Auf dem Cover des gleichnamigen Comics kommt Martin Luther ziemlich hip daher. Zwar trägt er eine Mönchskutte, doch die Tonsur ist so leger verstrubbelt, dass man ihn genauso gut in einem angesagten Klub treffen könnte. Das entspricht nicht gerade dem Bild vom ernsten Reformator, wie es zum Beispiel Lucas Cranach gemalt hat – aber es entspricht durchaus dem Leben Luthers, meint die Berliner Reformationsforscherin Dorothea Wendebourg:
"Also er hatte sicher eine Phase in seinem Leben, wo er als Student, bevor er ins Kloster ging, sehr lebensfreudig war, gesungen hat, getrunken hat, und Klubs hatte man damals in Erfurt nicht, aber entsprechende studentische Vergnügungen – ja!"
Lebensfreudiger Streber
Tatsächlich kann man den jungen Luther im Comic von Andrea Grosso Ciponte und Dacia Palmerino dabei bewundern, wie er sich bei studentischen Trinkspielen lächerlich macht. Allerdings liest man auch, dass Luther keine Vorlesung versäumt habe und häufig in der Bibliothek zu finden gewesen sei.
Dorothea Wendebourg:
"Wir wissen auch, dass in späterer Zeit, als er dann die Reformation angestoßen hatte, dass er auch da sehr lebenslustig war, in Gesellschaft sehr gerne zusammen gesessen und gegessen, geredet hat und dass er viel gesungen hat. Das muss ihm ein riesiges Vergnügen gemacht haben. Und dieses Lebensfreudige kommt in dem Comic heraus, und das ist schön."
Die Comicbiografie kommt dem Menschen Luther also durchaus nahe. Und sie zieht allein durch ihre Ästhetik in den Bann. Denn Andrea Grosso Ciponte hat atemberaubende Bilder gezeichnet – und zwar am Computer. Das lässt den Comic wie ein Computerspiel wirken, bei dem man Luther in immer neue Räume und Herausforderungen begleiten kann.
"Themenräume, die zugleich biografische Räume sind und das Buch versucht in der Tat, bestimmte Themen mit bestimmten Stationen seines Lebens zu koppeln",
erklärt Wendebourg.
"Das gelingt nicht immer, weil das Leben eben nicht sortiert verläuft, aber es ist doch viel auch gut gelaufen."
"Wie kann ich dem Fegefeuer entgehen?"
Die Reformationsforscherin Dorothea Wendebourg mag zum Beispiel, wie Luther als junger Prediger im Wittenberger Kloster hadert, dass er mit seinem Leben voller kleiner Sünden Gott eigentlich gar nicht gerecht werden kann. Im Comic sagt Luther:
"Wie kann ich Gott gefallen und seine Gnade erlangen? Wie kann ich dem Fegefeuer entgehen? Fasten, Beten, Pilgerfahrten, das ist doch alles nichts als Schmeicheleien gegenüber Gott. Nach noch so vielen Werken fühle ich keine Gnade."
Hadern auf der Wendeltreppe
Diesen Grübeleien gibt sich Luther im Comic auf einer Wendeltreppe hin. Jede Stufe nach oben wird von neuen Zweifeln begleitet – und die Treppe scheint unendlich lang zu sein, sagt Dorothea Wendebourg:
"Es gibt kein Entrinnen und zugleich ist die Wendeltreppe innerhalb dieses Turmes, das ist ein bisschen anachronistisch, weil so weit gebaut war das Augustiner-Eremitenkloster damals noch nicht. Aber immerhin, mit dem Turm, das stimmt. Und vermutlich hat er die Entdeckung, wie man Gerechtigkeit Gottes verstehen muss, das ist wohl in diesem Turm, beim Brüten, beim Meditieren, beim Jahrelangen herumbohren in der Bibel eingegangen."
Luther begreift, dass die Gerechtigkeit Gottes eben nichts mit Rache zu tun hat, also mit dem strafenden Gott aus dem Alten Testament – sondern dass diese Gerechtigkeit nichts als Gnade ist. Dass Gott Sünder annimmt, eben weil sie Menschen sind.
Theologie in Comicbildern
Der Comic zeigt so das theologische Denken Luthers und wie seine These von der Gnade Gottes immer zentraler für ihn wird. Da scheint es nur konsequent, wenn Luther daran zweifelt, dass der damals übliche Ablasshandel Erleichterung im Fegefeuer bringen soll. Doch das gibt Ärger – denn die katholische Kirche hat dafür kein Verständnis.
