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Constable Country
Die Heimat des englischen Landschaftsmalers

Der Künstler John Constable malte leidenschaftlich gern Bilder seiner Heimat Suffolk. Sein berühmtes Gemälde "The Hay Wain" ist für viele der Inbegriff Englands. Heute kommen Touristen aus aller Welt, um sich die romantische Landschaft von Constable Country anzuschauen.

Von Manfred Schuchmann |
    Das Gemälde "The Hay Wain" von John Constable hängt in der National Gallery in London
    Das Gemälde "The Hay Wain" von John Constable (picture-alliance / dpa / Prisma / TPX)
    Der Blick des Malers an den Himmel dürfte mürrisch ausfallen - wolkenloses Blau. Was für ein schrecklicher Tag! Das war nun wirklich nicht sein Himmel, nicht der Himmel über Suffolk. Überhaupt sieht so kein englischer Himmel aus. Normalerweise.
    Wir nehmen an: John Constable klappt sein Skizzenbuch zu, was soll er auch mit diesem Einheitsblau? Langweilig. Blauer Himmel ist immer langweilig. Kein Wind spielt mit den Wolken, treibt sie über die heimatlichen Hügel, jagt sie über das Flüsschen seiner Kindheit, türmt sie zu Bergen auf. Hier kein Weiß, dort kein Grau, rein gar nichts. Niemals würde er seine Bilder in diesem Langeweile-Blau ausmalen! Schließlich hat er England die allerschönsten Landschaften und Wolkenszenen geschenkt. Er, John Constable R.A. - Mitglied der Royal Academy.
    Paul Armstrong und ich schieben unsere Räder über den knirschenden Kies im Kirchhof von Langham Church. Paul hat den durchtrainierten Körper eines leidenschaftlichen Radfahrers, trägt rosa Shorts, ein hellblaues T-Shirt, eine weiße Baseballmütze und am rechten Fuß so etwas wie einen wadenhohen Skistiefel aus Plastik. Achillessehnenverletzung. Hält ihn aber nicht davon ab, mir Constable Country vom Fahrradsattel aus zu zeigen - Constable Country, die Heimat des berühmtesten englischen Landschaftsmalers:
    "Viele von Constables Bildern seiner Heimat hat er vom Turm dieser Kirche aus gemalt, von hier sah er das ganze Tal von Dedham. Ein großartiger Aussichtspunkt. Vom Kirchturm aus hat er ungefähr dreißig oder vierzig seiner Bilder gemalt."
    "Der Inbegriff von englischer Landschaft"
    Langham Church ist eine kleine, gotische Dorfkirche aus grauen Feldsteinen mit einem einfachen Turm, sie liegt auf einer Anhöhe, etwas abseits der Häuser und sie schaut hinunter auf das Wiesental, gesäumt von Weiden und Erlen, kleine Baumgruppen hier und dort im Grün der Felder. Dedham Vale ist eine sehr englische Parklandschaft zu beiden Seiten des Flüsschens Stour, das zugleich die Grenze zwischen den Grafschaften Essex und Suffolk bildet. Paul Armstrong und ich steigen die hölzerne Turmtreppe hinauf: zu unseren Füssen liegt Constable Country:
    "Das Tal des Stour bei Dedham ist der Inbegriff von englischer Landschaft, und es sieht noch immer so aus wie zu Constables Zeit - Wiesen und Weiden, Wildblumen, die vielen Heckenreihen und natürlich das Flüsschen, das sich hindurchwindet. Wie auf Constables Bildern, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Und das nach zweihundert Jahren."
