Tanja Runow: Dekonstruktion in Wort und Ton, das ist das Metier von Carsten Schneider – Sammler, Dichter und bildender Künstler – und so hieß auch die Ausstellung kürzlich beim Berliner Poesiefestival, die ihm gewidmet war. Seine Texte, Bilder, Hörstücke entstehen aus zerhäckselten Radioprogrammen und Zeitungsfragmenten, die im Berliner Atelier in rauen Mengen verklebt und verblendet werden – berichten Leute, die schon mal da waren. "Die S-Laute eines Tages", "Die Atmer eines Tages" oder "Die Gefahren eines Jahres" heißen Arbeiten, die dabei herauskommen – in diesem Fall Hörstücke. Das letztgenannte, "Die Gefahren eines Jahres", hat gerade einen der beiden Preise gewonnen beim internationalen Wettbewerb des Leipziger Hörspielsommers, der gestern abend zu Ende gegangen ist. Guten Tag, Carsten Schneider.
Carsten Schneider: Recht schönen guten Tag.
Runow: Herzlichen Glückwunsch auch erst mal!
Schneider: Danke schön!
Runow: Haben Sie gefeiert gestern?
Schneider: Ich saß hauptsächlich im Zug danach, aber es ging mir gut, ja. Danke.
"Die Gefahr wurde ein bisschen nach hinten gerückt"
Runow: Für Ihr gestern in Leipzig ausgezeichnetes Stück haben Sie Verkehrsmeldungen des Deutschlandfunks ausgewertet. Genauer: Die Gefahrenmeldungen aus einem ganzen Jahr.
Schneider: Ja.
Runow: Ganz praktisch – wie macht man das? Ruft man da beim Archiv an und sagt: Ich hätte gern mal alle Verkehrsmeldungen von 2016? Das sind ja so an die 30 Stück, die da am Tag laufen, oder?
Schneider: Ja, das wäre schön, wenn das durch so einen Anruf gegangen wäre – ich hatte begonnen seinerzeit schon 2009 und …
Runow: … das ist lange her!
Schneider: Ja, das ist lange her. Und als ich dann im Juni etwa angekommen war, da brach ein großes Gewitter herein und zerstörte mir das Netzteil vom Computer. Und dann musste ich noch mal warten bis zum Anfang des Jahres 2010. Ich konnte das ganze Jahr aufnehmen, das waren dann so 26 oder 30 Festplatten, die ich da stehen hatte. 70 000 Meldungen etwa, die ich da aufgenommen habe dann, in dem Jahr. Und es war auch gut, dass es das Jahr 2010 war, denn: Kurz danach wurde die Sprachregelung, sage ich mal, geändert im Deutschlandfunk – und es hieß dann nicht mehr "Gefahr durch ein liegen gebliebenes Fahrzeug", sondern da hieß es dann nur noch "da steht ein liegen gebliebenes Fahrzeug" oder "da liegt ein liegen gebliebenes Fahrzeug".
Runow: Das ist schade - da wird einem die Bedrohung gar nicht mehr so richtig bewusst.
Schneider: Ja, genau. Die Gefahr wurde so ein bisschen nach hinten gerückt.
Runow: Einige dieser Gefahrenmeldungen, die damals noch so hießen, die tauchen im Stück wieder auf – alphabetisch sortiert, von A über E, wie Ente, bis Z. Es hat dann auch eine Weile gedauert, bis das Stück fertig war, das haben Sie schon erwähnt. Wollen wir mal reinhören in die Gefahren eines Jahres, was draus geworden ist?
Schneider: Ja, sehr, sehr gerne.
"Zwischen Klinga und Mutzschen haben sich aufgrund von Eisglätte bereits mehrere Unfälle ereignet … Zwischen Rastplatz Entenfang und Kreuz Breitscheidt … läuft eine Entenfamilie über die Fahrbahn … läuft eine Entenfamilie auf der Fahrbahn … eine Entenfamilie … Gefahr durch eine Entenfamilie … Gefahr durch eine Entenfamilie … Gefahr durch mehrere Enten auf der Fahrbahn."
Runow: Also Enten scheinen ein ganz großes Problem zu sein auf deutschen Autobahnen. Vor allem Entenfamilien.
Schneider: Ja, große Gefahr.
Runow: Aber auch Lamas, Regenschirme, Badewannen, Schlauchboote. Wie viel davon ist erfunden?
Schneider: Erfunden ist gar nichts, nein. Das ist alles echt. Das ist original so, wie es gekommen ist. Ich habe mich sehr gefreut, über die großen und kleinen Gefahren – besonders die kleinen haben es mir angetan. Da war zum Beispiel mal eine Gefahr durch eine Radkappe. Also, wenn man sich das vorstellt: Eine klitzekleine Radkappe liegt auf der Straße und bildet eine große Gefahr für alle LKWs und so weiter. Das fand ich schon possierlich, wie so eine kleine Radkappe dann die ganze Nation in Aufruhr bringen kann.
Reminiszenzen und Schneide-Pragmatismus
Runow: Und ich nehme an, Sie haben uns, den Deutschlandfunk, ausgewählt, wegen unserer Seriosität?
Schneider: Ja, natürlich. Aber auch nicht nur deshalb, sondern Sie sind eigentlich der Sender, den ich, ja, eigentlich nur höre.
Runow: Das wollen wir natürlich auch hören. Aber es weist wahrscheinlich auch niemand so pflichtbewusst auf die Gefahren des Alltags hin sonst.
Schneider: Ja, wahrscheinlich nicht. Es gibt ja auch viele Sender, die unterlegen das mit Musik und so weiter. Das wäre für mich dann fürchterlich zum Schneiden, das ginge gar nicht dann.
