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Claudia Roth zur Türkei
"Eine unvorstellbare Entrechtung"

In der Türkei sei "eine Art ziviler Putsch in Richtung eines autokratischen Präsidialsystems" in Gange. "Man könnte es auch als Diktatur bezeichnen", sagte die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) im DLF. In dieser Lage müssten die Bundesregierung, die Europäische Union und auch die Nato klare Worte finden.

Claudia Roth im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth (Grüne), äußert sich am 30.05.2016 in Berlin zum Thema Rassismus.
    Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth (Grüne) (dpa)
    Die Grünen-Politikerin Claudia Roth nannte die Stellungnahme von Bundeskanzlerin Merkel zur Türkei, dass die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt sei, "eine Untertreibung der besonderen Art". Denn sie glaube, die "türkische - noch existierende Zeitung 'Cumhuriyet'" habe recht, wenn sie titele: "Alle Freiheiten außer Kraft gesetzt". Es gebe keine Gewaltenteilung mehr, die Pressefreiheit sei "hinter Gittern", die Säuberungswelle rolle, sagte die Bundestagsvizepräsidentin im DLF. "70.000 sind entlassen worden, 18.000 Festnahmen, 49.000 Pässe sind ungültig gemacht worden, Enteignungen jetzt von 3.000 Richtern und Staatsanwälten, Hexenjagd auf Akademiker, auf Kurden, auf Journalisten - soll ich weiter machen? Es gibt Rache, Vergeltung, es wird über die Todesstrafe spekuliert und die Berichte von Amnesty International über die Folter sind fürchterlich."
    "Europa muss eigene Flüchtlingspolitik aufbauen"
    Angesichts der Vorgänge sprach Roth von einer "dramatischen Entrechtung". In dieser Lage müssten die Bundesregierung, die Europäische Union und auch die Nato, die ebenfalls eine Wertegemeinschaft sei, klare Worte finden. "Die Bundesregierung muss jetzt endlich Klartext reden." Europa müsse eine eigene Flüchtlingspolitik aufbauen anstatt darauf zu warten, dass die Türkei die Flüchtlinge aufhalte. Roth kritisierte, dass demokratische Bewegungen in der Türkei in der Vergangenheit "sträflich marginalisiert" worden seien. Man müsse diese Gruppen zumindest treffen, sagte Roth mit Blick auf die Bundesregierung und die Europäische Union.
    Vor den Kölner Demonstrationen am Sonntag beklagte Roth "ganz klare Defizite in Sachen Integration" in der Vergangenheit. Sichtbar werde dies zum Beispiel, wenn aus der Türkei stammende deutsche Staatsbürger auf die Frage nach ihrem Präsidenten antworteten, Erdogan und nicht Gauck. Die Grünen-Politikerin fragte: "Warum haben wir die doppelte Staatsbürgerschaft nicht zugelassen?" Auch das Angebot einer privilegierten Partnerschaft an die Türkei mit der EU sei niemals ein Signal gewesen, die Mitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten erreichen zu können. Roth äußerte die Hoffnung, dass es in Köln keine Gewalt von keiner Seite geben werde. Sie zeigte sich erschrocken über das Ausmaß der Mobilisierung hierzulande.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die Lage in der Türkei bleibt verstörend. Journalisten werden festgenommen, öffentlich vorgeführt, anders kann man das nicht bezeichnen, es werden Menschen aus dem Staatsdienst entfernt, ihr Vermögen wird eingezogen, und das alles von Präsident Erdogan angeordnet. Demokratie in der Türkei? Außerordentlich schwierig! Über all das, was in der Türkei gerade passiert, wollen wir reden mit Claudia Roth von den Grünen, die ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Morgen, Frau Roth!
    Claudia Roth: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Frau Roth, die Kanzlerin – so hat sie am Donnerstag gesagt – ist besorgt, hat darauf hingewiesen, dass die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt sei, angesichts der Dinge, die sie aus der Türkei sieht und hört. Ist das die richtige Bewertung?
