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Comic "Otto" von Marc-Antoine Mathieu
Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst

Mit einer Kiste voller Erinnerungstücke beginnt die Reise zu sich selbst: Comicautor Marc-Antoine Mathieu inszeniert in "Otto" eine wundersam verworrene Geschichte der Selbstfindung – und führt darin viele seiner Vorgängercomics zusammen.

Von Andrea Heinze |
    Das verspiegelte Museum von Bilbao im Comic "Otto"
    Das verspiegelte Museum von Bilbao im Comic "Otto" (Marc-Antoine Mathieu)
    Als Performancekünstler ist Otto so erfolgreich, dass seine Auftritte auf der ganzen Welt mit Beifallsstürmen gefeiert werden. Aber glücklich ist er nicht. Denn wenn Otto sich selbst im Spiegel betrachtet, erkennt er nichts. Das Spiel mit den Spiegelungen seiner selbst, dass Otto in der Kunst betreibt, ist zugleich sein Abgrund. Das macht Comicautor Marc-Antoine Mathieu, der Meister der doppelbödigen Grafik, schon auf den ersten Seiten klar: Auch der Hotel-Swimming-Pool, in dem sich Otto gerade noch gespiegelt hat, wird zum Abgrund. Erst als er von seinen Eltern eine Kiste erbt, die die ersten sieben Jahre seines Lebens mit Fotos, Beobachtungsprotokollen und Tonaufnahmen haarklein dokumentieren, scheint sein Leben einen Sinn zu bekommen.
    Spiegelungen als Wiederkennungsmerkmal
    "Endlich hatte Otto einen angemessenen Spiegel vor sich, eine echte Herausforderung. Die Truhe hielt neuen, einzigartigen Stoff bereit: einen perfekten Spiegel, ohne falsche Reflexe. Er hatte zu viele Jahre damit verbracht, sich zu suchen, aber nie gewagt, sich zu verlieren. Jetzt war die Gelegenheit für den großen Sprung - für die Erkundung von Gefilden, in die bislang niemand je vorgedrungen: die Grenzen seiner selbst."
    Das Cover von Mathieus neuem Comic
    Das Cover von Mathieus neuem Comic (Marc-Antoine Mathieu)
    Spiegelungen hat Marc-Antoine Mathieu in seinen Werken schon mehrfach inszeniert. Im Comic "3 Sekunden" hat er es auf die Spitze getrieben und die komplette Kriminalgeschichte als Spiegelungen in Zigarettenetuis, Lampen oder Fensterscheiben gezeichnet. Weniger eindeutig ist Mathieus bislang dickster Comic "Richtung", in dem ein Mann über 250 Seiten lang nichts anderes tut, als Pfeilen in einer abstrakten Landschaft folgen. Marc-Antoine Mathieu hält sich bedeckt, was das soll. Vielleicht eine Meditation über ein gelungenes Leben, in dem der Mann die Pfeile als Hinweise nimmt? In seinem aktuellen Buch "Otto" verbindet er auf ganz neue Art und Weise dieses Nachdenken über den Sinn des Lebens mit dem Motiv des Spiegels.
    "Las er, Otto, den Otto aus der Truhe? Oder war es Otto aus der Truhe, der ihn las? Manchmal versank er in seltsame Träumereien, die seine Zweifel spiegelten."
    Das Original kann man nicht immer ausmachen
    Und nicht nur das. Otto versinkt in seiner Vergangenheit, er verstrickt sich geradezu darin. Matthieu macht das auf seine bewährt furiose Art deutlich: In seinen einfachen schwarz-weiß-Zeichnungen erfindet er unendliche Räume, in denen sich zum Beispiel zahllose Otto-Figuren spiegeln. Welche das Original ist, kann man da nicht immer ausmachen. Dann wieder verschiebt Matthieu die Perspektiven so geschickt, das alles auseinander zu fallen droht. Oder legt Labyrinthe aus QR-Codes an.
    "Je mehr er Gefangener seiner Vergangenheit war, desto freier fühlte er sich im Jetzt. Das Wissen aus der Truhe hatte einen unglaublich determinierten Otto zum Vorschein gebracht. Aber auch einen unendlich einmaligen. Denn es zeigte immerfort, dass jede noch so unscheinbare Gabelung in seinem Leben viele andere Ottos hätte hervorbringen können."
    Das Spiegelbild spielt ein wichtige Rolle im Comic "Otto"
    Das Spiegelbild spielt ein wichtige Rolle im Comic "Otto" (Marc-Antoine Mathieu)
    Alles in diesem Comic ist Spiegelung: den Namen OTTO kann man von vorne wie von hinten lesen; die innere Leere wird durch zwei sich gegenüberstehende Spiegel symbolisiert, die Beschäftigung Ottos mit seiner Kindheit ist nichts als Selbstbespiegelung – und auch der Text unter den Zeichnungen reflektiert die Bilder vor allem.
    Vielschichtig, philosophisch und kunstvoll vertrackt
    "Eines Morgens fiel ihm auf, dass er nicht mehr wusste, wie sein Gesicht aussah. Er hatte sich lange nicht mehr angeschaut. Alles, was ihn hätte spiegeln können, hatte er weit weg geräumt. Was hätte er gesehen, wenn er sich hätte sehen können?"
    Damit ist Otto nach einem langen Prozess der Selbsterkundung wieder da angekommen, wo er angefangen hat: er erkennt sich selbst nicht mehr. Der Comic aber ist mit seinen bildstarken Metaphern sehr genau als eine Arbeit von Marc-Antoine Mathieu erkennbar – vielschichtig, philosophisch und kunstvoll vertrackt.
    "Otto" von Marc-Antoine Mathieu
    Reprodukt Verlag, 20 Euro, 88 Seiten (schwarz-weiß)