Sarah Kane war der Überzeugung, dass die großen Bühnen am Verblendungszusammenhang mitwebten, gegen den sie anschrieb und Theater machte. Das könnte auch erklären, warum das Royal National Theatre Sarah Kane trotz ihres überragenden Talents so lange ignorierte.
Die Premiere von "Cleansed" im Dorfman Theatre, der Werkstattbühne des National Theatres, ist die erste Inszenierung eines Stückes von Sarah Kane an diesem Theater, das als Flaggschiff der britischen Bühnen, ja der englischsprachigen Theater überhaupt gilt. Viele Kritiker versuchten anfangs, Sarah Kane als Skandalautorin abzutun. Mit der Entscheidung, "Gesäubert" im National Theatre zu spielen, wird dieses Urteil einmal mehr in Frage gestellt.
Vorsorglich warnt das Theater seine Besucher: "Dieses Stück enthält anstößige Worte und Bilder". Tatsächlich schockiert das Schauspiel schon in der ersten Szene:
"Tinker. - I’m cooking. – I want out."
Handlungsfelder zwischen Liebe und Grausamkeit
Graham will sich den goldenen Schuss setzen - und Tinker hilft ihm dabei. Die letzte Spritze setzt Tinker Graham in den Augenwinkel. Graham stirbt, ersteht aber im Lauf des Stücks wieder auf, zumindest in der Vorstellung seiner Schwester Grace. Graham und Grace beginnen ein inzestuöses Verhältnis und die beiden verwandeln sich wechselseitig ineinander: Dazu ist eine Geschlechtsumwandlung nötig, die Tinker vornimmt - aber Tinker ist kein Arzt. Seine "Operation" - in Anführungszeichen - ist ein blutiges Geschnipsel, eine schreckliche Kastration, ganz und gar nicht geeignet, die Hoffnung der Geschwister auf Erlösung zu erfüllen.
Sarah Kane spannt in zwanzig Szenen mit acht Figuren Handlungsfelder zwischen Liebe und Grausamkeit und spielt immer wieder auf Shakespeare an, sei es mit einer Pfählung wie bei "Edward II.", sei es mit einer Blendung wie in "König Lear".
Die Bilderfolge endet mit einem Monolog von Grace, der ins Lyrische ausgreift und vieldeutig bleibt:
Grace: "Pointless – Fucking pointless! Here!"
Inszenierung fehlt szenische Kühnheit
"Gesäubert" ist ein Stück, vor dem viele Theater zurückschrecken, mit gutem Grund. Sarah Kane fordert vom Regisseur Unmögliches. Er soll zeigen, wie Tinker einem seiner Opfer Hände und Füße abschlagen lässt und dann Ratten diese abgeschlagenen Füße des Gemarterten von der Bühne zerren. Katie Mitchell hat sich der Herausforderung gestellt, aber nicht immer überzeugende Lösungen gefunden. Die Folterszenen wirken eher unbeholfen als grauenerregend und die sexuellen Begegnungen erscheinen häufig puritanisch gehemmt, obwohl das Ensemble engagiert spielt. Am besten ist das Bühnenbild von Alex Eales gelungen: ein elender Hinterhof, die Farbe an den Hauswänden abgeplatzt, die Kacheln auf dem Boden zersprungen; hierhin fällt kein Sonnenlicht, drei kümmerliche Birken sind verdorrt – eine Seelenlandschaft des Elends. Diese Außenwelt beschreibt die Innenwelt der Figuren.
Auch wenn der Inszenierung häufig szenische Kühnheit fehlt, so ist doch der Kern von „Cleansed“ bewahrt. Katie Mitchell betont das Rätselhafte der Handlung: Alle sehnen sich nach Zuwendung, nach Liebe; wie kommt es, dass dennoch Gewalt und Grausamkeit die Oberhand gewinnen und behalten? Sarah Kanes Frage ist heute angesichts der Kriege und Krisen in Nahost und Afrika noch drängender als 1998, zur Zeit der Uraufführung von "Cleansed".