    Roth: Also, ich muss Ihnen sagen, ich finde diese Worte wirklich eine Untertreibung der besonderen Art. Denn ich glaube, dass die türkische noch existierende Zeitung "Cumhuriyet" ja recht hat, wenn sie titelt: "Alle Freiheiten außer Kraft gesetzt". Es gibt keine Gewaltenteilung mehr, die Pressefreiheit ist hinter Gittern, 42 Journalisten sind in Haft, die Säuberungswelle rollt, 70.000 sind entlassen worden, 18.000 Festnahmen, 49.000 Pässe sind ungültig gemacht worden, Enteignungen jetzt von 3.000 Richtern und Staatsanwälten, Hexenjagd auf Akademiker, auf Kurden, auf Journalisten. Soll ich weitermachen? Es gibt Rache, Vergeltung, es wird über die Todesstrafe spekuliert und die Berichte von Amnesty International über die Folter sind fürchterlich. Und davon dann zu sagen, man ist in Sorge, muss ich Ihnen sagen, glaube ich, reicht nicht aus. Ich glaube, die Kanzlerin, die Bundesregierung muss jetzt endlich mal Klartext reden. Das sind nicht überzogene Reaktionen auf einen Putschversuch, das ist auch nicht unverhältnismäßig, sondern da passiert in der Türkei eine Art ziviler Putsch in Richtung eines autokratischen Präsidialsystems, man könnte es auch Diktatur bezeichnen.
    Zurheide: Die Frage ist: Wie sollte, wie müsste man reagieren? Zum Beispiel die Europäische Union hat gerade jetzt 1,4 Milliarden an Hilfsgeldern zumindest freigegeben. Muss man das alles einstellen? Wie sehen Sie das?
    "Frau Merkel muss Klartext reden"
    Roth: Na ja, also, einfach erst mal klare Worte finden. Schauen Sie, was wir da erleben, ist eine dramatische, eine wirklich unvorstellbare Entrechtung des Rechts. Und wenn jetzt Herr Erdogan fast gnädig sagt, er zieht die Beleidigungsklagen zurück, weil, er will damit seinen guten Willen beweisen, dann muss ich Ihnen sagen, dann ist es zynisch. Denn die Justiz ist ja so überbelastet, dass sie sich mit so läppischen Beleidigungsklagen überhaupt nicht auseinandersetzen kann. Aber Frau Merkel muss Klartext reden, die Bundesregierung muss Klartext reden. Es steht übrigens immer noch aus, dass Bundestagsabgeordnete, der Verteidigungsausschuss auch die deutschen Soldaten dort besuchen kann. Die Türkei – das dürfen wir nicht vergessen – ist Mitglied in der NATO. Die NATO sagt immer von sich, sie sei ein Wertebündnis. Dann muss auch die NATO mal sagen: So geht es nicht! Man kann einen Putschversuch nicht mit absolut undemokratischen Mitteln, die mehr an Rache und Vergeltung erinnern als an Rechtsstaat, bekämpfen oder beantworten. Die Europäische Union muss sehr, sehr deutlich machen, dass man das, was in der Türkei jetzt passiert, überhaupt nicht akzeptieren kann und auch nicht akzeptieren will. Wenn man weiter diesen sanften Sprech fortsetzt, weil man hofft, dass das Flüchtlingsabkommen im eigenen Interesse die Geflüchteten von Europa fernhält, dann macht man sich erpressbar, man macht sich abhängig. Übrigens hat Erdogan ja wohl auch angedeutet, dass er die Soldaten von den Grenzen zurückziehen will, das heißt, der ganze …
    Zurheide: Das hat er schon getan, es kommen etwas mehr in diesen Tagen und möglicherweise ist das genau der Grund, warum viele dann so still sind.
    Roth: Ja, aber dann muss man doch mal sagen: Ja, liebe Leute, dann muss dieses Europa jetzt endlich, endlich zeigen, dass es in der Lage ist, eine eigenständige Flüchtlingsaufnahmepolitik zu betreiben, dass es in der Lage und willens ist, Menschen in Not aufzunehmen, das eigene Wertesystem nicht komplett kaputtgehen zu lassen, eine humanitäre, solidarische Flüchtlingspolitik zu beschreiben, anstatt sich auf Herrn Erdogan zu verlassen, was mit einem … ja, kann man gar nicht mehr sagen, mit einer demokratischen Vereinbarung ja nichts mehr zu tun hat.
