In diesen Wochen blicken wir so gebannt auf Zahlen wie sonst nur passionierte Spieler bei der Lotto-Ziehung: Welcher Landkreis oder welche Stadt hat die Grenze der 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner schon überschritten? Der abstrakte Wert hat weit konkretere Folgen als die meisten anderen statistischen Berechnungen, die uns die Medien vermelden: In Regionen, in denen die Zahl der Neuinfektionen zu hoch liegt, drohen Einschränkungen im Alltag. Das Boulevardblatt "Bild" unterstrich das heute mit seiner Titel-Schlagzeile: "Die Wahrheit hinter den neuen Schreckens-Zahlen!"
Täglich neue Grafiken
Die Medien stützen sich in ihrer Corona-Berichterstattung seit Monaten auf Zahlen. Sie veröffentlichen die Werte des Robert-Koch-Instituts, der John-Hopkins-Universität und anderer Quellen in vielen Varianten: in Tabellen und Grafiken, interaktiven Karten und Diagrammen.
Stets an zentraler Stelle: die Zahl der Neuinfektionen, die der Verstorbenen und die bereits genannte Kennziffer von Infektionen pro Einwohner. Auch der Deutschlandfunk vermeldet in den Nachrichten täglich die aktuellen Infektionszahlen. Um den R-Wert hingegen, der beschreibt, wie viele andere Personen ein infizierter Mensch im Schnitt ansteckt, ist es ruhig geworden, nachdem er im Frühjahr häufig als wichtiges Kriterium für weitere Maßnahmen genannt worden war.
Dass die Zahl der Neuinfizierten heute die 4.000 überschritten hat, berichtete die Deutsche Presseagentur (dpa) in einer Eilmeldung, andere Medien folgten. Auch der Deutschlandfunk meldete die Zahl zunächst, ordnete ihre Bedeutung dann in einem eigenen Artikel ein.
Kritiker fordert mehr Einordnung
Dass die veröffentlichten Werte immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden, zeigt auch der Anwalt Frederik von Paepcke im Online-Magazin "Perspective Daily". Er erläutert am Beispiel der Corona-Pandemie, dass Zahlen nur dann eine Aussagekraft haben, wenn sie in einen Kontext eingeordnet und richtig interpretiert werden. "Eigentlich müsste also gerade die Zeit für Datenjournalismus, kritisches Hinterfragen und Differenzierung sein", schreibt er. "Stattdessen bombardieren Medien ihre Konsumenten immer noch zu oft mit absoluten Zahlen ohne Kontext."
Auch Hendrik Streeck, Direktor der Virologie am Universitätsklinikum Bonn, hatte die Auswahl der veröffentlichten Zahlen Mitte September im WDR kritisiert. "Wir starren jeden Tag auf die Infektionszahlen, die aber im Grunde sehr wenig relevant für das Pandemiegeschehen sind", sagte er und regte an, stattdessen die Kapazitäten im Gesundheitssystem mehr in den Blick zu nehmen.
Neuinfektionen beschreiben Ansteckungen eine Woche früher
Der Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth, der im Deutschlandfunk regelmäßig über die Corona-Pandemie berichtet, sieht das anders: Die Neuinfektionszahlen seien ein ganz wichtiger Wert, den man im Blick behalten müsse, sagte er im Dlf, auch wenn es noch viele andere Werte gebe: "Aber diese verschiedenen Zahlen und Werte, die man sich anschauen kann, die zeigen in die gleiche Richtung."
Die Zahl der Neuinfektionen sei am dichtesten dran am Infektionsgeschehen, weil sie den Stand von vor einer Woche beschreiben würde. Nur so lasse sich darauf schnell reagieren. Die Zahl der Todesfälle bilde hingegen das Infektionsgeschehen ab, das vor vier oder sechs Wochen aktuell war.
Die Infektionszahlen müssten aber auch eingeordnet werden, betonte Wildermuth. Die Neuinfektionen würden zwar dramatisch ansteigen. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass die allermeisten dieser Infektionen relativ glimpflich und mit relativ wenig Symptomen verliefen, weil sich in letzter Zeit vor allem jüngere Menschen angesteckt hätten.