Zwei Fünftel aller Arzneimittel gehen in Tablettenform über die Ladentheke. Weil der Wirkstoff in den Pillen über die Verdauung ins Blut gelangt, ist seine Dosierung allerdings knifflig. Um Abhilfe zu schaffen, präsentierten Forscher des Medizintechnikkonzerns Philips in Eindhoven 2009 die IPill: Eine elektronische Tablette, die mithilfe eines Säuresensors spürt, wo im Darm sie sich gerade befindet.
"Die IPill kann so programmiert werden, dass sie ihren Wirkstoff an einer bestimmten Stelle des Verdauungstraktes freisetzt. Sie ist so groß wie eine Vitamintablette und besteht zu zwei Dritteln aus Elektronik, die die Arznei am richtigen Ort ins Freie pumpt."
Mit diesen Worten erklärte Pressesprecher Steve Klink 2009 die Vorzüge der intelligenten Pille. Seit 2011 wird sie unter dem Namen IntelliCap vermarktet, und zwar von der eigens gegründeten Firma Medimetrics. Aktuelle Verkaufszahlen will deren Chief Technical Officer Jeff Shimizu zwar nicht verraten, einige hundert bis tausend seien es aber schon gewesen, sagt er:
"Unsere Kunden kommen aus der Pharmaindustrie, wo man gerade das Potenzial dieser Technologie auslotet. Die erste vielversprechende Anwendung ist der Einsatz bei der Entwicklung von Medikamenten. Die Pharmafirmen haben Wirkstoffkandidaten, über die sie gern mehr wüssten. Und wir sind in der Lage, definierte Mengen eines Wirkstoffes ganz gezielt an ganz bestimmten Stellen im Darm freizusetzen. Dadurch erhalten die Entwickler wertvolle Informationen, die ihnen helfen, eine Menge Zeit und Geld zu sparen und die Entwicklung neuer Arzneimittel zu beschleunigen."
Funksignal setzt Wirkstoff frei
Mit ihrem pH-Messfühler registriert die Plastikkapsel genau, wann sie vom Magen in den Dünndarm wandert und wann von dort in den Dickdarm. Dank Funkverbindung während der Passage genügt ein Knopfdruck, um eine definierte Wirkstoffmenge aus dem Medikamentenreservoir freizusetzen.
Tierversuche und klinische Studien belegen: IntelliCap liefert den Pillen-Entwicklern tatsächlich hilfreiche Daten, an die sie bislang kaum oder bei Weitem nicht so einfach heran kamen. Das bestätigt auch Dr. Dieter Becker von der Freiburger Firma Vivo Drug Delivery. Für den Pharmariesen Novartis hat er IntelliCap jahrelang getestet - erst mit Hunden, dann am Menschen. In einer im Juli 2014 veröffentlichten Studie kamen er und seine Kollegen zu dem Schluss, dass die Technologie zuverlässig verrät, wo im Verdauungstrakt das Herzmittel Diltiazem ins Blut gelangt.
Clevere Pillen für individuelle Therapie
Jeff Shimizu von Medimetrics reichen solche Einsichten aber nicht. Neben Pharmaforschern hat er eine zweite, viel größere Zielgruppe im Visier: Patienten. Zum Beispiel solche mit chronischen Darmentzündungen, deren medikamentöse Therapie sich mit IntelliCap individualisieren ließe.
"Bei chronischen Darmentzündungen sitzt der Herd bei jedem Patienten anderswo und die Stärke der Erkrankung ändert sich mit der Zeit. Wenn man diese Parameter durch andere diagnostische Verfahren in Erfahrung gebracht hat, kann man Ort und Dosis der Medikamentengabe entsprechend anpassen."
Für den Patienten heißt das: Die Arznei wirkt effektiver, kann deshalb niedriger dosiert werden und zeigt weniger Nebenwirkungen. Noch ist es allerdings nicht soweit. Bislang ist IntelliCap nur zu Forschungszwecken zugelassen. Und bevor die cleveren Pillen in Apotheken über den Tresen gehen könnten, müssten sie für jeden Wirkstoff einzeln zugelassen werden.
Anreize dafür gibt es zwar, weil sich Pharmafirmen ältere Wirkstoffe in Kombination mit der elektronischen Tablette erneut patentrechtlich schützen lassen könnten. Für den Massenmarkt taugen die funkenden Kapseln aber nur, wenn es gelingt, ihre Komplexität zu reduzieren - und damit die Herstellungskosten. Die neueste Variante von IntelliCap ist deshalb schon etwas simpler aufgebaut. Shimizu:
"Die neue Kapsel hat ein größeres Reservoir, das neben Flüssigkeiten jetzt auch Pulver oder feste Stoffe aufnehmen kann - eine Anforderung, die vielfach an uns heran getragen wurde. Diese Medikamentenfracht wird dann auf einen Schlag an der gewünschten Stelle freigesetzt."
Konkurrenz aus den USA
Im November 2014 erhielt das "intelligente orale Medikamentengabesystem" einen europäischen Innovationspreis. Analysten schätzen, dass der Markt für elektronische Pillen bis 2017 weltweit auf knapp eine Milliarde Dollar anwachsen könnte. Auch die kalifornische Firma Proteus setzt daher auf digitale Pillen.
Proteus vermarktet sandkorngroße Chips, die in gängige Tabletten eingebaut werden. Als Reaktion auf die Verdauungssäfte im Magen produzieren sie ein schwaches Funksignal, das ein Pflaster auf der Haut des Patienten an sein Smartphone weiter leitet. Auf diese Weise können Ärzte oder Verwandte überwachen, ob etwa ältere oder vergessliche Menschen ihre Tabletten tatsächlich einnehmen. Unter welchen Umständen diese Form der digitalen Überwachung wirklich wünschenswert sein kann, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Da die Technologie von Proteus deutlich simpler ist und nur verrät, ob eine Tablette geschluckt wurde oder nicht, reagiert Jeff Shimizu gelassen auf die Konkurrenz aus den USA. Er ist überzeugt, dass gerade eine neue Ära der digitalen Medizin anbricht:
"Clevere Pillen, die Pharmazie und Elektronik kombinieren, werden Behandlungsoptionen eröffnen, die heute undenkbar sind. Zunächst werden die digitalen Tabletten wohl nur Nischenmärkte erobern. Doch sobald klar wird, was damit möglich ist, wird es zahlreiche Anwendungen geben, die gerade auch mit Hinblick auf ein immer vernetzteres Gesundheitswesen wichtig werden dürften."