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Comics blicken auf die Literaturklassiker

Der Comic als Transportmedium für Literatur: Zahlreiche Adaptionen von Literaturklassikern belegen kommen auf den Markt. Und viele davon sind mehr, als nur die Vermittlung schwerer Inhalte an junge Zielgruppen.

Von Angela Gutzeit |
    Graphic Novel im Comic Salon Erlangen
    Graphic Novel im Comic Salon Erlangen (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Den Weg geebnet für die Anerkennung der Graphic Novel in Deutschland haben insbesondere zwei autobiografische Bildgeschichten: Art Spiegelmans Holocaust-Comic "Maus. A Survivor's Tale" von 1986, und in Anlehnung an Spiegelman der 2004 erschienene französische Comic "Persepolis" der Künstlerin Marjane Satrapi über die Gewaltverhältnisse in ihrem Herkunftsland Iran. Der Kölner Comic-Experte Klaus Schikowski markiert diesen Wendepunkt folgendermaßen:

    "Also, ich würde sagen, ein ganz, ganz wichtiger Band war "Persepolis" von Marjane Satrapi. Dieser Band hat, glaube ich, Vielen die Augen geöffnet und man hat gesehen, da wird ein Thema erzählt, ein interessantes Thema, was viel mehr Leute anspricht, die vorher vielleicht überhaupt keine Berührungspunkte mit Comics hatten. Die auch gesagt haben: Nee, Comics interessieren mich einfach nicht. Das sind komische Geschichten. Aber dieser Band war alles andere als komisch. Er ist vor allen Dingen toll erzählt. Und das ist das Besondere an den Graphic Novels. Ich glaube einfach, das Thema, das eine Graphic Novel hat, kann viel mehr Leserkreise ansprechen als es jetzt der normale Comic in Abgrenzung dazu tut mit seiner Formelhaftigkeit."

    Autobiografische und autofiktionale Stoffe im Comic - das ist das eine Erfolgsrezept, um den Comic in Deutschland als Kunstform zu etablieren. Das andere ist die Adaption oder Interpretation von Literaturklassikern, bei uns eine neue Entwicklung seit der Jahrtausendwende. Einen entscheidenden Anteil an ihrer Nobilitierung und Etablierung hat das gehobene Feuilleton der deutschen Tages- und Wochenzeitungen. Ihm und etlichen Wissenschaftlern, Medien- und Kunstprofessoren ist es zu verdanken, dass Literaturcomics mittlerweile auf ähnlichem Niveau wie Belletristik wahrgenommen und rezensiert, das spezifische Potenzial dieser Gattung herausgearbeitet und die Spreu vom Weizen getrennt werden.

    So fanden in den vergangenen Jahren zum Beispiel große Beachtung: "Fräulein Else" von Manuele Fior nach der Novelle von Arthur Schnitzler, "Gemma Bovery" von Posy Simmonds nach Motiven von Gustave Flauberts Roman "Madame Bovary", Kafkas "Die Verwandlung" von Éric Corbeyran und Richard Horne sowie Kafkas "In der Strafkolonie" von Sylvain Ricard und Mael. Auch "Die Ballade von Seemann und Albatros" von Nick Hayes nach den Versen von Samuel Taylor Coleridges "The Rime of the Ancient Mariner" war ein wichtiger Titel.

    Und mit Staunen wird verfolgt, wie der französische Zeichner Stéphane Heuet seit zwölf Jahren Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" Band für Band adaptiert. Zu vermuten ist, dass Heuets Lebenszeit für dieses Wahnsinnsprojekt nicht ausreicht.

    Auch großartige deutschsprachige Künstler gibt es, die auf dem Gebiet der grafischen Erzählung mittlerweile große Anerkennung genießen wie Nicolas Mahler, Birgit Weyhe, Flix oder Isabel Kreitz.