Runow: Für einen Collagen-Künstler ein Grauen.
Schneider: Ja, allerdings, allerdings.
Runow: Bedienen Sie sich denn immer aus denselben Quellen für Ihre Arbeit? Sie zerschnipseln ja auch Zeitungen, zum Beispiel. Sind das immer dieselben Zeitungen und Hörfunkprogramme?
Schneider: Ich habe mich da so ein bisschen eingeschossen auf den Berliner "Tagesspiegel" und "Die Welt" – die Berliner Ausgabe. Und als Drittes dann noch die "Schleswig-Holsteinische Landeszeitung".
Runow: Und warum die drei?
Schneider: Na, bei der "Landeszeitung2, da ist es so, das ist eine kleine Reminiszenz an meine Heimat, würde ich mal sagen. "Die Welt" ist fantastisch für Farben. Da gibt es diese ganzseitigen Anzeigen, die in wunderschönen, guten Farben gedruckt sind. Und da mache ich die meisten Farbbilder draus. Und aus dem Tagesspiegel mache ich die meisten Wortbilder draus, denn da gibt es über und unter den Unterschriften oftmals noch so kleine Striche – sehr gute Haltekanten, sage ich mal – und auch rechts und links von den Überschriften gibt es die noch, so kleine Striche. Und die kann ich wunderbar benutzen. Die geben dem Ganzen einen gewissen Halt.
"Ich müsste an die 140 Jahre alt werden"
Runow: Sammeln Sie diese Texte und Audioschnipsel immer auf konkrete Arbeiten hin oder legen Sie Archive an, aus denen Sie sich dann bedienen?
Schneider: Es gibt bei den Zeitungen etwa 100, 150 Kartons. Und die haben einzelne Überschriften. Ich sammle zum Beispiel alle Ängste, oder alles, wo in der Überschrift das Wort "Mensch" vorkommt, naja. Also hunderte – tausende wäre jetzt zu übertrieben – aber es sind mittlerweile abertausende von Schnipseln in großen, großen Kartons. Die klebe ich dann noch auf 1,4 Millimeter dicke Pappe. Ja, und so harren die dann ihrer Verwirklichung. Aber ich weiß selbst – ich habe es mal ausgerechnet – um alles zu kleben, was ich da so liegen habe, müsste ich so an die 100, 140 Jahre alt werden. Ich versuche es …
Runow: … ich würde es Ihnen ja wünschen!
Schneider: Ja, ich fände es auch gut, aber mal gucken.
Runow: Arbeiten Sie jeden Tag daran?
Schneider: Ja. Ja, ja, natürlich.
"Bei der Sterbebegleitung richte ich mich nach anderen Leuten"
Runow: Ich habe gelesen, dass Sie sich neben Ihrer künstlerischen Tätigkeit ehrenamtlich als Sterbebegleiter engagieren.
Schneider: Oh, ja, ja.
Runow: Ergänzt sich das gut?
Schneider: Ergänzt sich sehr gut! Es ist ja auf eine Art extrem. Und die Kunst ist es auch bei mir. Ich bin also von der Kunst immer sehr, sehr eingenommen und entziehe mich geraden Linien. Da gebe ich mir selbst die Gesetze vor und alles, was ich mache, bestimme ja ich selber. Und bei der Sterbebegleitung bestimmt das jemand anders, was geschieht. Da richte ich mich also komplett nach anderen Leuten. Und so kann das Gehirn sich mal ausruhen dann, habe ich einen guten Gegenpol und kann dann gut auf die Erde zurückkehren, sage ich mal.
Runow: Und es gibt ja so eine Art Transzendenz in Ihren Bildern – Sie überführen ja diese Schnipsel aus einer relativ ordinären Umwelt in ein neues Leben, sozusagen.
Schneider: Das ist richtig, ja, das ist richtig. Ich orientiere mich sehr an so sakralen Vorgängern, baue viele Altäre und ähnliches, also Klapp-Altäre, Steh-Altäre. Und viele Kreuzbilder mache ich auch damit. Die sind dann hauptsächlich aus Farben gestaltet, nicht so sehr aus Buchstaben.
Wir haben noch länger mit Carsten Schneider gesprochen -
Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
Runow: Da sind Sie thematisch dann auch schon am Thema sozusagen.
Schneider: Ja, sozusagen, ja genau. Das entspricht sich dann auch auf eine Art wieder sehr gut, ja.
"Das wichtigste ist, dass sie da sind"
Runow: Und wie ist es mit – es gibt jetzt nicht so viel, was veröffentlicht ist, da haben wir drüber gesprochen – ist Ihnen das gar nicht wichtig? Ist Ihnen das kein Anliegen, Ihre Arbeiten zu zeigen, hörbar zu machen?
Schneider: Na ja, das wichtigste ist ja erst mal, dass sie da sind. Das ist für mich der Hauptpunkt. Und wenn es dann fertig ist, ein Werk, dann kümmere ich mich meistens eigentlich schon um das nächste.
Runow: Das heißt, Sie kommen einfach nicht dazu?
Schneider: Könnte man so nennen, ja. Ja, ja. Vielleicht klingt es ein bisschen kokett, aber ja. Es ist doch so, ja.
Runow: Dann wünsche ich Ihnen weiterhin alles Gute und gutes Gelingen! Und bin neugierig, ob wir vielleicht doch bald noch mehr von Ihnen sehen, erleben können – es würde mich freuen!
Schneider: Ja – Sie können ja gerne was senden davon!
Runow: Gut! Das hören jetzt bestimmt Leute, die das aufnehmen könnten, diese Anregung.
Schneider: Na wunderbar!
Runow: Der Künstler Carsten Schneider war das im Corsogespräch – ganz herzlichen Dank!
Schneider: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.