Johannes Kulms: Wo befinden wir uns hier?
Michel Dufranne: Willkommen in meinem Büro - einer dauerhaften Baustelle. Als Literaturkritiker lese ich unglaublich viel und kaufe sehr viele Bücher. Deswegen habe ich eines Tages diese Wohnung erworben: 100 Quadratmeter nur für Bücher - in den Regalen an den Wänden, aber mittlerweile auch auf dem Boden! Was ich hier den ganzen Tag mache, ist vor allem eines: Lesen, lesen, lesen!
Kulms: Sie haben als Autor Comics zu den unterschiedlichsten Themen veröffentlicht: Über Homosexualität im Dritten Reich, über Fußball, über die Bibel - und jetzt ein Comic über Femen. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Dufranne: Ich bin sehr neugierig. Mich interessieren auch Themen, über die man sonst nicht so viel spricht. Eigentlich hatte ich einen Comic über die besonderen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine im Kopf. Mein Verlag sagte nur: Das interessiert doch niemanden, das ist so weit weg von Frankreich! Wenn ich jetzt auf die aktuellen Ereignisse schaue - vielleicht hätte ich weitermachen sollen. Und dann erzählte mir jemand aus der Ukraine von diesen Frauen, die mit nacktem Oberkörper demonstrieren gegen die Fußball-EM 2012 und die organisierte Prostitution. So habe ich angefangen, über Femen zu lesen. Als dann Inna Schewtschenko von der Ukraine nach Paris floh, sagte meine Frau zu mir: Fahr da hin und triff sie! Einen Tag später saß ich dann Inna in Paris gegenüber.
Und dann habe ich zwei Wochen lang nachgedacht und sagte mir: Ein Comic über Femen in der Ukraine geht nicht, das ist so weit weg und ich verstehe so wenig davon. Als ich Inna dann das zweite Mal getroffen haben, war sie von vielen jungen Französinnen umgeben - fast so, wie eine Leibgarde. Und da habe ich mir gesagt: Genau das ist die Geschichte! Was treibt diese jungen Frauen hierher, die ja vom Alter her meine Töchter sein könnten. Was fasziniert sie so an Femen?
Und dann habe ich zwei Wochen lang nachgedacht und sagte mir: Ein Comic über Femen in der Ukraine geht nicht, das ist so weit weg und ich verstehe so wenig davon. Als ich Inna dann das zweite Mal getroffen haben, war sie von vielen jungen Französinnen umgeben - fast so, wie eine Leibgarde. Und da habe ich mir gesagt: Genau das ist die Geschichte! Was treibt diese jungen Frauen hierher, die ja vom Alter her meine Töchter sein könnten. Was fasziniert sie so an Femen?
Kulms: Der Comic ist aus der Sicht von der jungen Apolline geschrieben. Gibt es Apolline wirklich? Oder hatten Sie da ein bestimmtes Vorbild?
Dufranne: Apolline ist reine Fiktion: Eine Mischung aus allem, was ich bei meinen Treffen mit Femen erfahren habe. Bis auf ein paar Ausnahmen war niemand davor aktivistisch unterwegs - weder in einer feministischen Gruppe, noch in einer Partei oder bei der Gewerkschaft. Stattdessen habe ich immer wieder diesen einen Satz gehört: Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und wollte einfach was dagegen machen!
Und deswegen wollte ich eine Figur schaffen, in die ich alles reinlegen kann - auch das, was mir die Frauen von ihren Familien und Freunden erzählt haben. Der Comic ist Fiktion, aber fast schon wie eine Reportage. Alle Sätze sind real, zum Beispiel, wenn ich darüber schreibe, wie Apolline auf der Straße beleidigt wird.
Ich habe immer mal wieder Freundinnen aus meinem Umfeld einzelne Textpassagen zum Lesen gegeben. Und plötzlich fingen sie an, mir von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen: Dass sie bestimmte Straßen abends in Brüssel meiden. Oder warum sie keine Röcke mehr tragen. Davon hatten sie davor nie gesprochen.