    Neben Verlagen wie Carlsen, Avant und Knesebeck, die dem anspruchsvollen Comic in Deutschland eine Bresche schlagen, ist es der kleine Berliner Reprodukt-Verlag, der sich seit nun 21 Jahren als Trüffelschwein auf dem weiten Feld der Neunten Kunst betätigt. Jutta Harms von Reprodukt sieht interessante Entwicklungen bei der literarischen Graphic Novel auch im deutschsprachigen Raum, wobei sie die ästhetische Eigenständigkeit gegenüber der literarischen Vorlage für unverzichtbar hält.

    "Sascha Hommer hat Erzählungen von Brigitte Kronauer adaptiert in Zusammenarbeit mit der Autorin. Also, sie hat die Textauswahl getroffen. Und das ist tatsächlich eher eine ästhetische Interpretation als eine Illustration. Das ist für uns ein entscheidender Unterschied. Wir haben überhaupt kein Interesse an illustrierten Klassikern. Das können andere gern machen. Aber uns interessiert die Beschäftigung mit Literatur nur dann, wenn sie zu einer eigenständigen Arbeit führt. "Alte Meister", von Nicolas Mahler adaptiert, gefällt mir sehr gut. Was vermutlich daran liegt, dass sich einfach auch verwandte Geister treffen in Thomas Bernhard und Nicolas Mahler."

    Der Österreicher Nicolas Mahler ist in der Tat ein herausragender Künstler. Thomas Bernhards ewige Österreichgrantelei, die in seinem Roman "Alte Meister" der 82-jährige Musikkritiker Reger übernimmt, hat Mahler als zutiefst komische Farce gestaltet. Er hat das Kunststück vollbracht, in die Rahmenhandlung, die er unangetastet gelassen hat, mit sparsamem Strich und wenig Bernhard-Text Pointen zu setzen, die einerseits den ästhetischen Kern der Prosa herausarbeiten, ihm aber andererseits durch Montage eine eigene Färbung geben. Mahler findet diesen Reger, der seine Frau verloren hat und der seit 30 Jahren jeden Tag - bis auf montags - im Kunsthistorischen Museum Wien im Bordone-Saal vor einem Tintoretto sitzt und über die Scheußlichkeiten in der Kunstwelt räsoniert, irrwitzig wie wohl auch ein bisschen tragisch. Und so hat er ihn mit wenigen schwarzen Schraffuren von der Rückenansicht her als Halbkugel mit breitem, platten Hut auf einer Bank sitzend gezeichnet, während Irrsiegler, der Burgenländer Museumswärter, immer mal wieder von rechts nach links oder von links nach rechts durchs Bild eilt. Einzig mit der Farbe Gelb werden immer wieder Akzente gesetzt, um die wahnhaften Ausschweifungen Regers ins Bild zu rücken - oder die Absperrungsseile zu akzentuieren, die sich über mehrere Seiten hinziehen können - eine intelligente Lösung, um das Wiederholungsprinzip bei Bernhard zu betonen. Nicolas Mahler zu seiner Herangehensweise:

    "Der Punkt war eben, diese 'Alten Meister' ins Bild zu bringen und die für Bernhard typischen Wiederholungen im Text zu streichen und auf die Bildebene zu holen. Im Prinzip ist ja bei Bernhard eine Wiederholung eine Wiederholung eine Wiederholung! Und von den ganzen Wiederholungen nehme ich mir quasi eine Phase heraus."

    Und das ist Nicolas Mahler hervorragend gelungen. Das Buch des Comiczeichner, der unter anderem bei Reprodukt veröffentlicht hat, ist als Auftakt einer neuen Comic-Reihe bei Suhrkamp erschienen. In Kürze wird dort Marcel Beyers "Flughunde" in der Bearbeitung der Zeichnerin Ulli Lust herauskommen. Nach eigener Verlautbarung will der renommierte Verlag damit weitere Leser gewinnen, die er so an die Originalliteratur seiner Hausautoren heranzuführen hofft. Der Literaturcomic also als Brücke? Als Auftragsarbeit, um eventuell damit Schüler und Studenten zum Lesen zu motivieren? Wird das dem Comic gerecht? Nicolas Mahler gibt sich gelassen:

