"Diese Woche ist etwas Schlimmes passiert. Meine beste Freundin Eugénie hat gesagt, dass ich sie nerve. Das hat mich traurig gemacht. Außerdem weiß ich, dass Terroristen Charlie angegriffen haben. Das ist jemand, oder eine Zeitung, ich hab's nicht richtig verstanden, weil Charlie sich über ihren Gott lustig gemacht hat."
Diese Naivität ist manchmal niedlich, manchmal ärgerlich und der hauptsächliche Grund, warum der Comic "Esthers Tagebücher" so charmant ist. Esther ist neun Jahre alt, erlebt eine durchschnittliche Kindheit in einem Pariser Vorort - und ihre Geschichte basiert auf dem Vorbild eines echten Mädchens, sagt Autor Riad Sattouf, nämlich der neunjährigen Tochter eines Freundes:
"Und die war ziemlich normales Mädchen. Sie lebt Paris, die Eltern sind weder arm noch reich und lieben sich noch immer, sie ist gut in der Schule, ist hübsch und hat im Leben keine Probleme."
"Mir ist da was aufgefallen, nämlich beliebte und berühmte Leute, die sind sehr schön. Aber sie haben noch was gemeinsam. Sie sind sehr geschmeidig", sagt Esther an einer Stelle.
Der erste Band der auf zehn Teile angelegten Serie erzählt die Ereignisse eines Jahres; nicht in einer durchgängigen Geschichte, sondern als eine Art Mosaik in kurzen, in sich abgeschlossenen Vignetten. Die sind für einen Comic zwar ungewöhnlich textlastig. Zum Glück sind Esthers Monologe aber ebenso liebenswert wie Sattoufs schlichte Tuschezeichnungen des kulleräugigen Mädchens, das am Ende des Comics zehn Jahre alt ist.
Porträt eines Mädchens und Schnappschuss der Gesellschaft
Während allerdings das Porträt eines kleinen Mädchens ein Schnappschuss der Gesellschaft sein kann, warnt Sattouf gleichzeitig davor, gesellschaftliche Entwicklungen vorhersehen zu wollen - aus eigener Erfahrung:
"Meine Erfahrung in Syrien lässt sich nur schwer mit dem Syrien von heute vergleichen. Klar, man kann sich die Welt vor der Revolution ansehen und sagen es gibt superreiche Leute und extrem arme Leute, viele Arme und ein paar Reiche, und daraus folgern, dass es eines Tages zu einer Revolution führt. Aber wenn man mich vor zehn Jahren gefragt hätte, ob sich Syrien zu sehr verändert, dann hätte ich gesagt: Nein, niemals."
Esthers Tagebücher ist zu gleichen Teilen Einblick in die Erlebenswelt eines Kindes und Porträt einer Generation. Esthers Leben steht für eine Kindheit in einer Welt, die von Image, sozialen Medien und Technologie geprägt ist. Ihre oft fehlgeleitete Naivität ist vertraut und doch manchmal so weit weg, dass man meinen könnte, eine Geschichte aus einer fremden Welt zu lesen.
"Es war ein bisschen so, als ob sie eine Reisende wäre, die mir Geschichten von ihrer Reise durch die Kindheit erzählt. Und ich dachte mir, aus den Geschichten kann ich einen Comic machen", sagt Sattouf.
"Zwei Papas, das ist ja schrecklich!"
Oft kann kann man verfolgen, wie sich die Zahnräder in Esthers Kopf in Bewegung setzen, wie sich Meinungen zu Themen bilden, über die sie zum ersten Mal nachdenkt. Wie etwa das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare:
"Zwei Papas, das ist ja schrecklich! Stellt euch nur mal vor! Beide sind nie zuhause wegen der Arbeit, keiner kann kochen, niemand räumt auf ... aber wenn man so drüber nachdenkt, was soll so schlimm daran sein, homosexuell zu sein?"
"Esthers Tagebücher" ist ein überraschend vielschichtiger Comic. Er hält dem Leser einen Spiegel vor und erlaubt gleichzeitig einen Einblick in eine Kindheit der YouTube-Generation. Esther ist ein perfekter Mikrokosmos widersprüchlicher, naiver Ansichten und kindlicher Grausamkeit; sie zu finden war ein Glücksfall. Vor allem aber ist "Mein Leben als Zehnjährige" eine erzählerische Glanzleistung. Mit scharfem Blick schält Riad Sattouf aus den Erzählungen des kleinen Mädchens eine Geschichte heraus, hebt geschickt thematische Verbindungen hervor und gibt so den einzelnen Episoden eine größere Bedeutung. Und räumt dabei gnadenlos mit dem Mythos des unschuldigen Kindes auf.
"Esters Tagebücher: Mein Leben als Zehnjährige" ist der erste Band Riad Sattoufs Comic-Reihe. Er erscheint am 10. März im Reprodukt Verlag.