So fangen Liebesromane an: Eine Frau am Fenster eines Hotelzimmers, sie schaut in den Himmel über Berlin, hinter ihr im Bett liegt der Mann, mit dem sie gerade geschlafen hat. Er hat sich von ihr eine Geschichte gewünscht, und während sie überlegt, welche das sein könnte, kommt die Erinnerung: an einen Kindheitsaugenblick in einer kleinen, einfachen Wohnung der "Neuen Heimat", irgendwo in Südwestdeutschland. Und unversehens beginnt eine andere Geschichte:
Nach dem Sex: Eine Geschichte über die Großmutter
"Wie gierig hatten Großmutter und Tante damals an diesem Vormittag nach dem Einkaufen in der Stadt die großen Wurstpakete aufgerissen und sich Scheiben von Kalbfleischwurst, Bierschinken oder Kochsalami in den Mund geschoben! So eine Art zu essen hat sie später nie wieder gesehen. (...)Die Jüngere von beiden war schon immer die Unverschämtere gewesen. Sie traute sich als junges Mädchen auch fort nach Berlin und wurde Krankenschwester. Die andere blieb im schlesischen Kohlerevier. Die Kecke in der Großstadt lernte in der Ausbildung, wie alle erdenklichen Haut- und Geschlechtskrankheiten aussehen, aber sie lernte auch, fünfundzwanzig Jahre vor Erfindung der Pille, wie sie mit Männern schlafen kann, ohne schwanger zu werden. Sie kann es tun, einfach so, weil sie es möchte."
Die Großmutter, die jüngere der beiden, Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Schwestern, von denen hier die Rede ist, heißt Ruth. In den Augen ihrer Enkelin Lotte, die die Geschichte erzählt, ist Ruth lange Zeit der Inbegriff einer selbstbewusst-vitalen, frechen und manchmal ordinären Frau gewesen, die sich grundsätzlich nimmt, was sie will. Die sich von der Armut ebenso wenig unterkriegen lässt wie von alten Rollenvorstellungen, weder im Berlin ihrer wilden Jugend noch später als verheiratete Frau und Mutter in der schwäbischen Provinz.
Eine Frau, die sich nahm, was sie wollte
In ihrem Debütroman "Engele" kriegt Claudia Tieschky nun das Kunststück hin, das Denkmal der Großmutter erzählend zu errichten – und es zugleich zu zerstören. Der Hebel, den sie dazu benutzt, ist die Titelfigur des Romans. "Engele" ist nicht etwa ein Kosename, sondern der Name von Lottes Großvater, Ruths Ehemann. Siegfried Engele, der begabte Musiker und aufstrebende Komponist, war die große Liebe der Großmutter und sollte ihre größte Enttäuschung werden.
Sein dunkles Geheimnis tritt erst spät zu Tage, nachdem der Krieg überstanden ist und der Wiederaufbau des Privatlebens geschafft scheint. Als Kinder da sind und ein Häuschen und eine respektable Stellung. Da muss der Musiklehrer Engele aus scheinbar heiterem Himmel für Jahre ins Gefängnis, weil herauskommt, dass er seine Schülerinnen sexuell belästigt hat. Und Ruth muss nun zusehen, wie sie sich mit den Kindern in den fünfziger Jahren allein durchschlägt, bei geringfügigen Einkünften und als Ehefrau eines in der Kleinstadt Geächteten. Ruth zieht weiterhin alle Register, beißt sich durch, aber als Siegfried aus der Haft entlassen wird und zurückkehrt, hat sie nur noch brachiale Verachtung für ihn übrig - und irgendwann auch für die ganze Welt.
Das dunkle Geheimnis des Großvaters
Die Leser erfahren all das aus der Perspektive der Enkelin, in Reminiszenzen an alte Fotos, schlaglichtartig imaginierten Szenen und eingeschobenen RÜckblicken. Claudia Tieschkys Erzählton ist ein unaufgeregtes, cooles, dabei farbenreiches und konzentriertes Parlando. In diesem Parlando entwickelt sich aus dem Lebensbild der Großmutter ein Familienporträt und schließlich ein Zeitbild. Naturgemäß wird die Atmosphäre der Autorinnen-Kindheit in den Siebzigern ungezwungener angespielt als Ruths Jugend und Erwachsenenjahre in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren. Aber auch da, wo es um die Jahrzehnte geht, die sie nicht kennt, beweist Tieschky einen guten Blick für vielsagende Details: Riemchenschuhe, gesmokte Taillen, Rasierwasser, Blicke...
