Archiv


Colin Thubron: Sibirien: Schlafende Erde - Erwachendes Land

Ewig stapft ein Mann in Ketten über die Eisfelder. Weiter weg zieht vielleicht eine Rentierherde vorbei, oder ein Jäger gibt einen dunklen Punkt im Schnee. Aber das ist alles. Sibirien: Es nimmt ein Zwölftel der Landmasse der Erde ein, doch wenn man daran zurückdenkt, drängt sich einem immer wieder dasselbe auf. Eine karge Schönheit und eine unauslöschliche Furcht. Draußen vor meinem Fenster brechen die Palisadenwände der Nadelbäume und Birken gelegentlich auf und geben den Blick auf verschlafene Dörfer und Kleinstädte an veralgten Teichen frei. Die sommerlichen Bahndämme sind mit Blumen bunt lasiert. Zu beiden Seiten klicken die Lichtungen an und aus wie Dias: Holzhäuser und von Lattenzäunen eingefasste Gemüsebeete und im Gras schlafende Kühe. Der Abend kommt plötzlich, als ob dies auch die Grenze zwischen Licht und Dunkelheit wäre. Bis Sibirien sind es nur noch wenige Kilometer. Das löst ein Alarmkribbeln aus. Ich rolle aus dem europäischen Russland hinüber in eine Region, die mir mehr in der Vorstellungswelt als auf dem Erdball angesiedelt zu sein scheint, und noch in diesem letzten Moment fühlt sich alles, was vor mir liegt, die geographischen und zeitlichen Extreme, ein wenig übersteigert an, zu kalt oder zu riesig, um richtig wirklich zu sein. Es baut sich in der Dunkelheit als die äußerste Fremde auf, nicht mehr von dieser Welt. Der Ort, von dem du nicht wiederkehrst.

15.07.2002
    Annäherung an Sibirien - Annäherung an ein Stück Russland, das weltpolitisch so gut wie nie Schlagzeilen macht und doch immense Bedeutung hat für Russland und den Rest der Welt. Colin Thubron hat ein faszinierendes Buch über Sibirien geschrieben, dessen deutsche Ausgabe im vergangenen Jahr im Verlag Klett-Cotta in Stuttgart erschienen ist: "Sibirien: Schlafende Erde - Erwachendes Land". Es besticht vor allem durch Stil und Sprache - und hebt sich damit positiv ab von der Mehrzahl journalistischer Schnellschüsse über ferne Weltgegenden. Thubrons Werk verdient es, eingereiht zu werden in die große Sibirien-Literatur.