Archiv

Clement zur Minderheitsregierung
"Für eine Übergangszeit mal gar nicht schlecht"

Deutschland verliere an Zukunft, Bildung und Forschung hätten bei der Sondierung so gut wie keine Rolle gespielt, CDU und SPD seien verkrustet, sagte der ehemalige SPD-Politiker Wolfgang Clement im Dlf. Mal mit offenen Mehrheiten ohne Fraktionszwang und neuen Gesichtern zu regieren, wäre genau das, was den Parteien fehle.

Wolfgang Clement im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD).
    "Eine Minderheitsregierung wäre herrlich", sagte der ehemalige SPD-Politiker Wolfgang Clement im Dlf. Doch das sei wahrscheinlich ein Traum, "der nicht wahr werden wird". (dpa/Marcel Kusch)
    Jürgen Zurheide: Der Bundespräsident sondiert, er ist so eine Art Geburtshelfer für eine neue Regierung. Das ist eine ungewohnte Position in Deutschland, wir kennen so was nicht. Vieles ist denkbar: Minderheitsregierung vielleicht, will die CDU offensichtlich nicht, obwohl so richtig laut hat es noch keiner von denen gesagt, gefragt werden sie auch weniger. Die SPD ringt mit sich, ob sie doch wieder in eine Große Koalition eintritt, da gibt es aber heftige Widerstände, wie wir wissen. Über all das wollen wir reden mit Wolfgang Clement, dem früheren Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, lange auch in der SPD, jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Clement!
    Wolfgang Clement: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Clement, ich will mal mit was ganz anderem anfangen: Die Ökonomen sehen schon Gefahren in Deutschland für die wirtschaftliche Entwicklung, wenn das so weitergeht mit diesem Attentismus, mit dieser unklaren Lage. Spielen die Ökonomen da Cassandra?
    "Kein Grund, hysterisch zu werden"
    Clement: Ja, das würde ich schon sagen. Also man kann es auch übertreiben. Man braucht für eine Regierungsbildung schon Zeit. Da gibt es sehr viele Beispiele aus anderen Ländern, die wir nicht erreichen wollen, aber wir sind noch lange nicht am Ende, und es wird eben über die Jahre., es wird sich jetzt hinziehen, bis eine Regierung steht, und da gibt es auch keinen Grund, finde ich, hysterisch zu werden, sondern es geht darum, dass eine bestmögliche, unter den obwaltenden Umständen bestmögliche Regierung zustande kommt, und das verlangt nach ein bisschen Zeit. Das wird man hinnehmen müssen.
    "Digitalisierung hat so gut wie keine Rolle gespielt"
    Zurheide: Was müsste denn, bevor wir gleich über die Regierungsbildung reden, eigentlich aus Ihrer Sicht auf der Agenda stehen, was müsste so eine Regierung angehen? Da wird im Moment, nach meiner Beobachtung, sehr wenig, vielleicht auch zu wenig drüber geredet.
    Clement: Am wenigsten wird in Berlin – das liegt auch ein bisschen an den unterschiedlichen Kompetenzen –, am wenigsten wird geredet über das wichtigste Thema, und das ist Bildung, Qualifizierung, Wissenschaft und Forschung, alles unter dem Thema Digitalisierung, und das ist, meines Erachtens, das Hauptthema. Das hat in den Sondierungsgesprächen über vier Wochen und mehr so gut wie keine Rolle gespielt, ist aber entscheidend, ist deshalb kompliziert, weil es nicht das ureigene Thema des Bundes ist, jedenfalls das Gros dieser Fragen, aber es muss jetzt gelöst werden. Wir sind hier in einer Situation, in der Deutschland, meines Erachtens, an Zukunft verliert. Wir sind heute noch die stärkste Wirtschaftsnation, aber das bleibt man natürlich nur, wenn man auch zu den stärksten Bildungsnationen gehört und Wissenschaftsnationen, und da sind wir weit davon entfernt.
    "Unser Bildungssystem der schwächste Punkt"
    Zurheide: Sie haben jetzt das Thema Gerechtigkeit gar nicht angesprochen. Gehört das nicht auch dazu angesichts von prekären Arbeitsverhältnissen – ich nenne das andere Stichwort Panama-Papers – und was da alles zugehören mag. Ist das für Sie nicht mehr wichtig?
    Clement: Aber das wichtigste Gerechtigkeitsthema ist das Bildungsthema. Ohne Bildung erreichen Sie keine Chancengerechtigkeit, und ohne Chancengerechtigkeit werden viele Menschen – das ist ja unsere Erfahrung – aus insbesondere den bildungsfernen, aus den sozial schwachen Schichten scheitern. Wenn es ein Gerechtigkeitsthema wirklich gibt, das auf den Nägeln brennt, dann ist es dieses. Natürlich müssen wir auch sehen, ob wir im internationalen Steuerrecht, im Wettbewerbsrecht nicht zu Korrekturen kommen müssen, das ist das Entscheidende, aber davon sind wir noch eine Elle entfernt, und mir liegt daran, dass wir erst einmal im Land für Ordnung sorgen, und da ist unser Bildungssystem der schwächste Punkt.
    "Bundespräsident wird nicht ruhen, bis eine Regierung steht"
    Zurheide: Kommen wir noch mal jetzt zu dem Verfahren: Der Bundespräsident, ich habe ihn gerade als so eine Art Heiratsvermittler bezeichnet, ist eine ungewohnte Situation. Haben Sie sich schon dran gewöhnt?