    Zurheide: Auf der anderen Seite, die große Frage ist ja: Mit wem muss man da verhandeln. Also, Leute wie Can Dündar, den wir nachher um kurz nach acht hier auch in dieser Sendung haben, die weisen natürlich darauf hin: Die Brücken zum demokratischen Teil der Türkei, den es ja auch immer noch gibt, darf man nicht abbrechen lassen, und man wird – ob man es nun will oder nicht – auch mit Erdogan umgehen müssen, er ist im Moment an der Macht. Sie haben gesagt harte Worte, ja, aber was folgt sonst an Konsequenzen? Oder bleibt es dann bei den Worten? Ich will das nicht gering schätzen, aber trotzdem, Sie sehen … Sehen Sie dieses Dilemma?
    Roth: Ich glaube, eine einfache Antwort gibt es jetzt überhaupt nicht, denn ich finde zum Beispiel, dass die Reaktion von Kretschmann sehr gut war, denn Erdogan hat ja auch gesagt, Deutschland solle jetzt ausliefern, Deutschland solle ausliefern an die Türkei Menschen, die er für Unterstützer des Putschversuches hält. Und Kretschmann hat sehr klar gemacht: Nein, das wird nicht passieren, denn es gibt keine Hinweise darauf, dass beispielsweise in Baden-Württemberg Unterstützer des Putsches wären. Also eine klare Positionierung, klare Forderungen, was rechtsstaatliche Normen angeht. Und leider rächt sich das seit einem Jahr, seit man auf die Idee gekommen ist, mit Herrn Erdogan diesen Flüchtlingsdeal zu machen, dass man sozusagen die demokratische Türkei gar nicht mehr wahrgenommen hat offiziell. Can Dündar hat zu Recht einen Brief an Frau Merkel geschrieben, als er in Haft war, und hat gesagt: Warum kommt keine Unterstützung für die mutigen Journalisten und Journalistinnen in der Türkei, die jetzt entweder im Gefängnis sind oder entlassen sind und nur noch wenig überhaupt arbeiten können? Warum gibt es keine klaren Zeichen in Richtung Opposition? Denn die Türkei, auch bei allem, was jetzt passiert, ist ja nicht vergleichbar mit Putins Russland, wo ja 90 oder über 90 Prozent ihn unterstützen, sondern in der Türkei haben fast die Hälfte der Menschen nicht Herrn Erdogan gewählt. Da gibt es andere Parteien, die sträflichst marginalisiert worden sind von der internationalen Ebene. Also, die demokratische Türkei weiter unterstützen, und wenn man sie nur trifft, wenn man mit ihnen redet, wenn man die Einzelfälle nicht vergisst wie zum Beispiel Herrn Sahin Alpay, ein sehr renommierter Politikwissenschaftler und Kolumnist, 72 Jahre alt, oder Hilmi Yavuz, ein sehr berühmter Literat, 80 Jahre alt, die in Haft genommen worden sind und denen sogar die Medikamente verweigert werden? Also, darüber sprechen, Fälle ansprechen, klare Positionen einnehmen auch im Rahmen der Europäischen Union. Nur, wenn es so weitergeht und wenn tatsächlich – da hat Steinmeier ja recht, unser Außenminister –, wenn tatsächlich es zur Einführung der Todesstrafe in der Türkei kommen sollte, dann bricht Erdogan die Beziehungen zur Europäischen Union ab.
    Zurheide: Lassen Sie uns den Blickwinkel wechseln! Wir haben heute jetzt Demonstrationen beziehungsweise morgen in Köln zu erwarten, 30.000 Erdogan-Anhänger werden kommen, es werden möglicherweise auch Gegner kommen, die Kurden allerdings werden nicht demonstrieren. Was zeigt das eigentlich über die Gespaltenheit der türkischen Gemeinde bei uns in Deutschland? Wie besorgt sind Sie?