    "Das ist ein großes Thema. Ich hab es ja eigentlich gemacht ohne Hintergedanken. Es ist natürlich ein Trend, dass man Literatur adaptieren kann. Aber es war auch so, dass man früher, auch wenn man gewollt hätte, hätte man nie die Möglichkeit gehabt, Thomas Bernhard zum Beispiel von seinem Originalverlag autorisiert, zu adaptieren. Das wäre vor zehn Jahren eine undenkbare Vision gewesen. Also, ich wollte jetzt nicht die Leserhilfe für den Bernhard legen, sondern einfach ein Buch machen, das mich interessiert. Und für den Verlag ist es schon so, dass sie damit Leser heranführen wollen an große Autoren."

    Der Berliner Zeichner Felix Görmann, der in seinem Vornamen kurzerhand das "e" fallen ließ und so zu Flix wurde - also Flix-, dessen Stern gerade am deutschen Comichimmel aufgeht und der sich beim diesjährigen Erlanger Comic-Salon einen der begehrten Preise abgeholt hat. Flix hält es keineswegs für ehrenrührig, dass seine Comics mittlerweile als Unterrichtshilfe eingesetzt werden. Im Gegenteil. Seine leidvolle Schulerfahrung hat ihn erst zu seiner eigenen "Faust"-Interpretation in Comic-Form motiviert:

    "Ja, ich habe natürlich - wie viele Schüler auch - "Faust" im Deutschunterricht lesen müssen und hatte damals eine ziemlich strenge Deutschlehrerin, die sehr interpretationskonservativ war und nur das hat gelten lassen, was man in der Sekundärliteratur auch nachlesen hat können. Und da bin ich mit meinen Ideen gegen die Wand gelaufen, bis ich irgendwann so wütend war, dass ich gesagt habe: Okay, dann schreibe ich meinen eigenen "Faust"!"

    Das hat Flix gemacht. Erst als Fortsetzungsgeschichte für die FAZ und dann in Buchform für den Carlsen-Verlag. Endlich konnte der Künstler den Goethe-Stoff so darstellen, wie er ihn immer gesehen hatte - nämlich als wahnsinnig witzig. Dieses vergebliche Streben des Menschen, das immer nur als tragisch interpretiert wurde, so Flix, ist das nicht in Wirklichkeit komisch? Flix hat die Protagonisten in unsere Gegenwart geholt und im Berliner Prekariatsmilieu verortet. Aus dem Teufel machte er einen Volltrottel, dem der Seelenfang einfach nicht gelingen will. Und aus Gretchen eine Muslima. Und Faust selbst?

    "Am Anfang war Faust - also, in der ersten Version war er so, wie ich mir ein Studentenleben vorstelle, also ein Dauerstudent sozusagen, der nach Wissen strebt. Und in der zweiten oder jetzigen Variante ist er eigentlich jemand, der Juristerei, Medizin, Theologie und Philosophie studiert hat. Und ich dachte mir, wer so viel studiert hat, wird eben heutzutage ganz klar Taxifahrer! Und das ist er dann eben auch - ein studierter Mann, der durch die Weltgeschichte reist."

    Flix sprüht vor Einfallsreichtum, was Form und Inhalt angeht: Gott sitzt am Computer, um an seinem neuen Schöpfungsprogramm zu arbeiten. Der Teufel kommt ihm laufend in die Quere. Seine Wette mit Gott, Faust vom guten Wege abzubringen, zieht auf Erden ein Desaster nach dem anderen nach sich. Die Panels, also die einzelnen Kästchen dieses Schwarz-Weiß-Comics, sind mal seitenfüllend, mal klein aneinandergereiht. Mal fehlt die Schrift, wo das Bild für sich spricht, mal ist das Bild schwarz oder nur ein Wort eingefügt, wo Funkstille herrscht und der Kontakt weg ist zwischen den Figuren. Mal ist die Schrift klein in Sprechblasen eingefangen, mal riesengroß als Ausdruck einer Katastrophe. Dabei dominiert die flotte Alltagssprache aufs Drolligste, angereichert mit den Verweisen auf den Klassiker, wenn zum Beispiel Faust und nicht der Teufel plötzlich schreit. "Ich bin der Geist, der stets verneint!"

