Am Vorabend des Festivals treffen sich alle Künstler, Organisatoren und Gäste, die in Lyon angekommen sind, zum sogenannten "Bouchon déchainé", was man frei mit "zum entfesselten Korken" übersetzen könnte. Dabei werden viele Flaschen Wein entkorkt und es wird fürstlich geschlemmt. Gleichzeitig ziehen die Künstler ihre Skizzenblocks, Stifte und Aquarellfarben hervor und zeichnen.
Die Ergebnisse werden eingescannt und am kommenden Tag in der Zeitung "Lyon Capitale" veröffentlicht.
Comics werden in Frankreich schon lange als Kunstform ernst genommen. Doch seit einigen Jahren, erfinde sich dieses Genre neu, sagt Festivaldirektor Mathieu Diez.
Die Neuerfindung eines Genres
Die Autoren griffen aktuelle Themen auf und erzählten mit anderen Mitteln. So habe der Comic heute ein anderes Standing und sei nicht mehr nur ein Literaturzweig.
Zeichnerin Lisa Mandel verarbeitet aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse regelmäßig zu Comic-Reportagen. Sie hat beispielsweise die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gezeichnet - aus der Sicht von Kindern im Alter von sieben bis zehn Jahren in einer Pariser Banlieue. Ihre Beobachtungen hat sie zunächst in einem Blog veröffentlicht, bevor sie als Buch erschienen sind. Im vergangenen Jahr erregte sie Aufsehen, weil die Flüchtlingscamps in Calais in einer Auftragsarbeit thematisierte. Dabei hatte sie erst abgelehnt, weil ihr das Projekt zu voyeuristisch erschien.
Aber sie sei so schockiert gewesen von den Zuständen im Flüchtlingslager, erzählt Lisa Mandel, dass sie nicht einfach so tun konnte, als hätte sie nichts gesehen.
In diesem Jahr waren in Lyon auch viele Comiczeichner aus Deutschland zu Gast, um sich mit französischen Kollegen auszutauschen, die zur Buchmesse in Frankfurt im kommenden Oktober eingeladen sind. Deutsche Künstler, deren Werke ins Französische übersetzt werden, erzielen im Nachbarland oftmals höhere Auflagen als Zuhause. Der in Berlin lebende Comiczeichner Reinhard Kleist:
"Den Satz 'Kann man denn davon leben?' höre ich nicht mehr so oft wie früher. Es hat sich schon was getan, aber die Verhältnisse sind immer noch schwierig für deutsche Zeichner. Davon leben können die wenigsten, viele machen immer noch andere Jobs oder müssen gucken, dass sie mit Auftragsarbeiten über die Runden kommen."
Eine Stadt voller Comics
Von einer breiten Anerkennung des Comics ist man in Deutschland noch weit entfernt. In Lyon dagegen bespielen die sprechenden Bilder wie selbstverständlich Rathaus und Oper, Kinos, Parkhäuser und zahlreiche Museen. Im Museum für Druckkunst ist eine Ausstellung von Scott McCloud zu sehen, in der sehr originell, aber zugleich didaktisch die Sprache und die Besonderheiten und die Funktionsweise des Mediums Comic erläutert werden.
Zeichner und Theoretiker Scott McCloud findet, dass gerade die vermeintlich offensichtlichsten Dinge oft einer Erklärung bedürften. Ein Kind könne von Geburt an mit verschiedenen Gesichtsausdrücken kommunizieren, ohne darüber nachdenken zu müssen. Dazu müsse es nicht wissen, wie die Gesichtsmuskeln solche Zeichen und Symbole erzeugten.
In der Ausstellung zeigt Scott McCloud Masken mit verschiedenen Gesichtsausdrücken. Er kombiniert sie miteinander und addiert z.B. Wut und Freude zu einer Visage voller Mordlust. Auch das erfolgreiche Paar und Künstlerduo bestehend aus der Koloristin Brigitte Findakly und dem Zeichner Lewis Trondheim ist nach Lyon gereist. Und auch wenn soeben deren Graphic Novel "Mohnblumen aus dem Irak" in deutscher Übersetzung erschienen ist, verliert Lewis Trondheim das Wesentliche eines Festivals nicht aus den Blick und resümiert augenzwinkernd:
"In Frankreich gibt es fünf oder sechs Festivals pro Wochenende und dann fährt man da hin, wo man am besten essen und trinken kann …"