Auf dem Schreibtisch liegt eine Beschwerde an das Sozialministerium: Ein Bürger behauptet, irrtümlich keine Pensionszahlungen mehr zu erhalten. Wir – als Spieler - werfen einen Blick auf die täglich wechselnden Vorschriften zum Umgang mit Bürgereingaben. Dann lassen wir den Stempel auf das Papier sausen. Der Antrag ist abgelehnt, der Aktenvorgang wird geschreddert, der Antragsteller einem Exekutionskommando übergeben.
In "Beholder 2" erhalten die Spieler für die vorschriftsmäßige Bearbeitung jedes Antrags Geld. Und das brauchen sie dringend, denn das Leben im dystopischen Staat Nord-Borea ist teuer – und wer seine Rechnungen nicht bezahlen kann, wird verhaftet.
Erinnerung an George Orwells Roman "1984"
Gehorsam scheint also eine Frage des Überlebens, wie auch schon im ersten Teil. Dort spielte der Blockwart eine recht "bürgernahe" Rolle und denunzierte die Mieter eines Wohnhauses. Im zweiten Teil schlüpfen die Spieler nun in die Rolle des jungen Ministerialbeamten Evan Redgrave, der die Bürgeranträge im Ministerium bearbeitet. Damit sind wir quasi das nächste Rädchen in diesem System von Bespitzelung und Bürokratie in einem autoritären Staat, das frappierend an George Orwells Roman "1984" erinnert.
Im Gegensatz zum ersten Teil steht in "Beholder 2" aber eine starke Storyline im Vordergrund – Evan Redgrave ist nämlich nicht irgendwer, sondern der Sohn eines hohen politischen Funktionärs, der bis zu seinem mysteriösen Tod zum engsten Kreis um den Diktator gehörte und maßgeblich an einem neuen Geheimprojekt beteiligt war. Um das Geheimnis seines Todes zu lüften, muss Evan in der Hierarchie des Ministeriums aufsteigen – und das geht nur, indem er sowohl seine Vorgesetzten, also auch seine Konkurrenten aus dem Weg räumt. Wir bespitzeln und intrigieren also neben unserer Schreibtischarbeit was das Zeug hält – immer wieder gibt es aber auch die Chance, sich mit den Kollegen anzufreunden und einen Kompromiss zu finden, indem man ihnen beispielsweise zur Flucht aus dem Land verhilft oder eine Versetzung bewirkt.
Spielerisch wenig herausfordernd
Das verlangt aber deutlich mehr Zeit und Energie ab als die Kollegen einfach bei der erstbesten Gelegenheit zu denunzieren, in die Drogenabhängigkeit zu treiben oder zum Selbstmord zu bewegen. Zumal einige von ihnen dasselbe Spiel treiben. Wer unvorsichtig vorgeht, sieht sich schnell einem Erschießungskommando gegenüber. Spielerisch ist "Beholder 2" im Grunde aber wenig herausfordernd – wir bewegen uns in einer dreidimensional gestalteten Umgebung auf einer simplen Links-rechts-Achse und interagieren per Point & Click mit der in düsteren Grau- und Brauntönen gehaltenen Umwelt. Im Vergleich zum ersten Teil ist der Schwierigkeitsgrad deutlich gesunken – war das Leben als Blockwart noch von permanentem Zeitdruck gekennzeichnet, hat der Spieler im zweiten Teil nun unendlich viel Zeit, um seine Entscheidungen abzuwägen.
Verantwortung für unser Handeln übernehmen
Die wahre Herausforderung in "Beholder 2" ist nämlich eine andere: Die Figuren in dieser Welt sind zwar allesamt als schwarze, gesichtslose Silhouetten gezeichnet, aber jede von ihnen ist ein liebevoll gezeichneter Charakter mit ganz eigenen Wünschen, Ängsten, Stärken und Schwächen. Die Entwickler der sibirischen "Warm Lamp Games"-Studios haben das Meisterstück vollbracht, die Nebencharaktere in "Beholder 2" so echt und lebendig zu zeichnen, dass es dem Spieler schwerfällt, ihre Existenzen den eigenen Spielzielen unterzuordnen und sie rücksichtslos aus dem Weg zu räumen. Stattdessen suchen wir immer wieder verzweifelt nach einem Weg, um die Probleme unserer von dieser dystopischen Welt bedrohten Mitmenschen zu lösen.
Trotz einfacher Spielmechanik und des geringen Schwierigkeitsgrades verlangt "Beholder 2" uns also in emotionaler Hinsicht einiges ab und stellt uns vor die gewaltige Herausforderung, Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Das dieses Aufbäumen gegen eine Welt voll Willkür und Kadavergehorsam vergeblich ist, macht "Beholder 2" zu einem intensiven Spielerlebnis.