    Flix hat jetzt ganz neu einen weiteren Literaturklassiker vorgelegt: "Don Quijote" nach Miguel de Cervantes berühmtem Romanwerk aus dem 17. Jahrhundert. Den Ritter von der traurigen Gestalt gestaltete er als Geisterseher, der in unserer heutigen Welt im Osten Deutschlands unter anderem gegen einen Windpark ankämpft und die Investoren für Raubritter hält. Gejagt von angstvollen Visionen, entgleitet dem alten Mann zunehmend die Realität. Seinen absurden Fantastereien kann nur noch sein kleiner Enkel folgen. Der eingebildete Ritter stirbt schließlich an Alzheimer in einem Pflegeheim.

    Auch diese Comicgeschichte über den reitenden Narren, der unsere heutige Welt ganz anders sieht und erlebt als seine vernunftbetonte Umwelt, hat Flix in Form und Inhalt frei und eigenwillig gestaltet. Beide Bände kommen in gelber Reclam-Aufmachung daher. Eine witzige Aufforderung zum Studium der Klassiker in anderem Gewand. Und in der Tat - über die Nachfrage aus Schulen und Universitäten kann sich Flix nicht beklagen:

    "Ich krieg Feedback von Lehrern, die das eben nutzen und als Einstieg in das Thema zum Beispiel nutzen oder als Vergleich. Ich werde immer wieder mit E-Mails von Schülern oder Studenten kontaktiert, die Hausarbeiten darüber schreiben, sich quasi mit dem Comic auseinandersetzen. Es gibt mittlerweile auch Bachelor- und Magisterarbeiten, die sich mit dem Comic beschäftigen. Die Comicforschung hat sich dem Ganzen angenommen. Ich mache auch Lesungen in Schulen, die, also sagen wir mal, na ja, als zusätzlichen Kontakt im Lehrplan angesetzt werden, damit Schüler zum einen mal sehen, dass hinter dem Werk auch jemand steckt. Das ist das eine. Und zum zweiten auch, um sich noch mal auf einer anderen Ebene mit dem "Faust" auseinanderzusetzen."

    Auch die 1969 in München geborene Zeichnerin Birgit Weyhe erzählt, dass ihr "Reigen" nach Arthur Schnitzlers Bühnenstück "Der Reigen" im Geschichts- und Deutschunterricht der Elf- bis 13-Jährigen eingesetzt wird. Dabei übernimmt diese grafische Erzählung eigentlich lediglich das Konstruktionsprinzip von der literarischen Vorlage: Eine goldene Kette wird durch die stürmischen Zeiten des 20. Jahrhunderts von Menschen, die durch Zufall oder Verwandtschaft miteinander zu tun haben, weitergegeben - wobei sich am Ende der Kreis schließt. Birgit Weyhe, mitten im Gewühl des diesjährigen Erlanger Comic- Salons am Stand ihres Avant Verlages, berichtet über den Entstehungsprozess ihres großformatigen 190-Seiten-Buches:

    "Es gab zunächst eine Geschichte und das war die mit "Erna Schulze und dem Vogel". Bei Schnitzler ist es so, dass immer zwei Protagonisten aufeinandertreffen und jeweils einer kommt in der nächsten Szene wieder vor. Und da geht es eben um Beziehung und Sexualität. Das war etwas, was mich überzeugt hat und das als Folie da war - eben dieses Reigenprinzip bei Schnitzler."

