"Opa hatte noch nie gearbeitet. Er lebte von einigen schmalen Zinseinkünften, die der Familie D'Octeville noch blieben. Zuweilen liefen ihm die Tränen aus den Augen, doch ich wusste nie, ob der Grund dafür sein Leben, der Wein oder Gustav Mahler war."
Großvater Émile ist gleichzeitig Täter und Opfer. Jahrelang sieht er tatenlos mit an, wie seine sadistische Frau die gemeinsame Enkelin Constance einsperrt und misshandelt. Kontakt zur Außenwelt hat sie so gut wie keinen - bis eines Tages die Großeltern ein portugiesisches Ehepaar mit zwei Kindern als Gärtner einstellen und auf dem Landsitz einquartieren.
"Die Da Costas durften eigentlich nicht im Garten spielen, doch Lydie und Mano scherten sich nicht um Verbote... und außerdem rauchten sie."
Autor und Zeichner Matthias Lehmann erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Constance, mischt dabei ihre trockenen Beobachtungen mit den Auswüchsen einer blühenden Fantasie. Trotz des tiefen Einblicks in das Innenleben der Erzählerin enthält er dem Leser eine wichtige Information lange vor: Constance ist eigentlich ein Junge. Die Geschichte ist frei erfunden, sagt Lehmann. Die Idee kommt aber aus seinem eigenen Leben. Matthias Lehmann:
"Als Kind haben mich alle für ein Mädchen gehalten. Ich selbst hatte das Gefühl, ich könnte mal ein Mädchen und mal ein Junge sein. Einfach nur, weil mir die Leute dieses Gefühl vermittelt haben."
Geschlechter-Identität ist ein großes Thema; gerade hat der US-Bundesstaat North Carolina ein Gesetz verabschiedet, dass es Transsexuellen verbietet, die passende Toilette zu benutzen. In Frankreich, sagt Lehmann, ist die Debatte aber mittlerweile etwas abgeklungen.
"Als ich angefangen habe, den Band zu schreiben - ich arbeite sehr langsam - hat niemand in Frankreich von "Gender Studies" gesprochen. Und dann, während des Zeichnens, war es plötzlich ein großes Thema, besonders durch die gleichgeschlechtliche Ehe. Und als das Buch dann fertig war, war das Thema schon wieder durch."
Eine dramatische Enthüllung
Einzigartig ist vor allem die Perspektive. Die Geschichte eines kleinen Jungen, der von einem frustrierten alten Ehepaar als Mädchen aufgezogen wird ist tieftraurig; Lehmann lotet aber geschickt die Absurdität der Situation aus und findet außerdem Humor an unerwarteten Stellen. So zum Beispiel, wenn Constance Privatdetektiv spielt und beim Druchsuchen der Wohnung einen Stapel alter Bilder und Briefe findet.
"Ein mieses Gedicht... ein hässlicher Herr... Eine Notiz auf der Rückseite des Fotos mit dem hässlichen Herrn."
Die Notiz stellt sich als Brief heraus. Ein Liebesbrief eines jungen Mannes an Großvater Émile. Eine dramatische Enthüllung. Oder, wie es Constance ausdrückt:
Uninteressant...
"Mir ist natürlich klar, dass ich eine traurige Geschichte erzähle. Aber ich möchte dabei, und überhaupt in meinen Büchern, nicht bewusst auf die Tränendrüse drücken. Das lehne ich total ab. Der Leser soll selbst entscheiden, was er bem Lesen fühlt. Und dass ich an vielen Stellen Humor eingebaut habe, soll auch zeigen, dass ich mich selbst und die Geschichte nicht zu ernst nehme", erklärt Lehmann.
Erst im letzten Drittel bricht Lehmann mit seiner subjektiven Erzählstimme und beantwortet die brennenden Fragen mit einer kompakten Rückblende. Hier erfährt der Leser nicht nur die tragische Vorgeschichte der drei Hauptfiguren, sondern auch das Schicksal und die Identität von Constances Eltern. Zwischen den tragischen Ereignissen und der fast beiläufigen Erzählstimme entsteht eine spannende Reibung. Dieser Kontrast zieht sich durch viele Aspekte der "Favoritin" - wie etwa Lehmanns Tuschezeichnungen, die den Erfindungsreichtum aktueller Graphic Novels mit einer auffälligen Retro-Optik verbinden.
"Ich hatte alte Kinderbuchillustrationen und Holzschnitte aus dem späten 19. Jahrhundert im Hinterkopf. Bilder, die zwar dunkel sind, aber gleichzeitig auch diese runden Formen haben. Das waren gewissermaßen die Anfänge des Comics, noch vor Rodolphe Töpffer. Ich glaube Comics waren im gewissen Sinne eine Verzerrung dieser Illustrationen". so Lehmann.
Vor allem aber hat Matthias Lehmann den perfekten Rahmen für seine Handlung ausgewählt. Die westfranzösische Region Brie, in der der Autor selbst aufgewachsen ist.
"Einerseits liegt sie direkt bei Paris, aber gleichzeitig ist sie sehr ländlich, sehr speziell also. Und deshalb spielt die Geschichte auch Ende der 70er, weil diese Zeit auf ähnliche Weise speziell war. Frankreich wollte sich damals modernisieren, aber das war nicht leicht, weil große Teile der Bevölkerung noch sehr traditionsbewusst waren. Es war also eine ambivalente Zeit."
Das Geschlecht der Hauptfigur ist nicht die einzige überraschende Enthüllung. Und doch lebt die Geschichte weniger von ihren spannenden Twists als von der Perspektive. Constance nimmt ihre - oder seine - schrecklichen Lebensumstände als gegeben hin. Hier liegt die größte Stärke von Matthias Lehmanns ausgezeichnetem Comic: Er erzählt seine Geschichte charmant und voll liebenswerter Leichtigkeit, so dass man die Tragik, die sie umgibt, fast vergisst.