Und deswegen wollte ich eine Figur schaffen, in die ich alles reinlegen kann - auch das, was mir die Frauen von ihren Familien und Freunden erzählt haben. Der Comic ist Fiktion, aber fast schon wie eine Reportage. Alle Sätze sind real, zum Beispiel, wenn ich darüber schreibe, wie Apolline auf der Straße beleidigt wird.
Ich habe immer mal wieder Freundinnen aus meinem Umfeld einzelne Textpassagen zum Lesen gegeben. Und plötzlich fingen sie an, mir von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen: Dass sie bestimmte Straßen abends in Brüssel meiden. Oder warum sie keine Röcke mehr tragen. Davon hatten sie davor nie gesprochen.
Kulms: Wenn man einen Comic über Femen macht, dann spielt das Geschlecht des Autors automatisch auch eine Rolle. Wie war das für Sie als Mann, hatten Sie da Angst, Probleme zu bekommen oder gab es solche Fälle?
Dufranne: Natürlich hat man da Angst. Aber Comic ist ja Teamarbeit. Gezeichnet wurde die Geschichte von Séverine Lefebvre, einer Frau. Und auch auf Verlagsseite hatte eine Frau das Sagen. Damit hatte ich schon mal zwei Leserinnen ganz am Anfang, genauso wie meine Frau, die ja das Projekt ja ein bisschen angestoßen hat. Das war alles eine Rücksicherung für mich, weil ich nicht in Klischees verfallen wollte. Ich selber habe meine Perspektive geändert, auch weil mir Freundinnen von ihren Erfahrungen erzählt haben. Das Verhältnis zu den Mitgliedern von Femen hat sich ganz unterschiedlich entwickelt. Aber das Vertrauen ist stets stabil geblieben.
"Für mich ähnelt Femen eher einer Fußballmannschaft"
Kulms: Sie haben Femen über einen langen Zeitraum begleitet. Können Sie sagen, wofür genau Femen steht?
Dufranne: Femen ist von Land zu Land unterschiedlich. Für mich ähnelt Femen eher einer Fußballmannschaft. Es gibt eine Anführerin - das ist bei Femen Frankreich ganz klar Inna Schewtschenko. Sie ist sozusagen die Trainerin, die auch mal Wechsel vornehmen kann, wenn es nicht gut läuft. Auf dem Platz stehen elf Spielerinnen, die gewinnen wollen. Aber dahinter stehen vielleicht noch 25 weitere Spielerinnen, die man nicht sieht.
Alles bleibt dynamisch. Bei Femen zählt die Aktion, anders als z. B. Greenpeace mit einer festen Struktur. Es ist typisch für die Internetgeneration: Wir haben eine Idee, wir setzen sie um und am nächsten Tag ist es vielleicht schon wieder vergessen - und weiter geht's.
Alles bleibt dynamisch. Bei Femen zählt die Aktion, anders als z. B. Greenpeace mit einer festen Struktur. Es ist typisch für die Internetgeneration: Wir haben eine Idee, wir setzen sie um und am nächsten Tag ist es vielleicht schon wieder vergessen - und weiter geht's.
Kulms: Bewundern sie die Frauen bei Femen und ihre Strategie?
Dufranne: Die Frauen sind unglaublich mutig. Sie sind nicht gewalttätig, sondern aggressiv. Aber ihre Aktionen rufen natürlich Reaktionen hervor bei den Sicherheitsleuten, den Bodyguards oder den Gegendemonstranten und dann wird es gewalttätig. Was den Leuten bei Femen aber auch klar ist: Sie sind nicht naiv, sie wissen, dass sie keine Gesetzestexte schreiben. Ihnen geht es darum, auf brutale Art Probleme anzuprangern und sie sagen sich, andere Lobbygruppen oder aber auch die Presse werden dann nachziehen. Femen ist meiner Meinung nach nur ein Element im Kampf des Feminismus.