    Die Figuren sind auf recht einfache Weise in Schwarz-Weiß gezeichnet. Fast statisch wirken sie und doch ergibt das Zusammenspiel von sparsamem, großgedrucktem Text und dem Mienenspiel der einzelnen Charaktere eine ausdrucksstarke Geschichte über Schicksale von Menschen in Kriegen und Konflikten auf verschiedenen Kontinenten.

    Gerade wurde der 150. Geburtstag Arthur Schnitzlers gefeiert. Eine Graphic Novel pünktlich zum Jubiläum des berühmten Dramatikers und Romanciers der Wiener Moderne erhöht natürlich die Aufmerksamkeit für dieses Genre und seine Möglichkeiten. Im Herbst wird dann noch "Die Traumnovelle" von Arthur Schnitzler folgen als literarischer Comic des Grafikers Jakob Hinrichs, herausgegeben von der Edition Büchergilde. Birgit Weyhe lästert ein wenig über diese erfolgreiche Liaison von Comic und hoher Literatur:

    "Also, ich bin natürlich als Comiczeichnerin komplett entzückt, dass der Comic aus dieser Kicher- und Schmuddelnische rausgeholt wird und gesehen wird als ein eigenständiges Medium. Aber ich finde, das ist etwas typisch Deutsches: Es muss über den Weg der gehobenen Literatur gehen! Dann dürfen wir es auch ernst nehmen - so, wie die SZ es jetzt auch als Buchausgabe rausgibt. Dann ist es auf einmal da. Ich finde nicht, dass alle Literaturadaptionen immer so gelungen sind, weil Literatur ist immer schon per se sehr fertig und sehr gut."

    Da hat sie recht. Nicht alle Literaturadaptionen sind so gut gelungen - und zwar aus verschiedenen Gründen. Den ersten weiß sehr präzise der Berliner Comic-Künstler Flix zu nennen:


    "Ich habe manchmal den Eindruck, dass Zeichner meinen, es reicht, einen Originaltext zu nehmen, zu zerpflücken in einzelne Sätze und die jeweils mit Bildern zu unterlegen, um dann eine gelungene Klassikadaption zu haben. Und das funktioniert nicht - weil, da fehlt einfach etwas! Das kann nur schlechter werden als das Original. Die meisten Klassiker sind ja Klassiker, weil sie so gut sind - so was ganz Archetypisches erzählen. Und diesen Kern gilt es, irgendwie rauszuarbeiten und darzustellen und eben mit einer eigenen Aussage anzureichern. Wenn man das nicht schafft oder dafür keine Idee hat, wie man das machen könnte, dann sollte man eigentlich meiner Meinung nach von Klassikern die Finger lassen, weil besser werden sie dadurch nicht."

    Ein weiterer Grund für das Scheitern kann sein, wenn sich ein Zeichner zwar eng an die literarische Vorlage hält, aber die Vielschichtigkeit der Sprache sich nicht in den Bildern widerspiegelt. So bietet das französische Comicduo Corbeyran und Horne in ihrer grafischen Annäherung an Kafkas "Verwandlung" zwar einen interessanten Seitenaufbau mit dynamisch gezeichneten Szenerien, eingetaucht in eine düstere Hausatmosphäre. Aber dass Gregor Samsa als ekliger Käfer in der Draufsicht zu sehen ist, verflacht die Geschichte. Bei Kafka wird sie zumeist aus der Innenperspektive des bedauernswerten Helden erzählt, und es wird in dieser Erzählung auch nicht ganz deutlich, in welches Insekt sich Samsa verwandelt hat. Von einem "ungeheuren Ungeziefer" ist die Rede. Diesen traumatischen Zustand kann diese Graphic Novel nicht annähernd umsetzen.

    Die englische Künstlerin Posy Simmonds hat zwar für ihre Übertragung von Flauberts "Madame Bovary" in die heutige Zeit eine gute Idee und geschlossene Story geliefert. Aber sie hat ihre Geschichte über Ehebruch und Lebenslügen in den Panels oder zwischen den dann auch wieder freistehenden Zeichnungen völlig zugetextet. Und leider hat man das Gefühl, dass die Bilder eigentlich nur noch darstellen, was der Text uns gerade erzählt. Aber im richtigen Spannungsverhältnis zwischen Text und grafischer Darstellung liegt ja eigentlich gerade die Kunst des Comics.

