Roger Willemsen selbst machte 2015 seine Krebserkrankung publik. Willemsen war im deutschsprachigen Raum als Publizist und Rundfunk-Moderator bekannt, entsprechend groß war das öffentliche Interesse. Viele Redaktionen berichteten über die Neuigkeit, die meisten angemessen, mal sachlich, mal persönlich betroffen.
Auch die Programmzeitschrift "TV Movie" veröffentlichte einen entsprechenden Artikel – und bewarb ihn auf Facebook mit einem Post, der Bilder von Willemsen, Joko Winterscheidt, Stefan Raab und Günther Jauch zeigte. Dazu stellte die Zeitschrift den Satz "Einer dieser TV-Moderatoren muss sich wegen Krebserkrankung zurückziehen".
Die Empörung darüber war groß, diese Form von Clickbaiting sei unangemessen und geschmacklos, so das allgemeine Urteil. Kurz danach löschte die Redaktion den Post und bat um Entschuldigung.
Richtungsweisendes Urteil erwartet
Gut fünf Jahre später ist der Fall erneut Thema. Denn Günther Jauch hatte die im Bauer-Verlag erscheinende "TV Movie" verklagt. Der TV-Moderator sah wegen des Postings seine Rechte verletzt und forderte Schadensersatz. Die Begründung: Normalerweise hätte die Redaktion für die Werbung mit dem Moderator eine Lizenz erwerben müssen.
Nachdem ihm bereits zwei Instanzen – Landgericht und Oberlandesgericht in Köln – Recht gegeben und 20.000 Euro zugesprochen haben, setzt sich nun der Bundesgerichtshof (BGH) mit dem Fall auseinander. Parallel verhandeln die Karlsruher Richter eine Klage von Sascha Hehn gegen "Bild am Sonntag", die ungefragt mit einem Bild des Schauspielers geworben hatte.
Die Entscheidungen des obersten deutschen Gerichts in Zivil- und Strafverfahren gelten als richtungsweisend für die Frage, wie weit Clickbaiting gehen darf.
Software, die Clickbaiting "spoilern" kann
Für Martin Potthast steht eines außer Frage: Dass es sich in beiden Fällen um Clickbaiting handelt. Der Informatikprofessor von der Universität Leipzig befasst sich seit Jahren beruflich mit dem Thema. Seine Forschung ist unter anderem Grundlage für Software, die erkennen kann, ob Clickbaiting - also mehr Schein als Sein - vorliegt oder nicht.
Aktuell arbeitet er an einem Programm, das noch einen Schritt weitergehen soll: Der Wissenschaftler will Inhalte "spoilern", wie er es gegenüber dem Deutschlandfunk nennt.
Inhalte sollen digital erfasst und von der Software in wenigen Sätzen wiedergegeben werden. Userinnen und User könnten dann entscheiden, ob sie einen Artikel oder ein Video anklicken wollen. "Denn Clickbaiting funktioniert ja – und wird eingesetzt, weil es funktioniert", betont Potthast.
Auch anerkannte Medien clickbaiten
Und nicht nur unseriöse Medien würden auf diese Technik zurückgreifen. Seine Forschung und die seiner Kollegen in der Vergangenheit habe gezeigt, dass unter den am häufigsten retweeteten Medienmarken auf Twitter beispielsweise "eine ganze Reihe von Rang und Namen" sind.
Immer wieder werden Redaktionen dafür auch vom Presserat gerügt, so wie jüngst "DerWesten.de" für "massives Clickbaiting".
Aktuell untersucht Potthast gemeinsam mit Forschern aus Israel und seinem Institutskollegen Mario Haim, wie sich Clickbaiting in den Medien derzeit entwickelt.
Dem Publikum "Reflektionsfähigkeit zusprechen"
Mario Haim ist in Leipzig Juniorprofessor für Datenjournalismus. Er sagte im Deutschlandfunk, grundsätzlich hätten alle Medien Interesse daran, Menschen in ihre Texte "reinzukriegen". Negativ werde es dann, "wenn es in eine spekulative Richtung geht, wenn etwas nicht eingelöst wird".
Diese negative Seite sei eher bei den "Medien zu finden, die auf Werbeeinnahmen angewiesen sind" und "den Medien, wo der normative Standard nicht so hoch hängt". Hierzu zählten zum Teil auch Boulevardmedien. Clickbaiting könne dann auch dem Ansehen der Presse schaden, so wie vom Presserat festgestellt, so Haim.
Andererseits könne man "den Leserinnen und Lesern aber auch Reflektionsfähigkeit zusprechen". Das Publikum sei imstande, Fehltritte einzelner nicht zu verallgemeinern und auf alle Medien umzulegen.