Kohl und Mitterrand Hand in Hand vor den Massengräbern von Verdun: Das berühmte Schwarzweißfoto aus dem Jahr 1984 prägt die Geschichtserzählung von der deutsch-französischen Verständigung nach zwei mörderischen Weltkriegen. Es gibt freilich einen Erinnerungsort, der nicht so recht in dieses harmonisierende Historiengemälde passen will.
"Gucken Sie mal das Schloss an! …Stuck, Bastelei, Stilmischmasch, Türmchen, Kamine, Wasserspeier… kaum zu glauben! … ein Super-Hollywood! Alle Epochen – von der Eiszeit […] bis zu Wilhelm II. und Göring."
So beschrieb Louis-Ferdinand Céline, Wegbereiter der literarischen Moderne und zugleich rabiater Judenhasser, das Hohenzollernschloss in Sigmaringen. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs saß dort die mit Nazi-Deutschland kollaborierende Vichy-Regierung. Als die Alliierten nach der Landung in der Normandie immer weiter vordrangen, hatten die Deutschen den greisen Staatschef Pétain und Ministerpräsident Laval nach Sigmaringen am Rande der Schwäbischen Alb verfrachtet. Zu ihrer Entourage gehörten an die 2.000 Helfershelfer des NS-Besatzungsregimes, die allesamt die Rache ihrer Landsleute fürchteten. Unter ihnen auch der Schriftsteller Céline. Damit verknüpfte sich in dem Städtchen Sigmaringen die Geschichte der extremen Rechten Frankreichs mit den Visionen der Nationalsozialisten von einem großdeutsch dominierten, antisemitischen Europa zu einem finster-absurden Finale.
Die Kollaboration wurde aus dem Gedächtnis verbannt
Für den Historiker Clemens Klünemann ist die Sigmaringer Episode, die der höchst umstrittene Céline in seinem Roman "Von einem Schloss zum anderen" grotesk überformt hat, der Anlass, um nach Tabus und verdrängten Belastungen der Geschichte beider Länder zu forschen.
"Die deutsch-französische Kollaboration der 1940er Jahre wurde aus dem versöhnenden Gedächtnis der frühen 1960er Jahre ausgegrenzt, um diese Versöhnung nicht zu gefährden. So nobel dieses Motiv ist, so hoch war der Preis. Denn die schillernde Ideologie, welche die Kollaborateure beider Länder bewegt hatte, war mit dem Kriegsende nur verschwunden, keinesfalls jedoch überwunden."
Das zeigte sich im deutschen Falle nicht nur daran, dass intellektuelle Exponenten der Kollaboration wie der Publizist Friedrich Sieburg oder der Übersetzer und Verleger Gerhard Heller, Leiter der deutschen Zensur im besetzten Paris, in der Bundesrepublik wunderschöne Nachkriegskarrieren machen konnten. Ihre Arbeit für das NS-System verkauften sie als Mittlertätigkeit zwischen Deutschland und Frankreich.
FDP-Politiker blockierte Verfolgung von Kriegsverbrechen
Noch weit ärger waren die Machenschaften alter Seilschaften, deren Mitglieder als Diplomaten, Gestapo- oder SS-Leute in der Pariser Botschaft die Deportation von mehr als 70.000 Juden organisiert hatten – unter tatkräftiger Mithilfe französischer Behörden. Einer aus diesem Kreis war der prominente FDP-Politiker Ernst Achenbach, ehedem Gesandschaftsrat. 1951 schrieb er über seinen alten Chef aus Pariser Besatzungstagen:
"Kann man ernsthaft von deutsch-französischer Verständigung reden, wenn einer der überzeugtesten Vorkämpfer dieser Verständigung, Otto Abetz, der Botschafter des Reichs in Paris während der Kriegszeit, heute noch in Haft gehalten wird?"
Achenbach blockierte im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages bis in die Mitte der 1970er Jahre die Ratifizierung eines Vertrages, der der deutschen Justiz die Verfolgung von Kriegsverbrechern ermöglichte, die in Frankreich bereits in Abwesenheit verurteilt worden waren. Erst die Aktionen von Beate und Serge Klarsfeld machten diesem Skandal ein Ende.
Auch in Frankreich beschwieg man die beschämende Vergangenheit. Gepflegt wurde vor allem der Mythos der Résistance. Clemens Klünemann weist hier auf den Antisemitismus hin, der zum Bindemittel zwischen Besatzern und kollaborationsbereiten Franzosen wurde. Wobei gerade Intellektuelle aus pazifistischen Milieus, die in den 1930er Jahren für die deutsch-französische Verständigung geworben hatten, sich als anfällig erwiesen: An die Stelle des aus dem Geist der Germanophobie geborenen Figur des deutschen Erbfeindes trat der böse Jude, den man für alle Übel und allen Zwist dieser Erde verantwortlich machte. Der Historiker zitiert Charles Maurras, den ideologischen Kopf der faschistischen "Action Française", mit einer Morddrohung gegen den Sozialisten Léon Blum, der später unter dem Vichy-Regime ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt wurde:
"Das ist ein Mann zum Niederschießen, aber in den Rücken."
Der unter nordafrikanischen Einwanderern grassierende Antisemitismus soll nach Klünemanns Lesart seine Wurzeln auch in der NS-Politik haben, die während des Krieges den Großmufti von Jerusalem für ihre an Muslime gerichtete antijüdische Propaganda einspannte. An dieser Interpretation sind Zweifel angebracht. Wenn arabische Jugendliche aus den Vorstädten von Paris heute ihre jüdischen Nachbarn attackieren, dann hängt das wohl eher mit dem militanten Islamismus zusammen, der in der Schicht der marginalisierten Immigranten einen fanatischen Antizionismus schürt. Aber das nur am Rande: Mit seiner Studie über Sigmaringen hat Clemens Klünemann einen unterbelichteten Fleck der Geschichte beider Völker ausgeleuchtet. Wer Stoff zum Nachdenken über die tieferen Schichten der Beziehung von Deutschen und Franzosen sucht – jenseits der verbreiteten Klischees -, der wird hier bestens bedient.
Clemens Klünemann: "Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte",
Matthes & Seitz Berlin, 176 Seiten, 15 Euro.
Matthes & Seitz Berlin, 176 Seiten, 15 Euro.