    Und das beherrscht der italienische Künstler Manuelle Fiore in seiner Graphic Novel "Fräulein Else" nach der gleichnamigen Schnitzler-Novelle mit traumwandlerischer Sicherheit. Ein künstlerisches Meisterwerk, an Gustav Klimt und Egon Schiele orientiert, dass in das Ambiente und in die Mode der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts eintaucht und dennoch durch eine perfekte Kommunikation von Bildern und Sprache etwas Allgemeingültiges zum Ausdruck bringt.

    Bei der Proust-Adaption des bretonischen Zeichner Stéphane Heuet, der brav einen Band der "Verlorenen Zeit" nach dem anderen umsetzt, fehlt es dagegen erkennbar an Inspiration. Die Figurendarstellung wirkt bieder, die Seitengestaltung recht monoton. Prousts Anliegen in diesem Mammutwerk, dem Wesen der Erinnerung nahe zu kommen, hat hier keine Lösung gefunden. Vielleicht ist das angesichts der Vielschichtigkeit der Proustschen Sprache auch gar nicht möglich. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte sagte zum Versuch der Bebilderung, Prousts Sprache sei wie ein teures Parfüm, das man ungern am Hals einer Küchenhilfe schnuppere. Aber vielleicht bietet diese französische Graphic Novel angesichts der Tatsache, dass Prousts "Recherche" weder von Alt und wohl noch weniger von Jung gelesen wird, zwar keine Brücke hin zum Original, aber doch so etwas wie eine Inhaltsvermittlung.

    Auch bei den ausgesprochenen Jugendbuchklassikern sollte gelten, was für alle anderen literarischen Graphic Novels auch gilt: Alles steht und fällt mit der Qualität der Umsetzung. Wobei man fairerweise sagen muss, die hier kritisierten Graphic Novels haben in den Feuilletons durchaus auch ihre Befürworter. Zugestehen muss man auch: Eine reine Adaption, die nah an Inhalt und Text bleibt, muss nicht schlechter sein als eine freie künstlerische Interpretation. Gerade wenn sie sich an Kinder und Jugendliche wendet, kann es sinnvoll sein, eine gewisse Balance zu halten zwischen künstlerischem und pädagogischem Anspruch. Der Kölner Comicexperte Klaus Schikowski ist da tolerant:

    "Der Comic ist natürlich auch ein Medium, was sehr gut andere Stoffe transportieren kann. Und diese didaktischen Zwecke, die sind ja nun nicht neu im Comic. Wir haben das ja schon sehr, sehr häufig gehabt in der Comicgeschichte, dass es Literaturadaptionen wie die "Illustrierten Klassiker" gab oder die Klassikcomics, wo dann auch noch hinten drin stand: Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann lest doch das richtige Buch. Also, diese didaktischen Zwecke, die bringt das Medium so mit sich. Und da muss man vielleicht doch ein wenig unterscheiden zwischen einem originären Comictext und einer Adaption. Der originäre Comic, der möchte doch noch etwas anderes, als nur eine Funktionalität darstellen. Und bei der Adaption ist das halt einfach oft so, wenn der künstlerische Impuls fehlt, dann ist es nur eine Funktionalität, die zugeschnitten ist auf Schüler, um ihnen in der Regel dann auch den Zugang zum Klassiker ein wenig zu erleichtern."

    Aber der Zugang zu den Klassikern sollte trotzdem ein intelligenter sein, das heißt, es sollte die Vielschichtigkeit der literarischen Vorlage berücksichtigt und nicht mit der Verbildlichung gleichzeitig eine Verflachung bewirkt werden.

    Nehmen wir als Beispiel die Brockhaus Literaturcomics. Erschienen sind in dieser Reihe seit Anfang des Jahres folgende Adaptionen: "In 80 Tagen um die Welt" von Jules Verne, "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe, Homers "Odyssee", "Don Quijote" von Miguel de Cervantes und Robert Louis Stevensons "Die Schatzinsel". Wer jemals diese Klassiker der Jugendjahre gelesen hat, kann von diesen Umsetzungen eigentlich nur enttäuscht sein: Allzu stereotyp ist die Figurenzeichnung von den guten und den bösen Menschen im "Schatzinsel"-Comic. "Don Quijote" schaut auf die immer gleiche Weise, nahezu versteinert aus fast jedem Panel. Diese spezielle Mischung aus Komik und Tragik, auf die es ja ankommt bei dieser Cervantes-Figur, und die in Flix' "Don Quijote"-Comic im Vordergrund steht, geht dieser Adaption völlig ab. Und in der Umsetzung von Jules Vernes Reise um die Welt in 80 Tagen taucht das, was Jules Verne eigentlich ausmacht und auch hinten im Buch in einer Einführung zu Werk und Autor geschrieben steht, so gut wie gar nicht auf - nämlich, dass Verne ein Technikfreak und ein Zukunftsvisionär war und dass seine Romane von diesem Geist erfüllt sind.

    Ob Jugendliche, die diese Comics gelesen haben, danach zum Klassiker greifen, muss sich noch zeigen. Wenn sie es allerdings bei diesen Comics belassen, werden sie keinen Schimmer haben von den prächtigen Abenteuern, die in ihnen schlummern. Insofern ist es ja schon konsequent, dass die französischen Zeichner dieser Literaturadaptionen auf dem Titelbild gar nicht genannt werden.

    Und da es bei diesem Genre zu jedem uninteressanten Beispiel auch ein interessantes gibt, seien zum Schluss noch die wunderbaren Erich Kästner-Comics der Hamburger Künstlerin Isabel Kreitz erwähnt, die Anfang Juni in Erlangen mit dem Max- und Moritz-Preis zur besten deutschen Comiczeichnerin 2012 gekürt wurde. Der Dressler Verlag hat von ihr Kästners "Der 35. Mai", "Pünktchen und Anton" und nun "Emil und die Detektive" zeichnen lassen. Ein Hochgenuss, nicht nur für Urberliner, wie Kreitz in Anlehnung an die Originalillustrationen von Walter Trier die Rasselbande gestaltet, die den Dieb verfolgt, der Emil das Geld für die Oma in der Bahn gestohlen hat. Der Comic bürstet Kästners Geschichte keineswegs gegen den Strich, bleibt sogar dem etwas biederen Kästner-Ambiente treu, aber taucht mir Witz und Charme tief ein in die Berliner Welt der 20er-Jahre.

    Schade, dass man im Radio keine Bilder zeigen kann. So begnügen wir uns mit einem kurzen akustischen Ausschnitt. Emil hat gerade einen Freund gefunden, der ihm helfen will:

    "- "Ich finde die Sache mit dem Dieb knorke! Große Klasse! Wenn du nichts dagegen hast, helfe ich dir!"

    - "Da wäre ich dir aber kolossal dankbar! Ich heiße Emil!"

    - "Quatsch nicht, Krause! Ehrensache! Ich heiße Gustav!"

    - "Mensch, Gustav, hast du nicht noch ein paar Freunde, die du herholen könntest?"

    - "Die Idee ist hervorragend! Wenn ich durch die Höfe sause und hupe, ist der Laden gleich voll! Ich mach schnell, verlass dich drauf!"

    - "Was ist los?"

    - "Erklär ich euch unterwegs! Mir nach Leute!""

