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Corona als historisches Ereignis
"Politik verliert an Steuerungskraft"

Die Corona-Pandemie hat das Land in einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand versetzt. Die Politik reagiere zurzeit nur noch, sagte der Historiker Martin Sabrow im Dlf. Das liege vor allem daran, dass das Virus kein Feind von außen sei, "sondern wir sind es, die das Virus jeden Tag neu zum Leben erwecken".

Martin Sabrow im Gespräch mit Anja Reinhardt | 05.04.2021
Jens Spahn (CDU,r), Bundesminister für Gesundheit, und Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts.
Jens Spahn (r.) und Lothar Wieler (l. RKI). Politiker seien in der Corona-Pandemie in starkem Maße durch den Experten abgelöst worden, meint der Historiker Martin Sabrow (picture alliance/dpa/ Kay Nietfeld)
Die Coronakrise ist ein historisches Ereignis. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es nicht so massive Eingriffe in den Alltag und die Freiheit gegeben. Noch nie wurden so viele Experten zu Rate gezogen, um politische Entscheidungen zu fällen, darunter allerdings erstaunlich wenige Historiker. Ein Jahr nach Beginn der globalen Krise hat "die Geschichtswissenschaft mittlerweile schon ihre Sprechfähigkeit zurückerlangt", sagt der Historiker Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität.
Ein Landwirt in China auf seinem vertrockneten Boden  aufgenommen aus Vogelperspektive
Lehren aus der Corona-Krise - Historiker Blom: "Wir können mehr, als wir uns zutrauen"
Wie wir derzeit mit der Natur umgingen, das "wird zum Selbstmordtrip", sagt der Historiker und Autor Philipp Blom im Dlf. "Es braucht ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt", aber kein Politiker biete derzeit eine Vision einer besseren Zukunft. Die Reaktion auf die Corona-Krise mache aber Hoffnung.
Sie helfe bei der Einordnung der aktuellen Geschehnisse. "Wir haben aus historischer Perspektive gelernt, dass Seuchen und Pandemien neben allen Schrecknissen, die sie mit sich bringen, in der Regel auch Innovation freisetzen. Oder sagen wir zumindest: Veränderung."

Bundesgesundheitsminister taumelnd

Martin Sabrow sieht die größte Zäsur im gesellschaftlichen Ausnahmezustand. "Darunter verstehe ich den Bruch der Zeitordnung, das plötzlich auflodernde Empfinden, dass uns die Zukunft nicht zur Verfügung steht, sondern dass sie etwas Unverfügbares, ja etwas Unvorstellbares bedeutet." Damit sei das Grundprinzip moderner Gesellschaften auf den Kopf gestellt.
Martin Sabrow gestikuliert bei einer Veranstaltung in Berlin.
Kann die Geschichtswissenschaft die Corona-Krise deuten? Der Historiker Martin Sabrow tut es. (Deutschlandradio)
Ein Jahr danach hätten wir diesen Schock zumindest dahingehend überwunden, dass man eine neue Planbarkeit herzustellen versuche, durch Prognose, Impfungen, Schnelltests: "Das Problem besteht nur darin, dass dieses Versprechen auf Planbarkeit der Zukunft permanent desavouiert wird durch die Entwicklung. Und das ist personifiziert im Moment in der Figur des Gesundheitsministers Jens Spahn, der fast wie ein Bauernopfer durch die politische Landschaft taumelt, weil er immer wieder die Heilbarkeit und die Organisierbarkeit des Problems versprechen muss und dann dementiert wird durch die Realität."

Politiker werden durch Experten abgelöst

Die Politik reagiere zurzeit nur noch, was vor allem daran liege, dass das Virus kein Feind von außen sei, "sondern wir sind es, die das Virus jeden Tag neu zum Leben erwecken. Wenn die "Bild"-Zeitung titelt: 'Alle nach Malle!', also Reisen nach Mallorca, so sind wir es, die die Reisebüros stürmen und die Reisen buchen." Wir unterlägen einem "Wandel des Politischen. Politik verliert in meiner Wahrnehmung an Steuerungskraft", meint Martin Sabrow. "Ein zweiter Einbruch des Politischen besteht darin, dass der Politiker in starkem Maße durch den Experten abgelöst worden ist beziehungsweise der Experte in einer Weise die Agenda diktiert, wie es die Intellektuellen früherer Zeiten eigentlich nie getan haben."
(R-L) Jens Spahn, Bundesminister fuer Gesundheit, und Lothar Wieler, Praesident des Robert Koch-Instituts (RKI), aufgenommen im Rahmen einer Pressekonferenz zur aktuellen Corona-Situation in Berlin, 12.03.2021. 
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"Wir werden anders miteinander umgehen"

Dennoch gebe es so etwas wie eine neue Normalität im Ausnahmezustand, die vor allem mit einer Vision für die nahe Zukunft zusammenhänge. "Wir werden anders miteinander umgehen. Wir würden, wenn wir jetzt mal ein bisschen in die Zukunft schauen, natürlich auf die Lockerung der jetzigen Hygienemaßnahmen mit einer Konsumgier, vielleicht auch mit einer Reisegier reagieren, die die Grenzen der Mobilität wieder zu erfahren sucht. Aber wir werden nicht mehr zurückkehren in ein Klima, das jedes Jahr die Steigerung von Fernreisen höher bewertet als andere Güter", so Sabrow. Dazu gehöre auch, dass das Bewusstsein der globalen Zusammenhänge gestiegen sei und ökonomische Prozesse kritischer hinterfragt würden.