Claudia Tieschkys Großmutter-Roman ist Teil einer derzeit zu beobachtenden Konjunktur dieses Genres. Aber die Großmutter ist in den aktuellen Neuerscheinungen nicht mehr die mild besonnte Gewährsfrau einer vermeintlich guten alten Zeit, sondern gar nicht selten eine charakterlich durchaus zweifelhafte Persönlichkeit. Autorinnen Mitte dreißig wie Laura Freudenthaler und Mareike Schneider schildern die Begegnung von betagter Großmutter und junger Enkelin als den Zusammenprall überkommener und gegenwärtiger weiblicher Welt- und Rollenbilder.
Schriftstellerinnen um die fünfzig wie Sandra Hoffmann, Nina Jäckle und eben Claudia Tieschky nehmen am Beispiel ihrer lang verstorbenen, nicht mehr zu befragenden Vorfahrinnen zudem eine Generation in den Blick, die als Erwachsene das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die Zeit der Trümmer und des "Wir sind wieder wer" durchlebt und mitgemacht hat, eine Generation, die über ihre Traumata später schwieg oder sie in Anekdoten verwandelte und so entschärfte.
Wie sehr taugen unsere Großmütter als Rollen-Vorbild ?
Diese Strategien, das nicht zu Bewältigende in Schach zu halten, lassen auch der erzählenden Enkelin in Claudia Tieschkys Roman "Engele" keine Ruhe. Die Großmutter mit ihrer wechselvollen Biografie, ihren Geheimnissen und sorgsam getarnten Schattenseiten wird zur Vergleichsgröße für den eigenen, scheinbar so freiheitlichen Lebensentwurf. Die Enkelin Lotte steht schließlich selbst an der Schwelle zum Alter – und stellt nach und nach fest, wie stark nicht nur ihre Kindheit, sondern ihr ganzes Leben von der Großmutter geprägt wurde.
Tieschkys spätes Debüt gewinnt seine manchmal irritierende, oft berührende Ambivalenz also nicht nur aus der Tatsache, dass die selbst erlebte Familiengeschichte zum Material wird. Die dauernde wechselseitige Durchdringung von Fakten und Fiktion bedeutet am Ende auch, die eigene Erinnerung in Frage zu stellen, die eigenen Standpunkte neu zu klären.
Während nämlich Tieschkys Hauptfigur Lotte dem Geliebten bei ihren immer inniger werdenden Treffen in Berliner Hotelzimmern von ihrer seit langem toten, aber weiterhin virulenten Großmutter erzählt, erfährt sie zu ihrer eigenen Überraschung nach und nach auch einiges über sich selbst, was sie trotz aller Abgeklärtheit noch nicht wusste. Wie Claudia Tieschky, Jahrgang 1968 und profilierte Medienredakteurin der Süddeutschen Zeitung, ist ihre Erzählerin eine Journalistin in München, dabei erfolgreich, mit spärlichem Privatleben. Jetzt fragt Lotte sich auf einmal, ob das unbedingte Pochen auf Unabhängigkeit, das die Großmutter ihr vorgelebt hat, wirklich das ist, wonach sie selbst sich sehnt:
"Sie geht in diesen Wochen oft laufen am Fluss. Sie versucht, sich über etwas klarzuwerden. (...) Das Wasser fließt grau neben ihr her in die gleiche Richtung. Sie ist allein, es fühlt sich vertraut an. Und doch ist es, seit Frieder da ist, nicht mehr so wie früher. - Den Verzicht, den Ruth gepredigt hat, hat die Enkelin gründlich gelernt. Kein Mann ist es wert, dass eine Frau sich abhängig macht. Sicher ist sicher. Aber es kommt ihr auf einmal absurd und dumm vor. - Eines Tages schließt sie da oben am Fluss einen Kompromiss mit sich: Ich versuche es. Du bist meine letzte Liebe, Frieder. Wenn sie endet, bin ich fertig damit."
So wird aus dem Generationenporträt am Ende der Roman einer Selbstfindung. Und, ja doch, eine Art Liebesroman. Das eine ist zart und schön, das andere entfaltet sich mit schmerzhafter Deutlichkeit. Claudia Tieschky hat dem neuerdings so beliebten Genre der Großmuttererzählung ein Debüt hinzugefügt, das sich sehen lassen kann.
Claudia Tieschky: "Engele"
Rowohlt Berlin, 208 Seiten, 20 Euro
Rowohlt Berlin, 208 Seiten, 20 Euro