Chile schießt sich ins Finale der Copa América – nun wollen die Roten ihren ersten internationalen Titel holen. Ein lang ersehnter Traum, der hier, im Nationalstadion von Santiago, in Erfüllung gehen soll. Auch José Manuel Mendez fiebert mit der Selección, mit dem Nationalstadion aber verbindet der 70-Jährige einen Albtraum:
"Es gibt ein bekanntes Sprichwort: Männer weinen nicht. Aber hier haben wir alle geweint. Nicht aus Feigheit. Aber wegen allem anderen. Vor Hunger, vor Kälte, wenn wir an unsere Familien gedacht haben. Aber monatelang sahen wir hier nur den Rasen oder den Himmel."
Nach dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, im September 1973, wird Santiagos Nationalstadion zu einem riesigen Gefangenenlager - zum grausamen Folterzentrum für die Schergen der Pinochet-Diktatur. Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels hat die Ex-Gefangene Wally Kunstmann zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Die 73-Jährige führt zum Tribünenaufgang acht, vorsichtig steigt sie die Stufen in den dunklen Tunnel hinunter.
"Dies ist einer von insgesamt acht Aufgängen, in diese Tunnel waren 350, 400 Gefangene gepfercht. Diese Buchstaben, das sind Initialen, die Gefangene in die Wandgeritzt haben. Und hier Datumsangaben. Oder das hier, das sieht aus wie auf einem Grabstein, da läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Wer weiß, ob derjenige hier jemals lebendig wieder herausgekommen ist, wir kennen ja nur seine Initialen."
Berüchtigt: der Bunker
Die kleine, kurzhaarige Frau führt durch das 63 Hektar große Gelände. Etwas abseits liegt ein schneckenhausförmiges Kreisrund: der berüchtigte Bunker, ursprünglich eine Umkleide, noch heute sieht man dunkle Flecken auf dem Boden, Einschusslöcher in den kalten Betonwänden.
Der Grill, das U-Boot, der Hängende, der Brennstab - Wally beginnt, die Codenamen für Foltermethoden aufzuzählen. Entschlossen, das Grauen beim Namen zu nennen, das Tausende ihrer Compañeros und Compañeras erlitten haben. Unterstützung erhielten die chilenischen Folterer auch aus dem Ausland - viele der Schergen waren in der berüchtigten US-Militärschule "School of the Americas" ausgebildet worden.
"Das war der schlimmste Ort. Er war ausschließlich dazu gemacht, um Menschen zu brechen, zu zerstören. Viele meiner Compañeros leiden bis heute unter Traumata, psychischen Krankheiten, sind in Alkohol oder Armut abgestürzt."
Schätzungsweise 40.000 Menschen waren im Estadio Nacional inhaftiert. Das Stadion war Kern eines perfiden Systems, sagt der Historiker Mario Garcés:
"Der Putsch musste brutal sein, schnell und effizient. So schafften es die Militärs, das Land in weniger als 72 Stunden fast vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen."
Die FIFA hatte keine Fragen
Nach außen hin präsentierte sich die Pinochet-Diktatur dagegen als Regierung, die Ordnung schaffte und mit linken Subversiven aufräumte. In Zeiten des Kalten Krieges kam das im Westen gut an. Auch die FIFA hatte keine Fragen, als sie das Stadion im Oktober 1973 inspizierte, erinnert sich der damals inhaftierte Befreiungstheologe Enrique Moreno Laval im Dokumentarfilm "Estadio Nacional":
"Hier sollte das Qualifikationsspiel mit der Sowjetunion für die Fußball-WM 1974 stattfinden. Wir wurden alle in die Kabinen gesperrt und bewacht. Durch ein paar Ritzen in den Kellerluken konnten wir diese dicken Funktionäre sehen, wie sie über den Rasen liefen und anscheinend alles ganz korrekt fanden."
Die UdSSR sah das anders - ihre Mannschaft erschien nicht zum Spiel, Chile schoss symbolisch ein Tor ohne Gegner und qualifizierte sich damit für die WM 1974 in Deutschland.
Wally Kunstmann und die Vereinigung Ex-Gefangener arbeiten seit zwölf Jahren daran, die Erinnerung an den damaligen Staatsterror aufzuarbeiten und ein Museum im Nationalstadion einzurichten - auf Eigeninitiative. Der chilenische Fußballverband ignoriert deren Arbeit bis heute. Im Vorfeld der Copa América gab es nun erstmals zumindest Unterstützung von staatlicher Seite.
Beim Finale am Samstag werden die Ränge rund um den Tribünenaufgang acht wie bei jedem Spiel der Copa unbesetzt bleiben - ein Mahnmal für die Opfer des Staatsterrors. Darüber leuchtet ein Schriftzug: Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft.