei auch ein gezielter Krieg gegen die Kultur, "um die kulturelle Identität eines Landes, einer Gesellschaft zu zerstören", berichtete Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Deutschlandfunk von ihren Erlebnissen vor Ort. Nach Aussagen ihres Kollegen, des ukrainischen Kulturministers Olexandr Tkatschenko, seien im Land bereits mehr als 375 kulturelle Einrichtungen angegriffen, beschädigt oder zerstört worden, sagte die Grünen-Politikerin. Kulturelle Einrichtungen würden von den russischen Aggressoren gezielt angegriffen.
Ukraine sollte EU-Beitrittskandidat werden
Roth sprach sich dafür aus, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten einzuräumen. Die Ukraine sei Teil der europäischen Familie und die Europäische Union habe eine Verantwortung für das Land, betonte die Grünen-Politikerin. Eine mögliche Aufnahme in die EU sollte allerdings ihren normalen Weg gehen und nicht abgekürzt werden, sagte die 67-Jährige. Die Kulturstaatsministerin kündigte außerdem an, Odessa bei der Bewerbung zum UNESCO-Welterbe helfen zu wollen.
Zugleich verteidigte sie den Kurs der Ampelkoalition beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine. Diese seien richtig. Allerdings sei die Debatte in Deutschland sehr verengt auf Rüstungsgüter. Es müsse auch um humanitäre Hilfe und Gelder für den Wiederaufbau gehen.
Das komplette Interview im Wortlaut:
Sarah Zerback: Frau Roth, Sie sind ja ganz bewusst nicht nach Kiew gereist, sondern nach Odessa, einer Stadt von enormem kulturellem Gewicht in der Ukraine. Was ist denn von dieser Kultur übrig geblieben?
Claudia Roth: Ich bin nach Odessa gereist auch auf Wunsch meines Kulturministerkollegen Olexandr, der gebeten hat, bitte, kommen Sie nach Odessa, um die reiche Kultur unseres Landes kennenzulernen.
Und in der Tat, Odessa ist eine wunderwunderschöne Stadt mit großen, großen Kultureinrichtungen, mit wahrscheinlich einer der schönsten Opernhäuser der ganzen Welt, einer Philharmonie, mit den ältesten Filmstudios in der ganzen Region, also es ist ein richtig großer Reichtum dort. Und zu Recht hat die Stadt, haben die Menschen in der Stadt, hat der Kulturminister große, große Sorge, dass dieser Krieg auch ein Krieg gegen die Kultur ist, Odessa auch in dieser Frage treffen wird.
"Ein gezielter Krieg gegen die Kultur"
Zerback: Sehen Sie darin tatsächlich den gezielten Versuch Russlands, die kulturelle Identität eines ganzen Landes zu zerstören?
Roth: Ja, sehe ich absolut. Dieser Krieg ist ja der Krieg eines Regimes, das tötet - Frauen, Kinder, Männer -, eines Regimes, das lügt, denn mitnichten werden zivile Ziele nicht angegriffen. Wir haben es in Odessa ja erlebt, auch da sind zivile Einrichtungen, Jugendherbergen, Friedhöfe angegriffen worden.
Aber es ist auch eben ein gezielter Krieg gegen die Kultur, um die kulturelle Identität eines Landes, einer Gesellschaft zu zerstören. Es sind in der Ukraine nach Aussagen meines Kollegen über 375 kulturelle Einrichtungen angegriffen, beschädigt oder zerstört worden.
Also man muss sich vorstellen Museen, Bibliotheken, Theater – in Mariupol war eines der ersten. Gezielt auf dem Land werden Häuser von bekannten großen ukrainischen Persönlichkeiten, eines Philosophen zum Beispiel, der vor 300 Jahren einer der wichtigsten Philosophen der Ukraine war, angegriffen und zerstört. Es wird versucht, über die Zerstörung von Kulturstätten die Identität eines Volkes infrage zu stellen oder gleich mit zu zerstören.
"Der Hafen ist für die Millionenstadt Odessa natürlich das Tor zur Welt"
Zerback: Odessa ist ja nicht nur kulturell, sondern auch strategisch sehr wichtig. Zuletzt gab es erneut Meldungen über Raketenangriffe dort, nach den massiven Angriffen zu Beginn des Kriegs. Wie groß sind denn da jetzt die Sorgen der Menschen, dass Russland nun erneut versuchen könnte, die Hafenstadt einzunehmen?
Roth: Die Sorgen sind riesig groß, Frau Zerback. Wir haben mit der Stadtverwaltung, mit dem Bürgermeister, mit dem Militärkommandanten einen Gang durch die Stadt gemacht, auch in Richtung Hafen. Und Sie merken, mit welcher tiefen, tiefen Sorge die Menschen auf den Hafen blicken, denn der Hafen ist für Odessa, für die Millionenstadt Odessa natürlich das Tor zur Welt. Es ist das Tor zur Welt, wo viele, viele Touristen normalerweise ankommen. Es ist das Tor zur Welt aus ökonomischen Gründen, weil dort die Getreideernste transportiert wird.
Und jetzt kann es aber auch das Einfallstor werden für einen brutalen russischen Angriff. Also die Sorgen sind riesenriesengroß. Mich hat das tief bewegt und berührt und auch betroffen gemacht, eine so wunderschöne Stadt zu erleben, die gleichzeitig im Krieg ist.
"Was ich erlebt habe, ist, dass alle sagen, wir sind Ukrainer"
Zerback: Wenn russische Soldaten eine Stadt einnehmen – das haben wir immer wieder gesehen –, dann läuft das nach demselben Schema ab, dann werden ukrainische Bücher verbrannt, dann wird auch alles Ukrainische verboten, und das eben in einem Land, in dem die Menschen ja vor dem Krieg mühelos mitten im Satz zwischen Russisch und Ukrainisch gewechselt haben. Wie halten es denn die Menschen dort aktuell mit der russischen Kultur?
Roth: Es wird auch Russisch gesprochen, aber es wird immer schwieriger. Ich glaube, es wird immer, immer schwieriger für sie, zu akzeptieren oder überhaupt zu ertragen, dass russische Sprache oder russische Kultur einen Platz bei ihnen hat, obwohl das gar nicht zu trennen ist. Es ist ja gar nicht einfach zu trennen.
Aber die Konflikte, die es in der Vergangenheit gab, also eher prorussisch oder proukrainisch, ich glaube, das hat sich völlig aufgelöst. Was ich erlebt habe, ist, dass alle sagen, wir sind Ukrainer. Wir sind Ukrainer, und wir werden angegriffen. Was noch ein Thema war, wie hält man es denn mit einer Art Kulturboykott, und da wurde mir sehr deutlich vermittelt, dass es nicht akzeptiert wird, wenn Künstler sich äußern als Propagandisten von Putin. Mit denen wollen sie wirklich nichts zu tun haben, aber mit denen wird auch ein Puschkin in Odessa zum Geburtstag gefeiert. Als wir da waren, hatte er Geburtstag, und an seinem Mahnmal, an seinem Denkmal, an seiner Skulptur waren Blumen niedergelegt.
Aber ich muss Ihnen sagen, Frau Zerback, ich hab das wirklich verstanden, diese tiefe, tiefe, tiefe Sorge, Betroffenheit, den Schmerz auch, dass ein Regime, ein russisches Regime versucht, die Eigenständigkeit und die Selbstbestimmung eines Landes, der Ukraine, kaputt zu machen, infrage zu stellen und zu zerstören.
"Ich bin gegen einen Kulturboykott"
Zerback: Haben Sie denn auch Verständnis dafür, dass die Menschen sich jetzt von der russischen Kultur abwenden, und können Sie sich das vielleicht auch als Zeichen der Solidarität hier bei uns in Deutschland vorstellen, dass zum Beispiel Tschechow aus dem Theater fliegt oder russische Komponisten aus dem Programm?
