Ein Gespenst geht um. Das Gespenst des Klassismus. Zumindest spukt es gerade im deutschen Feuilleton. Und auch wenn Bernie Sanders in den USA ein zweites Mal als Präsidentschaftskandidat gescheitert ist, scheint sich dort eine immer größere Bewegung zu formieren, die eine Politik der Chancengleichheit fordert, unabhängig, ob man mit reichen oder armen Eltern geboren ist.
Auch in Deutschland wurde im letzten Jahr so viel über Diskriminierung aufgrund von sozialer Klasse – kurz Klassismus – gesprochen wie seit dem Mauerfall nicht mehr. Analog zur erfolgreichen Rassismus-Anthologie "Eure Heimat ist unser Albtraum" hat der Ullstein-Verlag Ende März den Erzählband "Klasse und Kampf" herausgegeben.
"Es gibt einen Haufen marginalisierter Gruppen in diesem Land"
"Ich glaube nicht, dass es an Corona liegt", sagte die Schriftstellerin Anke Stelling in den Kulturfragen. Vielmehr läge es "an dem größeren Bewusstwerden davon, dass es wirklich einen Haufen marginalisierter Gruppen gibt bei uns im Land."
Stelling ist eine der profiliertesten deutschsprachigen Autorinnen zu diesem Thema. Auch sie hat einen Text zu "Klasse und Kampf" beigesteuert. Ihre Romane "Bodentiefe Fenster" und "Schäfchen im Trockenen" handeln vom Klassenbewusstsein im Selbstverwirklichungsmilieu.
Wichtig ist für Stelling die Ausbildung von Klassenbewusstsein. Dazu gehöre in erster Linie auch die Überwindung von Scham und "darüber reden zu können, ohne sich als Opfer zu stilisieren." In diesem Punkt sieht sie auch einen Unterschied zu den anderen Dimensionen Rassismus und Sexismus:
"Dass ich arm bin oder Unterschicht, das will ich ja loswerden. Ich will reich werden und die ganzen Codes lernen. Und dann soll es das aber auch gewesen sein. Damit will ich ja nicht weiter identifiziert sein. Es geht also nicht wirklich um Anerkennungskämpfe wie bei den anderen Merkmalen."
Hierbei bezieht sie sich auch auf eine Kolumne in der TAZ, in der die Autorin Isolde Charim kritisiert, dass die Auseinandersetzung mit sozialer Klasse heutzutage hauptsächlich auf einer symbolischen Identitäsebene vonstatten ginge. Die Systemkritik bleibe dabei auf der Strecke und Kritik am Klassismus finde nur auf einer individuellen Ebene statt, bliebe also "in ihrer Moral verbunkert".
Identitäts- oder Sozialpolitik
Diese Gefahr sieht auch Anke Stelling, zeigt aber die Zweischneidigkeit dahinter auf: "Dieser neoliberale Traum 'Wer sich nur anstrengt und tüchtig genug ist, kann es auch schaffen' – der hat ganz viel Verführungspotential. Und ich hab den auch wirklich sehr lange geträumt, um dann aber zu merken, dass dieser Traum diese Schattenseite von 'Selber schuld, wenn du es nicht schaffst' hat."
Dennoch falle es der Schriftstellerin schwer "auf Identitätspolitik zu schimpfen", denn es sei zumindest "ein erster Schritt, wenn ins Bewusstsein gerät, dass das, was man selbst für normal und repräsentativ hält, doch alles Mögliche auch ausschließt".
Diese positive Entwicklung aufgrund von Identitätspolitik habe sie am eigenen Leibe erfahren. Es sei mittlerweile zu einer größeren Durchlässigkeit des Kulturbetriebs gekommen, im Vergleich noch zu vor sieben Jahren, als Florian Kessler seine Kritik "Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn" verfasste.
Sie selbst sei ein gutes Beispiel dafür, dass man auch als Arbeiterkind Schriftstellerin werden kann. Doch alleine in diesem Umstand, ein gutes Beispiel zu sein, sieht Stelling bereits ein Problem, dass sie ihre Protagonistin Resi für sich durchleben lässt:
"Die wird von einer Journalisten gefragt, wie sie es schafft, als vierfache Mutter auch noch erfolgreiche Romane zu schreiben." Als erstes mache Resi sich nur über die Frage lustig, weil es ja nicht in ihrer Hand liege, ob ihre Romane Erfolg haben. Dann aber erschrecke sie darüber, "dass sie nun das Beispiel ist, dass es zu schaffen ist, wo sie doch die ganze Zeit klagt, dass es eben nicht zu schaffen ist. Das ist tatsächlich eine ganz unangenehme Position. Und in der bin ich jetzt auch."
Die Wirksamkeit des Schreibens im Klassismus
Literatur könne, so Anke Stelling, nur identitätspolitisch wirken. In einer pluralistischen Gesellschaft sei es auch wichtig, eine pluralistische Literatur zu haben. Alle, egal wer sie seien und wo sie herkämen, müssten sich künstlerisch betätigen und auch Kunst, die von ihnen handelt, rezipieren können:
"Das ist das politische Ziel. Sonst kann Literatur nicht so viel machen", so das nüchterne Resümee Stellings: "Sonst hätte ja vielleicht auch 'Schäfchen im Trockenen' schon bewirkt, dass es ein neues Mieter-Gesetz gibt. Davon sind wir leider weit entfernt."
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