In der 10. Spielminute zeigt sich im Olympiastadion von Rio de Janeiro Südamerikas Fußball von seiner Zuckerseite: Mit einem spektakulären Fallrückzieher brachte Luis Díaz vor den leeren Rängen Außenseiter Kolumbien gegen Gastgeber Brasilien in Führung.
Danach wurde die Begegnung - wie viele Spiele der Copa América - wieder zu einem umkämpften Duell zwischen den Strafräumen. Bis der Unparteiische mit einem unglücklichen Abpraller unmittelbar den Ausgleich der Brasilianer einleitete. Die Kolumbianer tobten.
"Wir sind ein bisschen traurig darüber, wie der Ausgleich gefallen ist. Jeder kennt die Regel: Wenn der Schiedsrichter die Richtung des Balles verändert, wird unterbrochen. Als er dann aber ruft 'Weiterspielen' kommt direkt die Flanke und es fällt das Tor, mit dem unsere Leistung zunichte gemacht wurde."
So Kolumbiens Juan Guillermo Cuadrado etwas beruhigt auf der Pressekonferenz. Bis zur Entscheidung war das Spiel minutenlang unterbrochen. Furios bedrängten die Kolumbianer den argentinischen Referee Pitana. "Er wusste überhaupt nicht, was er machen sollte. Er stand mit dem Rücken zur Wand", so der Kolumbianer in Diensten von Juventus.
VAR-Kommunikation wird veröffentlicht
Eine Besonderheit in Südamerika: Der Fußballverband CONMEBOL veröffentlicht regelmäßig nach strittigen Szenen die Kommunikation zwischen den Videoassistenten und dem Hauptschiedsrichter. "Weiter geht's, reguläres Tor" heißt es nach der Beratung in dem Mitschnitt, der am Tag drauf zum meistgeklickten Video in Kolumbien wurde. Dazu kamen Verschwörungstheorien auf: Bevorzugt der Verband den Topfavoriten Brasilien, der spontan als Gastgeber eingesprungen war?
Kolumbien hatte nur wenige Wochen vor Turnierstart die Austragung abgeben müssen. Offiziell aufgrund der grassierenden Pandemie, dabei hatte es vor allem an den sozialen Protesten im Land gelegen, bei denen sich auch vielfach Fußballfans gegen die Copa América im Land ausgesprochen hatten. Nachdem Mitveranstalter Argentinien dann auch wegen schlimmster Corona-Zahlen zurücktrat, war Brasiliens polemischer Präsident Bolsonaro der Retter, der die Austragung im Land mit den zweitmeisten Covid-Toten weltweit fast im Alleingang durchdrückte.
"Es gibt Hierarchien, die wir respektieren müssen. Natürlich wollen wir auch unsere Meinung äußern. Nur leider….", sagte vor dem Turnier Brasiliens Mittelfeldass Casemiro und biss sich dann auf die Lippen. "Aber wir wollen etwas sagen! Wir wollen unsere Meinung äußern. Ob das dann richtig oder falsch ist, kann jeder für sich entscheiden. Aber wir wollen unsere Meinung äußern."
Ob die wirklich gehört wurde, war im Nachhinein ungewiss. Eher erschien es, als wurde die kleine Revolution der Brasilianer von höchster Stelle ausgebremst. Im Duell gegen Kolumbien erzielte Casemiro jetzt in der 9. Minute der Nachspielzeit den Siegtreffer.
Kritik an der Austragung trotz Pandemie wird sanktioniert
Weniger diplomatisch äußerte sich der Kapitän der bolivianischen Nationalmannschaft Marcelo Moreno: "Danke CONMEBOL! Ihr tragt die volle Verantwortung! Was ist, wenn ein Spieler stirbt? Nur das Geld zählt, das Leben der Spieler ist wertlos", schrieb Moreno in sozialen Netzwerken, nachdem er zu Turnierbeginn positiv getestet wurde.
Die Kritik ging dem Kontinentalverband zu weit und neben einer Geldstrafe gab es für den bolivianischen Rekordtorschützen eine Sperre – für ein Spiel, das er aber Quarantäne bedingt- sowieso nicht absolvieren konnte.
Die Pandemie beeinflusst das Turnier spürbar. Die Mehrheit der Verbände hat Infektionen zu beklagen. Um peinliche Auftritte wie zuletzt in der Copa Libertadores zu vermeiden, als River Plate ohne Ersatzbank und mit einem Feldspieler im Tor an den Start gehen musste, entschied die CONMEBOL kurzfristig, nachdem Venezuela acht infizierte Spieler meldete, bei Corona-Fällen unbegrenzt Nachnominierungen zu zulassen.
Bis jetzt gab es 140 positive Tests, ein knappes Drittel davon bei Spielern und Betreuern. Auf die Frage, ob bei der Organisation alles nach Plan laufe, antwortet Brasiliens Nationaltrainer Tite nur: "….. ich kann diese Frage nicht beantworten." Auch er war vor Turnierbeginn für Kritik an der Austragung mit einer Geldstrafe sanktioniert worden.
Die CONMEBOL hatte sich im Vorfeld für alle Beteiligten eine Impfspende des chinesischen Pharmakonzerns Sinovac gesichert und damit einen reibungslosen Ablauf erhofft. Sinovac ist zwar jetzt mit Bandenwerbung omnipräsent, aber die Wirksamkeit des Wirkstoffs ist nachweißlich geringer als bei anderen Impfstoffen.
Die Ansteckungsgefahr vor Ort in Brasilien ist aber nur ein Aspekt: Acht der zehn Teilnehmer gehören zu den Ländern mit der aktuell höchsten Sterberate weltweit. Vielerorts in Südamerika liegt die Inzidenz weit über 200. Public Viewing und Jubeltrauben sorgen für erhöhte Risiken.
Bisher sieht es danach aus, als werde es Grund zur distanzierten Freude vor allem in Brasilien geben. Die Seleção hat als einziges Team die volle Punktzahl, mit Abstand die meisten Tore erzielt und die größten Aussichten auf einen Turniersieg.
Auf den großen Rivalen Argentinien kann man dabei erst im Finale treffen. Der hatte aber jetzt schon einen Grund zu feiern: Lionel Messi wurde 34 Jahre alt, was mit großer Torte und noch größerem Grillfest im Mannschaftshotel zelebriert wurde.