Roth: Ich kann den Schmerz vor Ort nachvollziehen, aber wir haben sehr offen drüber geredet, und ich hab gesagt, dass ich gegen einen Kulturboykott bin, denn Tschechow ist einer der größten Autoren und einer der wichtigsten Künstler. Und wenn jetzt aus deutschen Buchläden Dostojewski oder Tschechow verbannt würde, ich glaube, das wäre die völlig falsche Handlung, denn es sind ja auch russische Künstler und Künstlerinnen immer schon gewesen, genauso wie Journalisten und Journalistinnen, die früher, aber auch heute versuchen, noch Freiräume zu erhalten oder Freiräume zu schaffen.
Insofern haben wir natürlich auch drüber geredet, dass wenn es ein Krieg gegen die Kultur ist, es auch ein Propagandakrieg ist, und dass es auch im Interesse der Ukraine ist, dass wir hier bei uns in Deutschland eine Infrastruktur aufbauen für Exilmedien. Das es auch ein expliziter Wunsch von Präsident Selenskyj und uns gewesen, das haben wir. Wir geben russischen Journalisten, Journalistinnen, die aus ihrem Land geflohen sind, die Möglichkeit, von Deutschland aus Berichte zu machen, Medienpolitik zu betreiben und russischsprachige Informationen zu senden.
"Das ist die Kultur der Ukraine, aber es ist auch unsere Kultur"
Zerback: Vor Ort, wie haben Sie das empfunden, in vielen Teilen des Landes ist es gar nicht mehr möglich, dass Kultur stattfinden kann aufgrund des Kriegs. Jetzt waren Sie, wie Sie gerade gesagt haben, auf Einladung dort, und dennoch: Wie schwierig war da auch für Sie persönlich der Spagat einer solchen Reise, also da die Kultur ja in den Mittelpunkt zu stellen eben mitten im Krieg?
Roth: Ja, weil es auch ein Krieg gegen die Kultur ist. Ich muss Ihnen sagen, ich finde, auch bei uns ist die Debatte sehr, sehr reduziert und sehr eingeengt und hat auch eine Schieflage. Natürlich, klar war es ein Thema, natürlich braucht die Ukraine eine militärische Unterstützung, ganz klar, da bin ich auch sehr dafür, dass Rüstungsgüter geliefert werden, dass auch schwere Waffen geliefert werden, dass die Menschen und das Land überhaupt die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen und für ihre Werte zu kämpfen. Und dieses bedingungslose Kämpfen für das, was für uns selbstverständlich ist – Freiheit, Frieden, Selbstbestimmung, eine proeuropäische Haltung einzunehmen –, das muss ja unterstützt werden. Aber es geht eben definitiv um mehr.
Ich habe es da erlebt in der Oper: Es wurde geprobt, „Nabucco“ wurde geprobt. Die Direktorin, die Leitung der Oper, hat gesagt, wir wollen spielen, wir wollen wieder eröffnen, in einer Woche wollen wir spielen, wir wollen die Menschen einladen, wir wollen uns unsere Kultur nicht wegnehmen lassen.
Ich glaube, es ist wirklich eine ganz notwendige Unterstützung. Wenn man den Kampf in der Ukraine ernst nimmt, dass sie um ihre eigene Identität, um ihre eigene Selbstbestimmung kämpfen, dann muss auch Kultur und die Unterstützung dieses Welterbes ernst genommen werden.
Ein wichtiger Punkt war die Bitte der Unterstützung des Antrags der Ukraine, die Altstadt von Odessa als Welterbestadt im Rahmen der UNESCO anzuerkennen. Ich glaube, das ist wichtig, dass wir das mit unterstützen, denn alles, was ich dort erlebt und gesehen habe, das ist die Kultur Odessas, das ist die Kultur der Ukraine, aber es ist auch unsere Kultur.
"Die Ukraine soll einen Kandidatenstatus bekommen"
Zerback: Ja, gleichzeitig erleben wir heute, dass der ukrainische Präsident Selenskyj einen Sondergesandten nach Berlin geschickt hat, um eben auch auf politischer Ebene um Unterstützung zu bitten, und zwar ganz konkret, um da über die EU-Beitrittsperspektive zu sprechen. Wie positionieren Sie sich da?