    Blick auf die Landschaft des Nationalparks North York Moors in Yorkshire
    Blick auf die Landschaft des Nationalparks North York Moors in Yorkshire (picture-alliance / dpa / Hermann Wöstmann)
    Der Wind rauscht in der hohen Lindenallee bei Langham Church, von fern rauscht auch der Verkehr auf der A12, die Colchester mit Ipswich verbindet, rund hundert Kilometer nordöstlich von London. Die A12 gab es zu Constables Zeit nur als Landstraße mit Pferdefuhrwerken und dann und wann einer Kutsche. Fuhrwerke spielen eine wichtige Rolle bei Constable; in seinem berühmtesten Bild, The Hay Wain, sogar die Hauptrolle:
    Der "Heuwagen" durchquert den Stour an einer Flachstelle, einer Furt, das Wasser reicht den hölzernen Rädern nicht einmal an die Naben, zwei schwarze Pferde ziehen den Wagen, leuchtend rot ihr Zuggeschirr, viel leuchtender noch als die Ziegeldächer und Kamine einer pittoresken Farm am Bildrand, von der der Blick nach rechts über das Flüsschen und in die Tiefe der Landschaft gleitet, hohe Eichen, schon leicht herbstlich verfärbt, buschiges Ufer, Wiesen und wieder Bäume, ein flacher Horizont und darüber englischer Himmel und Constables unnachahmliche Wolken. Das ist Merry Old England - Bilderbuch-England! Und genau deswegen kommen aus aller Welt Leute wie ich hierher, nur um durch die Bilder John Constables zu radeln:
    "Ich hatte schon Leute aus der ganzen Welt hier, Neuseeland war vielleicht das weiteste, dann etliche aus Fernost und natürlich aus Europa. Gerade die Besucher vom Kontinent wissen viel über Constable und kommen nur um seinetwillen."
    Es kommen am Wochenende auch viele kurz von der Metropole London herauf - kleine Fluchten auf's Land. Dann schwillt die Zahl der Range Rover und anderer hubraumstarker SUVs auf den schmalen Landsträßchen erheblich an und macht den Radfahrern das Leben schwer. Alle sind sie unterwegs nach Flatford Mill, der alten Mühle am Stour, und zu Willy Lotts Farmhaus - das ist das ziegelrote Gemäuer am linken Bildrand von John Constable's Haywain. Auch ich mache einen Abstecher nach Flatford Mill und bin einer unter vielen. Sehr, sehr vielen:
    "An einem normalen Wochentag kommen vielleicht zwei- bis dreitausend Besucher, am Wochenende zehn- bis fünfzehntausend. Ich war letzten Samstag hier und es kamen viele Leute von Dedham herübergewandert, in Dedham ging John Constable zur Schule. Es war fast ein wenig eng wegen all der vielen Besucher, wirklich eine Menge!"
    Berühmtes Heuwagen-Gemälde: The Hay Wain
    Bob Finch steuert auf ein freies Tischchen im Garten des Tearoom von Flatford Mill zu. Nicht so einfach, gegen Mittag hier einen freien Platz für seine Tasse Tee zu finden. Bob Finch ist ein großer Mann mit grauem Bart und einer roten Basecap auf den grauen Haaren. Unter ihrem Schirm hervor fixiert er mich mit professionellem Blick: Polizistenblick. Bob Finch war im früheren Leben Polizeioffizier, unter anderem in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong. Heute ist er Volunteer des National Trust, will heißen: er verbringt seinen Ruhestand damit, Leuten wie mir Flatford Mill zu zeigen. Und zwar unbezahlt wie all die tausende Freiwillige, die Besucher durch die Schlösser und Parks, Kirchen und historischen Fabriken aus Großbritanniens Geschichte führen, die vom National Trust betreut werden. Wir schlendern in Richtung jener Motive, die durch John Constables Bilder unsterblich geworden sind - Flatford Mill, die Mühle am Stour, und das alte Farmhaus des Willy Lott, gleich daneben:
    "Das ist also William Lotts Haus, Anfang des 17. Jahrhunderts aus zwei getrennten Gebäuden zusammengewachsen und heute das vermutlich meistfotografierte Gebäude in ganz England. Genau hier, wo wir stehen, ist die Schlüsselstelle für Constables Gemälde des ‚Haywain‘ - der Blick auf's Wasser und auf Willy Lotts Cottage."
    Portrait von John Constable, British (1776-1837)
    Der Maler John Constable lebte von 1776 - 1837 (picture-alliance / dpa / Liszt Collection)
    Ja, jetzt stehe ich mitten in John Constables unsterblichem Bild eines einfachen Heuwagens, der die Furt von Flatford Mill passiert, um auf den Wiesen im Hintergrund das frischgemachte Heu aufzuladen. Links kräuselt leichter Rauch aus dem Kamin von Willy Lott's Cottage. Alles sieht hier und heute so aus wie im Gemälde. Oder fast: das Pferdefuhrwerk fehlt natürlich in der Gegenwart; der Hund, der ihm vom Ufer hinterherschaut; der Rauch aus dem Kamin; das Mädchen, das Wasser schöpft aus dem Fluß. Aber Willy Lott's Haus steht mit seinen leicht buckligen Ziegeldächern da wie vor zweihundert Jahren, keine sichtbaren Spuren irgendwelcher Veränderung. Vielleicht hat der Cottage-Garten ja nicht ganz so verschwenderisch geblüht seinerzeit - es ist ja nur ein kleines Farmhaus, da wird neben der täglichen Arbeit von früh bis spät wenig Zeit geblieben sein für's schöne Gärtnern.
    "Wer immer an England denkt, hat dieses Bild vor Augen, überall auf der Welt. Dieses Bild, "The Hay Wain" - das ist England selbst."
    Noch immer rauscht die Mühle am Stour, ihr Rauschen war die Lebensmelodie des Malers John Constable. Wie der Wind in den Bäumen am Fluß, das Bellen der Hunde am Ufer, der schwere Schritt der Pferde vor den Fuhrwerken und den Booten, die sie den Fluß stromauf und stromab zogen, von Sudbury bis zur Mündung bei Manningtree und umgekehrt. John Constables Vater Golding Constable arbeitete in der Mühle seines Onkels, übernahm bald die Geschäfte und erbte Flatford Mill später. Als er selbst starb, hinterließ er seinen Kindern außer Flatford eine weitere Mühle bei Dedham, dazu zwei Windmühlen, einige Boote für den Warenverkehr auf dem Stour und zwei seetüchtige Schiffe. John Constable bezog aus den Erträgen seinen Anteil, was nur gut für ihn war, denn mit dem Verkauf seiner Bilder hatte er nicht viel Glück.
    "Irgendwann sieht man diese englische Landschaft nur noch mit Constables Augen"
    Innerhalb weniger Minuten stoße ich rund um die Mühle von Flatford auf ein halbes Dutzend weiterer Bildmotive aus Constables Repertoire - der "Blick auf den Stour nahe Dedham", "Ein Boot in der Schleuse", "Bootsbau bei Flatford Mill" und natürlich "Flatford Mill" selbst. Alle zwischen 1814 und 1826 gemalt, und zwar detailgenau, ja minutiös - je tiefer ich in seine Bilder hineinschaue, desto mehr entdecke ich in ihnen. John Constable war ein gewissenhafter Arbeiter an der Staffelei, jedes einzelne Blatt malte er nach der Natur, jeden Baum skizzierte er ein dutzendmal, bevor er ihn im Atelier auf die Leinwand brachte - ein romantischer Wahrheitssucher. Sein Zauber wirkt unwiderstehlich, irgendwann sieht man diese englische Landschaft nur noch mit Constables Augen, man lebt geradezu in seinen Bildern, sagt Bob Finch:
    "Yes, we live our lives walking through paintings when we are in this area."
    John Constable kam im Jahr 1776 in East Bergholt zur Welt, der Ort liegt zwanzig Gehminuten von der Mühle am Stour entfernt. Das allererste Atelier des Malers steht bis heute, ein winziges Häuschen mit einer Plakette an der Vorderfront:
    "John Constable's early studio, purchased 18o2. The East Bergholt Society."
    Der Vater des jungen Malers hatte ihm dieses Studio gekauft - ich vermute: weil Golding Constable den durchdringenden Geruch von Ölfarben und Terpentin nicht länger in den eigenen vier Wänden ertragen wollte. Und dann war Malerei in den Augen eines erfolgreichen Müllers und Unternehmers vermutlich auch eine hoffnungslos brotlose Kunst.
    Anders als das Studio ist John Constables Elternhaus längst verschwunden, aber durch seine Gärten kann man heute noch spazieren. Zumindest mit den Augen.
    "Schauen Sie hier: John Constable hat diese beiden Bilder von seinem Elternhaus in East Bergholt aus gemalt, eines von ganz oben, das andere aus dem ersten Stock. Einmal den Blumengarten seiner Mutter, dann den Gemüsegarten des Vaters. Im Hintergrund sieht man das Pfarrhaus, wo seine zukünftige Frau Maria mit ihrem Großvater lebte, weiter hinten die Mühle - so sieht es noch heute überall aus in Suffolk, die kleinen, roten Ziegelschuppen, die typischen Häuser. Alles heute noch zu sehen."
    "John Constable war ein Wetterexperte"
    Erica Burroughs ist stolz, erstens: dass sie genauso aus Suffolk stammt wie der bewunderte John Constable; und zweitens, dass ihr Haus, nämlich das Ipswich Burrough County Museum, gleich nach den weltberühmten Londoner Galerien - der National, der Tate und dem Victoria and Albert Museum - die meisten Arbeiten von John Constables besitzt, ein gutes Dutzend. Die beiden kleinen Gartenbilder liebt sie besonders, in ihnen schlägt das Herz von Suffolk. Man schaut von oben auf das Blumenrondell im mütterlichen Garten, auf die Staudenrabatten vor der schützenden Hecke - und jenseits des Gartens leuchten die Schuppen und Häuser im wärmsten Abendsonnenrot, goldene Kornfelder wogen, Baumriesen rauschen und über allem: aufziehende Wolken im sanftmatten Blau. Der Blick auf den väterlichen Gemüsegarten schweift noch weiter, als gleite man hinein in diese friedliche Landschaft und weithin bis zum Horizont. Durch Himmel und Wolken.
    "Diese weiten, weiten Himmel Ostenglands, diese Wolken, John Constable ist berühmt für diesen Himmel. Und er kommt aus einer Familie von Müllern - die hatten immer den Himmel und das Wetter im Blick. John Constable war ein Wetterexperte."
    Sir Richard Steele's Cottage, Hampstead A View of London, with Sir Richard Steele's House, John Constable, 1776-1837, British | Verwendung weltweit
    Sir Richard Steele's Cottage, Hampstead A View of London, with Sir Richard Steele's House, John Constable, 1776-1837, British (Liszt Collection)
    Ich sitze wieder auf dem Fahrrad und folge dem leichten Auf und Ab der Landschaft. Vor allem folge ich Paul Armstrong. Er radelt vor mir und trägt immer noch die Plastikmanschette über der lädierten Achillessehne, aber an der ersten strammen Steigung hängt er mich mühelos ab. Wir kurven nach Dedham hinein, Galerien, Antikläden, Immobilienmakler - Dedham gilt als posh, edelschick für besserverdienende Kundschaft. Paul Armstrong hält auf die Kirche zur Jungfrau Maria zu, die besitzt nämlich einen echten Constable. Einen mit Überraschungseffekt.
    "Constable hat nur drei Bilder mit religiösen Themen gemalt - und ich vermute, warum. Ist vielleicht ein bisschen gemein, aber er wäre besser bei seinen Landschaften geblieben. Immerhin bekam er 2oo Pfund dafür, war viel Geld damals."
    Hoch an der Seitenwand des wunderschönen gotischen Kirchenschiffs schwebt Christus aus schweren Wolken dem goldenen Licht entgegen. Verzeihung: aber er sieht einfach aus wie Ian Anderson von Jethro Tull in jüngeren Jahren und mit einem verknoteten Bettlaken um die Lenden. Ach, auch große Meister kriegen also schwache Bilder hin! Ein Bierbrauer aus der Umgebung hatte seinerzeit den Auftrag für diese "Himmelfahrt" gegeben, wer weiß für welche Sünden er damit büßte.
    Endstation am Deadham Boathouse. Wochenend-Ausflugsstimmung, eine kleine Menschenschlange steht geduldig vor dem Bootsverleih an, Rudern auf dem Stour ist risikofrei, das Wasser reicht selbst den Hunden nur bis zum Bauch. Kleine Kinder planschen am Ufer, Vanilleeis tropft von den Waffeln, auf karierten Picknickdecken räkeln Familien sich im Schatten der Bäume.
    Und siehe da: nach all den Tagen mit nichts als blauem Himmel kommen erste Wolken von der Nordsee hereingesegelt. Endlich Wolken, John Constables wunderbare Wolken! Keine Frage: jetzt würde er sofort sein Skizzenbuch aufklappen und diese Wolken zeichnen, seine geliebten Suffolk-Wolken am geliebten Himmel über England.