Kulms: Femen wird oft als eine Art Pop-Feminismus bezeichnet. War es für Sie da wichtig, über diese Bewegung nicht nur in Form eines Comics, sondern auch in so einem bestimmten Stil zu schreiben, der ja etwas von Pop hat?
Dufranne: Ganz genau. Ein normaler belgischer Comic hat 46 Seiten. Das reicht kaum, um eine Geschichte richtig breit und tief zu entwickeln. Zuerst hatten wir einen sehr realistischen Stil probiert, wie man es bei so einem reportageartigen Ansatz in der Welt der französischen-belgischen Comics auch macht. Als ich dann einigen Mitgliedern von Femen France ein paar Entwürfe gezeigt habe, meinten sie, das ist gut, das sieht seriös aus. Und dann ging aber Inna Schewtschenko dazwischen und sagte: Das ist französisches Rumgeeiere. Das ist zu intellektuell, das sind wir nicht. Wir sind Pop, wir sind internationaler, lustiger, das ist mehr Punk. Das ist unsere Generation. Und das sagen ja die Frauen selber auch: Ich bin zu Femen gegangen, weil das Rock 'n Roll ist, ein bisschen unverschämt, weil das meine Generation ist: Mit 22 brauche ich kein Parteibuch, sondern ich muss auf die Straße gehen! Und deswegen haben wir uns für diesen Stil entschieden.
Kulms: Aber andererseits erfahren sie dann auch, was es für Konsequenzen hat, bei Femen mitzumachen, wie Ihr Comic zeigt. Zum Beispiel im Berufsleben.
Dufranne: Die Mitglieder bei Femen in Frankreich haben alle studiert, sind top ausgebildet und stehen auch nicht am Rande der Gesellschaft, sondern mittendrin. Und in dem Moment, wo die Frauen sich als Mitglieder bei Femen zeigen, weist sie die Gesellschaft zurück. Manche der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, hatten früher sehr prestigeträchtige Jobs. Und später fanden sie sich dann als Kellnerinnen in einer Bar wieder. Deswegen hören viele irgendwann bei Femen auf, weil sie merken, dass sie Probleme bekommen: mit ihrer Familie, ihren Freunden oder im Beruf.
Kulms: Wie einfach oder schwer war es für Sie, einen Verlag zur Veröffentlichung des Comics zu finden?
Dufranne: Das war sehr kompliziert, das hätte ich nicht erwartet. Als ich mein Projekt vorgestellt habe, war Femen in Frankreich noch nicht so bekannt. Da habe ich viele Macho-Reaktionen bekommen. Und dann habe ich meine Strategie geändert: Ich habe nur noch die Verlage kontaktiert, in denen es auch Verlegerinnen gibt. Und dann habe ich Nathalie van Campenhoudt bei Le Lombard kontaktiert. Und zwei Minuten später hat sie mir gesagt: O.k., das machen wir!
Kulms: Was hat Femen erreicht bzw. hat Femen überhaupt etwas erreicht?
Dufranne: Ich denke, dass sie nichts erreichen, weil das auch nicht ihre Rolle ist. Aber Femen ist nicht alleine, in ganz Europa gibt es feministische Gruppierungen, die versuchen, auf das Thema aufmerksam zu machen. In Italien gibt es zum Beispiel eine Gruppe von Töchtern von Mafiabossen, die gegen die Mafia kämpfen will. Also, die Aktivisten heute wissen, es reicht nicht, bloß ein paar Mails rumzuschicken, man muss mehr machen. Aber die eigentliche Entscheidung liegt immer beim Gesetzesgeber, das sieht man ja auch bei Greenpeace oder den Ärzten ohne Grenzen, die vor allem Lobby-Arbeit betreiben.
Kulms: Merci beaucoup, Monsieur!