Roth: Ich bin eindeutig dafür, dass die Ukraine einen Kandidatenstatus bekommen soll, und der Kandidatenstatus ist ja dann die Öffnung hin zu einer Mitgliedschaft. Absolut richtig, denn die Menschen kämpfen dort – ich hab’s gerade gesagt – mit einem unglaublichen Mut und mit einer unglaublichen Überzeugung und Stärke für …
Zerback: Ja, Frau Roth, wenn ich da noch mal kurz reingrätschen darf, um das mal kurz noch zu verstehen, weil den Punkt, den hab ich, aber sind Sie da auch für einen abgekürzten Weg, oder sind Sie da ganz bei der Bundesaußenministerin, die sagt, da gibt’s keine Abkürzung?
Roth: Ich bin sehr bei der Bundesaußenministerin, aber der Kandidatenstatus ist ein ganz, ganz, ganz wichtiges Signal, dass dann die Verhandlungen und ein Verfahren beginnen, weil es gibt auch andere Kandidatinnen und Kandidatenländer, und dann, glaube ich, ist es richtig zu sagen, Kandidatenstatus ja, und dann beginnt aber das konkrete Verfahren.
"Ja, ihr gehört zu Europa, ihr seid Teil der europäischen Familie"
Zerback: Also so ein bisschen à la Macron, der französische Präsident, der da einen neuen Weg quasi vorschlägt. Wie könnte denn der aussehen?
Roth: Ich weiß nicht, ob das ein neuer Weg ist. Normalerweise dauert es ja ziemlich lange, bis man überhaupt so einen Status bekommt, aber ich finde richtig, dass es auch ein Zeichen ist gegenüber der Ukraine, zu sagen, ja, ihr gehört zu Europa, ihr seid Teil der europäischen Familie wie andere Länder, wie Georgien, das seit langen, langen Jahren ja auch die Aufnahme sich wünscht und auch einen Kandidatenstatus hat.
Und diesen Kandidatenstatus jetzt der Ukraine unmittelbar zu geben, finde ich sehr, sehr richtig, und dann gibt es ja auch eine Verantwortung für den Kandidaten Ukraine.
"Dann gibt es eben auch das Recht auf Verteidigung"
Zerback: Frau Roth, eins interessiert mich noch zum Schluss. Ausgerechnet ja Ihre Partei, die Grünen, die Bundesaußenministerin auch, der Bundeswirtschaftsminister, die werben aktuell ja mit am lautesten für Waffenlieferung im Ukraine-Krieg. Reiben Sie sich da eigentlich auch manchmal verblüfft die Augen bei dieser, ja, Zeitenwende für Ihre Partei in den Punkt?
Roth: Nein, ich reibe mir nicht die Augen, sondern ich bin natürlich hin und her gerissen, weil das ist ja keine einfache Entscheidung, wenn man weiß, was die Grundsätze unserer Partei sind. Aber wenn Sie sehen, dass ein souveränes Land angegriffen wird und sich verteidigen will, dann gibt es eben auch das Recht auf Verteidigung, und was ist dieses Recht auf Verteidigung wert, wenn die Mittel dafür nicht da sind. Insofern ja, ich unterstütze, dass Rüstungsgüter geliefert werden, aber ich warne davor, dass es darauf reduziert wird.
Es gibt sehr viel mehr. Es geht um humanitäre Hilfe, es geht um finanzielle Wiederaufbauhilfe, es geht um Katastrophenschutz, es geht jetzt ganz eindeutig um eine Solidarität, wenn es um die große Frage geht, wie wird Getreide transportiert aus der Ukraine in viele, viele Länder, die dieses Getreide unbedingt brauchen – sonst wird dieser Krieg auch noch zunehmend ein Krieg, der mit dem Hunger spielt. Deswegen ja zu Rüstungsgütern, aber es ist deutlich mehr und es ist nicht zuletzt auch die Unterstützung des Kulturgutschutzes.
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