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Clemens J. Setz: "Der Trost runder Dinge"
Erst die Liebe, dann die Kreditkarte

Die Erzählungen des Grazer Schriftstellers Clemens Setz sind spannend, rätselhaft, voller überraschender Wendungen. Oft verlassen sie den sicheren Boden des vermeintlich Realen, gleiten in eine fremde, unheimliche Welt. Doch unter der dicken Schicht der Verstörung blitzt ein federleichter Humor.

Von Martin Krumbholz |
Buchcover: Clemens J. Setz: „Der Trost runder Dinge“
So viel Ambivalenz auf so knappem Raum – das macht dem Grazer Erzähler Clemens Setz so leicht niemand nach (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: imago / gezett (Montage: Deutschlandradio))
In der Karwoche schweigen in katholischen Gegenden die Glocken. Stattdessen kommen sogenannte Osterratschen zum Einsatz, die ein schnarrendes, knöchernes, etwas unheimliches Geräusch machen; sie gemahnen an den Tod Jesu und an die Sterblichkeit schlechthin. Bildlich gesprochen, erzeugen auch die Geschichten von Clemens Setz im Kopf des Lesers ein solches unheimliches Geräusch, auch wenn sie keinen metaphysischen Hintergrund haben. Die Osterratschen stammen aus dem Text "Die Katze wohnt im Laland’schen Himmel", der insofern aus dem Rahmen fällt, als es sich um einen dokumentarischen Text handelt: Er erzählt die Lebensgeschichte eines Psychiatriepatienten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand eines Albums mit Fotografien.
Kafka lässt grüßen
Der Protagonist heißt Bernhard Conradi, ein Maler. In dieser offensichtlich nicht oder zumindest nicht komplett erfundenen Geschichte finden sich Motive, die auch in den rein fiktionalen Texten von Setz dominieren: Rätselhafte Verwandlungen, surreal anmutende Entwicklungen, die den realistischen Rahmen sprengen wie bei Kafka, dessen Erzählung "Schakale und Araber" in der Psychiatriegeschichte zitiert wird. Einen sicheren Boden findet man hier nicht. Am besten beschrieben ist das Verfahren in eben dem Text über Conradi, als ein Bild mit dem Titel "Das Luftschiff-Speisezimmer" erwähnt wird: Auf einem reich gedeckten Tisch sind alle Speisen rot:

"Nur die in einer Art Schale liegende Banane besitzt einen gelben Strich in der Mitte. Einer der nicht seltenen Momente in Conradis bildnerischem Werk, in dem durch die dicke Eisschicht der Verstörung so etwas wie federleichter Humor blitzt."
Ein federleichter Humor unter einer Eisschicht der Verstörung – das ist die Formel, die nicht nur für Conradis bildnerisches Oeuvre, sondern auch für Clemens Setz‘ Poetik in seinen Erzählungen gilt, so unterschiedlich die Sujets auch sein mögen. Hinzu kommt der den Titel gebende "Trost runder Dinge", der mehrmals erwähnt wird:
"... der Anblick von Auberginen oder Tomaten, überhaupt runde Sachen, und überhaupt Obst, die meisten Sorten …"
Man zögert, ob man diesen angeblichen "Trost" ernstnehmen soll, ob nicht die ironische Konnotation der runden Dinge überwiegt – denn die beschriebene Welt ist überwiegend kalt, man denke an die "Eisschicht". Auch in den Texten, die sich primär durch ihre Komik auszeichnen, und die sind gar nicht so selten, lauert hinter dieser Komik die Kälte. So etwa in dem Text mit dem Titel "SPAM", der acht Seiten umfasst und komplett in einem bizarren Pseudo-Deutsch gehalten ist. Der Plot: Eine Frau, die sich Sarah Martingal nennt, erinnert den Adressaten ihrer Mail an eine angebliche, längst vergangene Liebesnacht und verlangt schließlich eine Alimentenzahlung beziehungsweise die Nummer einer Kreditkarte:
"Wenn Sie für ein Augenblick meine Aufmerksamkeit hallo dann ist Ihnen vielleicht getan damit innerhalb des Fegefeuers Aufschub von einigen Jahrhunderten-Skipahead – dies nur zu Scherz."
Oben Textfläche, unten der Abgrund
Die virtuose Übung, einen solchen Text zu erfinden, verblüfft zunächst; unter der amüsanten Oberfläche lauert jedoch das Vakuum oder die Aporie eines verfehlten Lebens – und sicher nicht nur die flotte Story einer gewieften Trickbetrügerin. Die existenzielle Not, die hinter den erzählten Lebensgeschichten steht, erschließt sich manchmal auf den ersten Blick, manchmal auch erst nach intensiver Lektüre. Zwei Beispiele:
Die Erzählung mit dem Titel "Zauberer" besitzt eine klassische Pointe – was längst nicht für jeden Text in diesem Band gilt, um herkömmliche "Short Stories" handelt es sich nämlich nicht. Erzählt wird im "Zauberer" von einer Frau, Mutter eines im Koma liegenden sechzehnjährigen Jungen. Die Frau nimmt die Dienste eines Gigolos in Anspruch, und lange Zeit meint man, es gehe ihr um einen besonderen erotischen Thrill, denn die Begegnung soll im Zimmer des kranken Jungen über die Bühne gehen.
"Er bekommt nichts mit", sagte Annamaria mit gedämpfter, aber noch deutlich wahrnehmbarer Stimme. Jürgen blieb stehen, schüttelte den Kopf. "Nein, das mach ich nicht", sagte er. "Es gibt schon, ich meine, klar, es gibt einige Typen, die das machen würden. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Nummer von einem geben (…)"
Am Ende steckt etwas anderes dahinter, als man vermutet. Die Geschichte ist mit äußerster Raffinesse komponiert, man denkt auch hier an die Eisschicht und den darunter liegenden, scheinbar deplatziert wirkenden "federleichten Humor".
Tod per Lichterkette
Ein zweites Beispiel. Die Erzählung mit dem Titel "Christkind" besitzt eigentlich keine Pointe, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Sie ist auch bei weitem nicht so verstörend wie "Zauberer" und doch berührt sie den Leser. Ein Arzt, alleinerziehender Vater zweier Töchter, soll an Heiligabend einem Nachbarn einen kleinen Gefallen tun. Er soll auf ein Signal hin eine in seinem Garten installierte Lichtquelle aktivieren, weil das kranke Kind des Nachbarn dieses Instrument für das Christkind hält. Die Geschichte erzählt dann aber weniger über den Nachbarn und dessen sonderbaren Einfälle, als über den Arzt und die innere Dynamik seiner durch einen Todesfall parzellierten Familie. Beziehungsweise eben auch über die Wechselwirkungen, die das Nachbarschaftsverhältnis auslöst. Erste Opfer sind die Hasen der Mädchen in ihrem Stall:

"Ein leichtes Glühen, ein kurzes Brummen, dann erstrahlte der Scheinwerfer. In dem operationssaalhellen Lichtschein hielten die Hasen entsetzt inne, ein überwältigtes, strafgeröntgtes Volk. Man sah ihre schwarzen Augen, ihre Nasen im Profil. Die unerwartete Illumination musste etwas Uraltes in ihnen berührt haben, denn (…) sie bewegten sich überhaupt nicht mehr, als wären alle irdischen Wege nun zu Ende."
Wie Clemens Setz an solchen buchstäblichen Reflexen komplizierte seelische Verhältnisse beleuchtet, ist schon meisterhaft. Die zunächst widerspenstige, fast störrische ältere Tochter übernimmt plötzlich die Initiative und zieht ihre kleine Schwester mit.
Mikro-Psychologie und Ambivalenz
Dr. Korleuthner schaute auf sein Handy. Keine neuen Nachrichten. Er dachte daran, dass dieses Tieferwachsene in Julianes Wesen bestimmt bald auch für andere Menschen sichtbar werden würde, in zunehmender Dichte und Intensität, dagegen gab es leider kein Mittel. Ja, es würde sich verstärken, würde Männer anziehen, ihnen Zukunft und Sicherheit vermitteln, es war entsetzlich.
So viel Raffinement, so viel Mikro-Psychologie und so viel Ambivalenz auf so knappem Raum – das macht dem Grazer Erzähler Clemens Setz so leicht niemand nach.
Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge
Suhrkamp, Berlin, 318 Seiten, 24 Euro.