    Clement: Ich habe es jedenfalls erwartet. Dieser Bundespräsident, da bin ich sicher, wird nicht ruhen, bis eine Regierung steht und, wie es aussieht, bis eine sogenannte Große Koalition steht, denn die hat ja auch nicht viel mehr als 50 Prozent, aber er wird die Parteiführer noch x-mal, wenn es sein muss, ins Präsidialamt einladen, bis er sie weich hat und bis sie beim Ergebnis sind, nämlich einer neuen Regierungsbildung.
    "Lindner ist derjenige, der überhaupt noch Opposition deutlich gemacht hat"
    Zurheide: Kommen wir doch mal jetzt auf die einzelnen Parteien, bewerten wir die. Wie sehen Sie eigentlich den Rückzug der FDP? Ihr neuer Freund Christian Lindner, hatte der da Angst vor dem eigenen Erfolg oder "nichts tun ist Machtmissbrauch"? Sie kennen all die Sätze. Wie sehen Sie das?
    Clement: Es stand ja kein Erfolg an. Das war ja ein unerträgliches Gewürge, diese Verhandlungen. Man wundert sich ja, wie das angelegt war, dass man hier überhaupt 200 Punkte durchribbelt, bevor überhaupt auch nur irgendeine Koalition ernsthaft entschieden worden war, statt sich auf die wirklich wichtigen Fragen zu konzentrieren, und bei den wichtigen Fragen hat Herr Lindner und, meines Erachtens, aus der Sicht seiner FDP, so wie sie heute aufgestellt ist, eben nicht die Punkte erreicht, die man erreichen muss, um das verantworten zu können. Ich finde, er ist derjenige, der überhaupt noch Oppositionen deutlich gemacht hat hier, also eine alternative Position zu dem, was heute in Deutschland läuft. Dazu zählt übrigens auch die Bildungspolitik, da ist auch die FDP weiter als die anderen Parteien, und deshalb finde ich seine Reaktion verständlich.
    "Beide große Parteien werden weiter nach unten gehen"
    Zurheide: Und Ihre ehemalige Partei, die SPD, da sagen jetzt viele, wir müssen doch reingehen. Kann man sich in der Regierung erneuern, spannende Frage?
    Clement: Ich glaube nicht, und zwar weder die SPD noch die CDU. Man darf es nicht unterschätzen, auch die CDU ist ja in einer dramatischen Situation. Das wird jetzt noch ein bisschen durch die Kanzlerschaft von Frau Merkel überdeckt, aber beide großen Parteien sind permanent im Rückgang, im Rückzug, sie verlieren ununterbrochen, und beide haben bis heute nicht ein geringstes Anzeichen zu erkennen gegeben, dass sie sich ändern wollen. So wie sie heute arbeiten, werden sie beide weiter nach unten gehen, und das wird auch in einer Großen Koalition passieren. Das ist auch die Angst auf beiden Seiten, sonst wären sie ja längst zusammen, und diese Angst ist berechtigt, aber den Ausweg daraus hat keiner von ihnen gefunden bisher, und das wird man in einer Regierung natürlich auch nicht finden.
    "Das ganze System der beiden Parteien: verkrustet und veraltet"
    Zurheide: Wie sehen Sie denn eine mögliche Minderheitsregierung? Ändert die irgendwas an dem Setting?
    Clement: Das wäre herrlich, eine Minderheitsregierung. Das ist wahrscheinlich ein Traum, der nicht wahr werden wird. Für eine Übergangszeit wäre das mal gar nicht schlecht. Das heißt also, wir würden regieren mit offenen Mehrheiten ohne Fraktionszwang, mit offenen Reden, mit freien Reden, mit neuen Gesichtern, die mal ans Podium kämen. Also das ist ja eigentlich das, was uns und den Parteien fehlt. Der Grund, warum die beiden sogenannten großen Parteien in dem Zustand, in dem sie sind, ist ja, dass sie völlig verkrustet ist. Das ganze System dieser beiden Parteien ist verkrustet und veraltet und bedarf der Erneuerung, und deshalb kommt auch die Sehnsucht nach einem solchen offenen Verhältnis im Parlament, denn das würde ja eine Minderheitsregierung bedeuten, aber wie gesagt, der Horror davor wird die beiden Großen veranlassen, das nicht zu tun, und deshalb wird es beim Alten bleiben, aber die Alten werden immer schwächer.
    "Wir müssen zu Veränderung kommen"
    Zurheide: Wenn ich Sie da jetzt so reden höre, habe ich das Gefühl, Sie möchten noch mal mitmachen, aber ohne Partei oder wie muss ich mir das vorstellen?
    Clement: Nein, ich bin drüber weg, aber natürlich, ich beobachte mit einiger Leidenschaft, was passiert, und das, was passiert ist alles andere als überzeugend, und wir müssen zu Veränderung kommen. Ich habe ja keine Freude daran, wenn die SPD und die CDU in die Knie gehen und wenn es sonst keine Verständigung gibt und keine neue Politik, aber man muss natürlich so lange drängen, um diese Veränderung zu erreichen. Im Moment bin ich da sehr skeptisch.
    Zurheide: Wolfgang Clement war das, der frühere Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und Bundeswirtschaftsminister, hier bei uns im Deutschlandfunk. Herr Clement, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Clement: Danke sehr! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) In einer vorigen Form hatten wir irrtümlich vom SPD-Politiker Clement gesprochen. Dieser war 2008 aus der Partei ausgetreten.