"Die Reichsregierung und die Sowjetregierung sind übereingekommen, einen Nichtangriffspakt miteinander abzuschließen. Der Reichsminister des Äußeren von Ribbentrop begab sich auf dem Luftweg nach Moskau, um die Verhandlungen zum Abschluss zu bringen."
Die Wochenschau berichtete Ende August 1939 erstmals über den Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion und überraschte damit eine unvorbereitete deutsche Öffentlichkeit. Zwei Staaten, die sich bis dahin unter der Führung Hitlers und Stalins politisch bekämpft hatten, schlossen mit Datum vom 23. August ein zunächst auf zehn Jahre befristetes Abkommen:
"Die beiden Vertragsschließenden Teile verpflichten sich, sich jeden Gewaltakts, jeder aggressiven Handlung und jeden Angriffs gegen einander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten."
Fundierte Darstellung des Paktes und seiner Vorgeschichte
Die Historikerin Claudia Weber, die an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder Europäische Zeitgeschichte lehrt, untersucht in einer fundierten Darstellung nicht nur den Pakt selbst, sondern beleuchtet auch die Vorgeschichte:
"In den 1930er Jahren hielten Deutschland und die Sowjetunion – allen ideologischen Gegensätzen zum Trotz – an einer nicht immer konfliktfreien, aber stets beiderseitig vorteilhaften Zusammenarbeit fest. Die Beziehung hielt ungeachtet der sich verschärfenden politischen Spannungen nach 1933, weil vor allem der wirtschaftliche Nutzen überwog."
Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass Hitler ungeachtet des Nichtangriffspaktes an seinen Kriegsplänen gegen die Sowjetunion festhielt. Demgegenüber stand Stalins Absicht, einen Krieg mit Deutschland so lange wie möglich zu vermeiden. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war der Hitler-Stalin-Pakt Makulatur.
Kernstück der Darstellung sind die konkreten Formen der knapp zweijährigen deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit. Claudia Weber spricht von einer "mörderischen Allianz", denn zu dem Pakt gehörte ein geheimes Zusatzprotokoll. Darin heißt es unter anderem:
"Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen, kann endgültig erst im Laufe der weiteren Entwicklung geklärt werden."
Zusatzprotokoll mit weitreichenden Folgen
Das geheime Zusatzprotokoll wurde erstmals 1961 in der Bundesrepublik publiziert, seine Existenz jedoch in der Sowjetunion bis in die Tage Gorbatschows geleugnet. Manche Details der Zusammenarbeit liegen bis heute noch im Dunkeln, weil z.B. das Archiv des russischen Außenministeriums verschlossen ist.
Im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes handelte eine deutsch-sowjetische Militärkommission ein Zusatz-Abkommen aus, das u.a. die Demarkationslinie zwischen beiden Mächten festlegte und – nach dem raschen Siegeszug der Wehrmacht - den deutschen Rückzug aus den von den Sowjets beanspruchten polnischen Gebieten regelte.
"Am Tag der Unterzeichnung am 22. September 1939 organisierten die Wehrmacht und die Rote Armee jene berüchtigte Siegesparade in Brest-Litowsk, auf der ‚Panzergeneral‘ Heinz Guderian und Brigadekommandeur Semjon Kriwoschein die deutsch-sowjetische Waffenbrüderschaft für alle sichtbar besiegelten."
Was auf polnischem Boden folgte, waren Zwangsdeportationen, groß angelegte Umsiedlungen, Bevölkerungsverschiebungen und brutale Vernichtungsaktionen - auf beiden Seiten. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat dafür den Begriff der "bloodlands" geprägt. Im Rahmen einer zynisch "politische Flurbereinigung" genannten Operation brachten SS und Sicherheitspolizei bis zum Frühjahr 1940 über 30.000 Polen um. Im gleichen Zeitraum erschossen sowjetische NKWD-Einheiten rund 22.000 polnische Soldaten, Offiziere und Reservisten. Die als Massenerschießungen von Katyn bekannt gewordene Terroraktion führte der sowjetische Geheimdienst erst durch, nachdem er vergeblich versucht hatte, die polnischen Offiziere den deutschen Besatzern zu übergeben.
Juden besonders betroffen
Besonders tragische Opfer der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit waren Juden. Um dem Vernichtungsterror des NS-Regimes zu entkommen, wollten Hunderttausende in die Sowjetunion gelangen, legal oder illegal.
"Seit September spielten sich in den ostpolnischen Grenzstädten unerträgliche Szenen ab. Przemysl, Brest und auch das etwas entferntere Lemberg waren völlig überfüllt. Schätzungen des Auswärtigen Amtes zufolge hielten sich im Januar 1940 in Brest und Przemysl jeweils 35.000 Flüchtlinge auf. Wodurch sich die Einwohnerzahl der Städte zweitweise mehr als verdoppelte. Es war bekannt, dass die Heimatlosen bei eisigen Temperaturen in Hausfluren, Kriegsruinen oder sogar auf der Straße vegetierten. Um über die Grenze zu kommen, mussten Schlepper bezahlt werden."
In einzelnen Fällen starben Juden im Maschinengewehrfeuer deutscher und sowjetischer Besatzer.
Erstaunlich ist, dass Claudia Weber nicht auf die gravierenden Konsequenzen eingeht, die der Hitler-Stalin-Pakt für deutsche Kommunisten hatte. Sie waren vor dem NS-Regime in die Sowjetunion geflüchtet, viele von ihnen wurden aber nach dem August 1939 ausgewiesen oder direkt an die Gestapo ausgeliefert.
Mit "Der Pakt" legt Claudia Weber eine insgesamt überzeugende Darstellung der Auswirkungen des Hitler-Stalin-Paktes vor. Insbesondre schließt sie eine Lücke in der zeithistorischen Forschung über die verheerenden Folgen deutsch-sowjetischer Kooperation im geteilten Polen.
Claudia Weber: "Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz",
C.H. Beck Verlag, 276 Seiten, 26,95 Euro.
C.H. Beck Verlag, 276 Seiten, 26,95 Euro.