    "Bin über das Ausmaß der Mobilisierungsfähigkeit bei uns besorgt"
    Roth: Ich bin sehr besorgt und ich bin schon sehr lange sehr besorgt, dass die Konflikte in der Türkei oder die Gewalt in der Türkei nicht zuletzt, die wir erleben in dem Kampf gegen die Kurden und vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Städten, dass die sich auf uns in Deutschland auswirken. Seit Langem reden wir darüber, seit Langem warnen wir davor und sagen, es kann nicht sein, dass wir sozusagen eine Mobilisierung und eine Polarisierung und eine Spaltung, wie Erdogan sie ja in der Türkei vollzieht, indem er alle diejenigen, die nicht auf seiner Seite sind, zu Feinden erklärt, zu jenen, die eigentlich gar nicht dazugehören, seien es nun Aleviten, seien es Kurden, seien es Christen, seien es Oppositionelle, Feministen, Zivilgesellschaft, dass sich das in Deutschland fortsetzen wird. Und ich bin wirklich über das Ausmaß der Mobilisierungsfähigkeit bei uns ziemlich besorgt, das haben wir ja schon in den letzten Tagen und Wochen erlebt. Und ich hoffe, dass es morgen sehr ruhig bleibt, dass es keine Gewalt gibt, von keiner Seite aus. Das Demonstrationsrecht ist bei uns eine wichtige demokratische Errungenschaft, das muss gelten, aber eben nicht auf Lasten von Gewaltausübung. Und deswegen hoffe ich, dass es ruhig bleibt und dass wir deutlich machen, was Integration heißt. Ich glaube, da haben wir einige Fehler gemacht, sonst würde sich das anders darstellen.
    Zurheide: Ja, so, da wollte ich gerade, wenn ich Sie da unterbrechen darf, drauf hinkommen, was heißt das eigentlich für die Integration? Da ist doch irgendwas ganz falsch gelaufen, denn da gibt es offensichtlich mindestens einen erheblichen Teil der Gemeinde, die sagen: Mit Deutschland haben wir eher wenig zu tun, wir fühlen uns Erdogan zugehörig. Da ist Integration völlig danebengegangen!
    Roth: Ja, da muss ich sagen, da sind ganz große Defizite, die sich jetzt auftun, wenn Menschen, die seit Generationen hier leben oder die seit Jahrzehnten hier sind, die auch zum Teil deutsche Staatsbürger sind, die dann sagen, wenn man sie fragt, wer ist ihr Präsident, und ich natürlich glaube, sie sagen Joachim Gauck, dann aber die Antwort kommt Tayyip Erdogan, dann haben wir uns auch selber an die Nase zu fassen und zu fragen: Ja, haben wir nicht alles dafür getan, haben wir nicht wirklich dafür gesorgt, dass die Menschen Deutschland als ihre Heimat begreifen, wo sie dazugehören, wo sie gebraucht werden, wo man ihnen die Anerkennung nicht verweigert? Ich glaube, es sind Fehler gem…
    Zurheide: Waren Sie als Grüne da auch etwas zu naiv, weil Sie geglaubt haben, das funktioniert schon alles so?
    Roth: Nein, naiv würde ich nicht sagen, wir haben zum Beispiel gesagt, es braucht eine ganz andere Staatsbürgerschaft. Warum haben wir die doppelte Staatsbürgerschaft für türkische Staatsbürger nicht ermöglicht? Da haben sich viele gefragt und gesagt, warum müssen wir unsere Biografie zerschneiden, wenn wir auch Deutsche sein wollen? Oder andere Fragen, die wir leider nicht geklärt haben. Ich glaube auch, wir haben einen Riesenfehler gemacht, dass wir den Beitrittsprozess der Türkei in die Europäische Union wirklich nicht glaubwürdig gemacht haben, die sogenannte privilegierte Partnerschaft, die war nicht eine Einladung an die Türkei, gleichberechtigt in der Europäischen Union Mitglied werden zu können auf der Basis von Menschenrechten, von Bürgerrechten, von Rechtsstaatlichkeit. Man hat den Eindruck vermittelt, die passen nicht dazu. Es gibt ja auch in Deutschland, hat im Süden Deutschlands eine Partei, die immer gesagt hat, die Türkei per se nicht dazu. Und das wirkt sich natürlich ganz offensichtlich auch auf Mitbürger, die türkische Wurzeln haben, bei uns aus. Also, wir haben Fehler gemacht, das muss sich ändern, Heimat heißt: Du gehörst dazu, du wirst gebraucht. Und dann ist für die Menschen, die bei uns leben Joachim Gauck der Präsident und nicht Tayyip Erdogan.
    Zurheide: Claudia Roth war das von den Grünen, die wir in Fukushima erreicht haben. Ich bedanke mich für das Interview heute Morgen, danke schön, auf Wiederhören, Frau Roth!
    Roth: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.