    Halten wir die simple Erkenntnis fest: Es gibt gute und schlechte Literaturcomics, wie es eben gute und schlechte Bücher gibt. Den Literaturcomics gemeinsam ist, dass sie sich auf einen sogenannten Hypotext beziehen, auf eine literarische Vorlage. Die Frage ist, auf welchem Niveau die Künstler mit dieser Vorlage kommunizieren. Die Spannbreite ist da sehr groß, wie Monika Schmitz-Emans in ihrem Aufsatz "Literaturcomics zwischen Adaption und kreativer Transformation" betont. Mal steht die Vermittlung von textbezogenem Wissen im Vordergrund, so die Wissenschaftlerin, mal das parodistische Spiel mit dem Leser. Alles ist möglich. Und es macht Sinn, dass in Zeiten, wo es ein Neben- und Ineinander gibt von Internet, Film und Druckerzeugnissen, in einer Zeit, in der Bilder unsere Alltagswelt zunehmend dominieren, auch der anspruchsvolle Comic als eigenständiges Kunstgenre wahrgenommen und anerkannt wird. Spät, aber unübersehbar ist er nun auch in Deutschland - über den Weg der literarischen Graphic Novel - im Bildungsbürgertum, in den Feuilletons, in den Schulen und Hochschulen angekommen. Vielleicht büßt er damit erst einmal seine ursprüngliche Frechheit, Sinnlichkeit und Widerständigkeit á la Robert Crumb, des großen amerikanischen Underground-Zeichners, ein. Aber die Möglichkeiten des Comics - speziell bei uns im deutschsprachigen Raum - sind ja noch lange nicht ausgeschöpft.

    Literaturinfos:
    • Thomas Bernhardt: "Alte Meister", gezeichnet von Nicolas Mahler. Suhrkamp Verlag 2011.
    • Flix: "Faust. Der Tragödie erster Teil. Eine Neuinszenierung von Goethes "Faust". Carlsen Verlag 2010.
    • Flix: "Don Quijote". Eine Neuinszenierung von Miguel de Cervantes "Don Quijote de la Mancha". Carlsen Verlag 2012.
    • Birgit Weyhe: "Reigen". Nach Arthur Schnitzlers Bühnenstück "Der Reigen". Avant-Verlag 2011.
    • Erich Kästner: "Emil und die Detektive". Ein Comic von Isabel Kreitz. Cecile Dressler Verlag 2012.
    • Nick Hayes: "Die Ballade von Seemann und Albatros. Nach der Ballade "The Rime of the Ancient Mariner" von S. T. Coleridge in der Übersetzung von Henning Ahrends. Mare Verlag 2012.
    • Marcel Proust: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Adaptiert und gezeichnet von Stéphane Heuet. Knesebeck Verlag. Deutsche Fassung von Kai Wilken. Bislang 5 Bände.
    • Posy Simmonds: "Gemma Bovery". Nach Gustave Flauberts Roman "Madame Bovary". Aus dem Englischen von Annette von der Weppen. Reprodukt Verlag 2011.
    • Corbeyran/Horne: "Die Verwandlung". Von Franz Kafka. Comic. Knesebeck Verlag 2010.
    • Sylvain Ricard/Mael: "In der Strafkolonie". Nach Franz Kafka. Comic. Knesebeck Verlag 2012.
    • Manuele Fior: "Fräulein Else". Nach der Novelle von Arthur Schnitzler. Süddeutsche Zeitung Bibliothek 2012.
    • Jules Verne: "In 80 Tagen um die Welt. Brockhaus Literaturvomics 2012.
    • Robert Louis Stevenson: "Die Schatzinsel". Brockhaus Literaturcomics 2012.
    • Miguel de Cervantes: "Don Quijote". Brockhaus Literaturcomics 2012.
    • Daniel Defoe: "Robinson Crusoe". Brockhaus Literaturcomics 2012.
    • Klaus Schikowski: Die großen Künstler des Comics. Verlag Edel 2009.
    • Monika Schmitz-Emans: "Literatur-Comics zwischen Adaption und kreativer Transformation". In: "Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums". Hrsg. u.a. von Stefan Ditschke. Transcript Verlag 2009.