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Computerspiel "Eastshade"
Pinsel statt Pistole

Vor knapp zehn Jahren erschütterte der Streit um sogenannte "Walking-Simulatoren" die Gamer-Welt. Entwickler veröffentlichten Spiele ohne Action-Elemente. Im Mittelpunkt stand die Erkundung der Spielwelt. "Eastshade" variiert diese virtuelle Entschleunigung mit einer ungewöhnlichen Spielmechanik.

Von Tobias Nowak |
Auf dem Bild ist ein Screenshot aus dem Computerspiel "Eastshade" zu sehen. Man blickt auf eine märchenhafte virtuelle Welt. Im Vodergrund steht eine Staffelei, auf der das arkadische Panorama abgebildet wurde
Kunst löst Knarren ab: Eine Szene aus dem Computerspiel "Eastshade" (Eastshade Studios)
"Hey, you have an easel! Are you an artist?"
Staffelei und Pinsel anstatt einer Maschinepistole - das ist neu in Computerspielen.
"That painting is amazing!!!"
Überbordende Schönheit
"Eastshade" heißt das Spiel und auch die Insel, auf der man anfangs nach einem Schiffbruch strandet. Eastshade ist nicht sehr groß, misst nur etwa einen Quadratkilometer, ist also mehr "open island" als "open world". Die geringe Größe wird aber durch überbordende Schönheit wettgemacht. Golden scheint die Sonne, silbern der Mond, das Licht leuchtet durch dichtes Laub, fällt auf fantastische Blumen, auf weiche Hügel und pittoreske Klippen. Das Audio-Design und die Musik unterstützen diese arkadische Stimmung. Diese Welt sieht aus wie sie klingt.
Menschenähnliche Tiere
Die Spielenden steuern eine Protagonistin, die auf die Insel Eastshade gekommen ist, um zu malen. Dabei begegnet sie anthropomorphischen Tieren, also Menschen mit Affen- und Hirschköpfen, manchmal auch Eulen oder Bären. Diese erzählen den neuesten Dorf-Tratsch, empfehlen schöne Aussichtspunkte, oder geben Hinweise, wo man Holz und Stoff für neue Leinwände finden kann; denn die muss man selber basteln. Am wichtigsten ist aber, um welche Gemälde die Inselbewohner bitten.
"I’m gonna use this for Mrs. Nica’s next paining. She loves art so much. […] She always likes my paintings. I bet she likes yours, too. She really likes the eclipse. You should draw her that!"
Also malt man ein Küstenpanorama, eine Dorfansicht oder eben eine Sonnenfinsternis. Wobei "malen" eine Übertreibung ist: Denn der Malprozess verlangt nur, einen Stellplatz für die Staffelei auszusuchen, in die gewünschte Richtung zu schauen, den Bildauschnitt festzulegen und auf der Tastatur "P" wie "paint" zu drücken – und innerhalb weniger Sekunden entsteht das Gemälde auf der Staffelei.
"Oh my! That painting… it’s the most perfect thing I have ever seen! I simply must have it."
Die Kunst der Bildschirmabbildung
Diese Gemälde sind also nur etwas aufgemotzte Screenshots, simple Abbilder dessen, was der Bildschirm gerade zeigt. Eine künstlerische Gestaltung der Motive ist nicht vorgesehen, nicht zuletzt, weil die Entwickler auch die künstlerisch untalentiertesten Spieler einbeziehen wollten. Und wer schon mal versucht hat, mit der Maus einen Smiley auf den Bildschirm zu zeichnen, kann bestätigen, dass Malen auf dem Computer eine Herausforderung ist. Aber es geht eigentlich gar nicht um das Malen oder die Gemälde, sondern um einen anderen Blick auf die Spielwelt.
"Great viewpoint, isn’t it? Look, the eclipse is starting."
Denn in den letzten Jahren sind Games optisch oft so opulent geworden, dass allein schon das Betrachten großes Vergnügen bereiten kann. Doch häufig kommt man vor lauter Action gar nicht dazu, die Spielwelt überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, zu genießen. In Reaktion auf diese Entwicklung entstand "screenshot art", eine "Kunst der Bildschirmabbildung", die sich bei Gamern großer Beliebtheit erfreut und Spielwelten in all ihrer Pracht zu zeigen versucht. Deshalb bieten viele Spiele heutzutage sogar einen Foto-Mode an. Diesen Trend treibt "Eastshade" auf die Spitze, indem das Erstellen der Screenshots bzw. "Gemälde" zum Spielinhalt wird. Schade ist, dass das Spiel dabei weniger Möglichkeiten zur Bildbearbeitung bietet, als jede Foto-App auf dem Smartphone.
"Oh, looky here! You gone and painted the gazebo here. Are you willing to sell it?"
"Eastshade" hält sich an viele Konventionen, was das Design der "open world" oder Dialoge angeht, tauscht aber gleichzeitig die in digitalen Spielen sonst oft zentrale Mechanik des Schießens gegen das Malen aus. Allein das ist schon eine lohnenswerte und erfrischende Abwechslung. Doch auch die wunderschöne Spielwelt und die besinnliche Atmosphäre tragen "Eastshade" über seine etwa sechs Stunden Spielzeit, selbst wenn man die Spielwelt nur erkunden möchte, ohne seinen künstlerischen Ambitionen nachzugehen.
"I think I might start a collection of paintings just like this! Can you image? A whole wall filled with paintings… of me!"