"Das ist großartig umgesetzt",
findet Wendebourg:
"Die Wartburgszene ist der absolute Höhepunkt dieses Buchs. Wie zunächst einmal dieser Mann Martin Luther nach dem Hype, der um ihn gemacht wurde, in Worms und auf dem Weg nach Worms – und dann von einem Tag auf den anderen rausgerissen werden, verschleppt auf die Wartburg, mehr oder weniger in Einzelhaft genommen zu werden."
Die Bilder des Comics, die bis dahin oft raumgreifend waren – auf jeden Fall aber auf den Seiten immer unterschiedlich angeordnet, werden in den Wartburg-Szenen plötzlich einförmig und klein.
Trost bei den Tieren
"Er wird schier verrückt – was tröstet ihn? Die Vögel, das ist auch ganz schön umgesetzt", meint Dorothea Wendebourg. Hier zeigt sich, wie genau Dacia Palmerino recherchiert hat. Sie hat die Dramaturgie für den Comic entwickelt.
Dorothea Wendebourg:
"Wir wissen, dass Luther ein großer Tierliebhaber war, seine liebsten Tiere waren Hunde – er hatte selbst einen – und Vögel. Und in seinen Briefen meditiert er über die Vögel und sieht, dass die im Grunde einander genauso nichts gönnen wie die Menschen. Aber hier erfreuen sie ihn. Und es ist schön: Er wird immer wieder aufgeweckt. Denn er hat ja keinen Rhythmus mehr. Plötzlich hängt er rum. Und die einzigen, die ihm Rhythmus geben, sind die Vögel – sonst würde er wahrscheinlich gar nicht aus dem Bett kommen."
Neben den Vögeln, die ihn besuchen, sieht man Martin Luther auch vor einem Spanferkel und anderen Fleischbergen sitzen und dabei von Bild zu Bild immer dicker werden – so dick, wie er sich selbst im Spiegel sieht, ist er allerdings nicht, erklärt Dorothea Wendebourg:
Fettwanst mit Kugeleffekt
"Er ist ein hagerer Mönch, der seine beschränkten Mahlzeiten bisher gehabt hat auch mit Fastenzeiten, die er strikt eingehalten hat und plötzlich soll er da leben wie ein gut bekochter Bürger und das wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er sich schon selber dick und fett geworden sieht – dafür gibt es keinerlei Beleg. Aber das ist sehr gut gemacht, an einer Stelle wird das ja optisch noch verfremdet durch einen Kugeleffekt, wo er dann selbst ein Fettwanst ist, als solcher sieht er sich."
Andrea Grosso Ciponte zeichnet den Blick in Luthers Wartburg-Zimmer wie von einer Kugel verzerrt – und lässt den Reformator dadurch noch breiter wirken. Damit zitiert er ein verzerrtes Selbstportrait des Malers Parmigianino, das zur Zeit Luthers entstand.
Solche Zitate gibt es immer wieder: mit Szenen aus Hieronymus Boschs Fantasiegemälden werden die Schrecken der damals erwarteten Höllenqualen plastisch – und natürlich darf auch das Luther-Portrait von Lucas Cranach nicht fehlen. Die beeindruckendsten Bilder aber erfindet der italienische Comickünstler selbst – und zwar, als Martin Luther auf der Wartburg seine Aufgabe findet.
Raum der Erkenntnis
Dorothea Wendebourg:
"Er übersetzt das Neue Testament und plötzlich, in dem Moment, in dem er fertig ist, wird das umgesetzt darin, dass er sich nicht mehr in der Einsamkeit der Burg befindet, sondern in einem Raum, der nur noch vom Wort Gottes – und zwar vom übersetzten Wort Gottes des Neuen Testaments – gebildet wird."
Der Raum wirkt wie das Holodeck aus der Science-Fiction-Serie Star Trek – nur dass hier keine reale Welt simuliert wird, sondern die geistige Welt der Bibel. Sie vermittelt ein Gefühl großer Weite und Freiheit. Das begeistert auch Dorothea Wendebourg:
"Dieser ganze Spannungsbogen von der Vereinsamung über das Verrücktwerden, das Fettwerden, das Vergammeln, das Nicht-mehr-weiter-wissen, bis hin zur Befreiung durch das Wort Gottes – das ist genial."
"Appetitanregende Ausführungen"
Der Comic findet viele starke Bilder: vom Abwägen des Papstes, ob dieser Martin Luther dem Bau seines Petersdoms gefährlich werden kann, bis hin zu den brutalen Bauernkriegen, die eine Folge der Reformation waren. Auch wegen dieser Bilder empfiehlt die Berliner Theologin Dorothea Wendebourg die Comicbiografie:
"Da ist man auf einer Ereignisebene gut über Luther informiert und man hat immerhin appetitanregende Ausführungen auch über die theologischen Zusammenhänge. Ich würde schon sagen: Für jemanden, der mehr will, sind da genügend Fäden ausgelegt, an denen man weitergehen kann."