Im tibetischen Buddhismus steht das Wort "Bardo" für einen Bewusstseinszustand zwischen Leben und Tod. Jesse Darlings Computerspiel zeigt keine Fantasywelten, in denen Abenteuer bestanden werden müssen, sondern eine Reise mit unbekanntem Ziel.
Jesse Darling: "Das Spiel basiert auf der Idee, dass die Epoche des Kapitalismus zuende geht. Man wählt Spielfiguren aus, die schon eigentlich schon tot sind - doch das weiß man am Anfang noch nicht. Sie sehen aus wie Scherenschnitte und fliegen durch eine graue Szenerie - immer wieder und wieder. Erst wenn sie mithilfe des Spielers herausfinden, dass sie tot sind, können sie die Zwischenwelt verlassen und gelangen zum nächsten Ort."
Jesse Darling stellt normalerweise Skulpturen aus. "Bardo" ist ihr erstes Computerspiel. Sie hat Fotos von städtischen Brachflächen mithilfe eines Computerprogramms so verfremdet, dass sie wie alte Grafiken aussehen.
Brachflächen statt Stadtzentren
"Die Bilder stammen von Google Streetview. Ich habe virtuelle Spaziergänge in drei Städten gemacht - London, Berlin und Palo Alto. Dabei habe ich mir nicht die Stadtzentren angeschaut, sondern Brachflächen wie den ehemaligen Flughafen Croyden in London. Früher war er das Luftdrehkreuz des britischen Empire, wo sich auch viele Firmen angesiedelt hatten - ein Symbol für Wachstum und technischen Fortschritt. Heute sieht man nur noch eine grüne Wiese. Es ist sozusagen alles wieder zu Erde geworden."
Dass es sich bei der Brache um einen ehemaligen Flughafen handelt, ist im Spiel allerdings kaum zu erkennen. Die Bilder erinnern an Radierungen von Gustave Doré, der im 19. Jahrhundert Dantes "Göttliche Komödie" illustriert hat. Auch dort gibt es ein Zwischenreich - das Fegefeuer, in dem sich entscheidet, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt.
Bei Jesse Darling gibt es keine Flammen, aber die Spielfiguren, die mit den Pfeiltasten der Computertastatur bewegt werden, stoßen immer wieder auf Zäune, Mauern oder Schranken, die sie weder überspringen, noch in die Luft sprengen können.
"In diesem Spiel gibt es keine Tricks. Man ist seinem Schicksal sozusagen ausgeliefert. Die Figuren bewegen sich auf einem vorgeschriebenen Weg. Das kann für den Spieler frustrierend sein, aber genau darum geht es ja. Man soll die Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, immer wieder im Kreis zu gehen."
Der Weg ist das Ziel
Im Gegensatz zu Computerspielen, in denen es darum geht Punkte zu sammeln, um möglichst schnell den nächsten Level zu erreichen, ist in Jesse Darlings "Bardo" der Weg das Ziel. Die Spielfiguren unterhalten sich untereinander und stellen dem Spieler Fragen. Doch egal welche Antworten man eintippt, man kann den Verlauf des Spiels nicht beeinflussen.
"Ich habe darüber nachgedacht, wie Videospiele aufgebaut sind. Man hat immer die Wahl zwischen A und B und kommt dann nach C. Der Spieler kann also keine freien Entscheidungen treffen. Das ist immer so - egal, wie ausgefeilt die Programmierung ist."
Genau diese Einschränkung macht Jesse Darlings "Bardo" bewusst. Für Freunde von Action-Spielen kann das frustrierend sein. Freunde des philosophischen Grübelns dürften aber ihren Spaß haben. Die Antworten, die man eintippt, werden von einem Poesie-Algorithmus in Gedichte verwandelt. Andere Eingaben beeinflussen die Farbtemperatur der angezeigten Bilder.
Wir sind nicht Gott
"Wenn wir das Spiel unter Kontrolle hätten und alles bestimmen würden, würde das doch bedeuten, dass wir uns mit Gott gleichsetzen. Wie wollen die Entscheidungen lieber den Algorithmen überlassen. Und das ist auch die Botschaft: Google ist in der heutigen, säkularen Welt das, was Gott am ehesten entspricht. Früher hat man gebetet, um eine Erleuchtung zu bekommen. Heute trägt man seine Frage einfach ins Suchfenster ein."
Doch auch diese Botschaft teilt sich eher indirekt mit. Die Zeichen und Zitate, die Jesse Darling in das Spiel eingebaut hat, entschlüsseln sich nicht auf den ersten, sondern eher auf den zweiten Blick. "Bardo" sollte nicht hektisch gespielt, sondern in Ruhe angeschaut werden.