Eine Sendung vom 5. Juni 2020.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Staatschef Emanuel Macron und andere internationale Spitzenpolitiker sehen wegen der Corona-Pandemie die Chance für eine Neuordnung der Weltpolitik. Das haben sie in einem Gastbeitrag in europäischen Zeitungen geschrieben (03.02.2021). Die Welt werde nach Corona eine andere sein. Die Pandemie sei "die seit Generationen größte Bewährungsprobe für die weltweite Solidarität". Der eigene Gesundheitsschutz sei nur so stark wie das schwächste Glied in der globalen Kette. "Ist auch nur ein Ort in der Welt von Covid-19 betroffen, sind Menschen und Volkswirtschaften allerorten gefährdet." Die jetzige Krise biete die Gelegenheit, durch effiziente Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen. Diese solle auf Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit beruhen. Internationale Foren wie die Gruppe der G7- oder der G20-Staaten müssten gestärkt werden. Ausdrücklich berufen sich die Politiker auf die Werte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind.
Dlf-Hauptstadtkorrespondent Klaus Remme hat sich im Juni 2020 im "Hintergrund" mit der Krise des Mulitlateralismus beschäftigt.
Das außenpolitische Wörterbuch ist reich an sperrigen Begriffen. Für Diplomaten, Politiker, Wissenschaftler und Journalisten ist das im Alltag selten eine Hürde. Sie wissen in der Regel, was gemeint ist. Und die Außenpolitik ist da auch keine Ausnahme. Schließlich dominiert auch in anderen Berufsfeldern nicht selten eine Fachsprache, die für Unbeteiligte, wenn nicht unverständlich, so doch oft missverständlich wirken kann.
Meistens aber müssen die Begriffe nicht für den Alltag taugen und wenn doch, dann bieten sich häufig alternative Bezeichnungen an. Beides ist im vorliegenden Fall nicht gegeben: "Multilateralismus" - sieben Silben, 17 Buchstaben, die einen Politikansatz beschreiben, der aus deutscher Sicht unverzichtbar erscheint und deshalb auch gesamtgesellschaftlich vermittelt werden muss.
Multilateralisten und Egoisten
Im Auswärtigen Amt hat der Diplomat Arndt Freytag von Loringhoven so viel wie wenige andere mit Multilateralismus zu tun: "Es ist tatsächlich so, dass der Begriff für viele übersetzt werden muss, es gab vor kurzem auch eine Umfrage der Körber-Stiftung, die zeigte, dass etwa zwei Drittel der Befragten in Deutschland nicht genau wissen, was Multilateralismus genau bedeutet. Es geht darum, dass wenigstens drei Staaten miteinander zusammenarbeiten, das wäre vielleicht die allereinfachste Definition, aber was wir eigentlich damit meinen, ist eine regionale oder sogar globale Zusammenarbeit zur Stärkung der regelbasierten Weltordnung, also dessen, was die Weltgemeinschaft in den letzten Jahrzehnten an Strukturen und internationalem Recht aufgebaut hat, die UNO an erster Stelle."
Soviel zur Begriffsdeutung durch die Brille des Diplomaten. Setzen wir eine andere auf. Norbert Röttgen, CDU, ist kein Diplomat, er ist Politiker. Er ist Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages.
Auf den Multilateralismus angesprochen, erklärt Röttgen den Ansatz so: "Manchmal ist es ja so, dass man Begriffe schwer erklären kann, aber einfach erklären kann durch ihr Gegenteil. Und das Gegenteil ist der Nationalismus und der Egoismus der Staaten, die den anderen Staat als ihren Gegner, manchmal sogar als ihren Feind betrachten."
Dieser Hintergrund ist Teil 4 einer Serie zu den Krisenerkenntnissen der Corona-Pandemie
Teil 1 am 2.6.2020: Lehren für Medizin und Pflege in Deutschland
Teil 2 am 3.6.2020: Afrikas Gesundheitsnöte
Teil 3 am 4.6.2020: Spaltpilz Massenarbeitslosigkeit
Teil 5 am 6.6.2020: Sehnsucht Tourismus
Teil 6 am 7.6.2020: Brandbeschleuniger Rechtspopulismus
Teil 1 am 2.6.2020: Lehren für Medizin und Pflege in Deutschland
Teil 2 am 3.6.2020: Afrikas Gesundheitsnöte
Teil 3 am 4.6.2020: Spaltpilz Massenarbeitslosigkeit
Teil 5 am 6.6.2020: Sehnsucht Tourismus
Teil 6 am 7.6.2020: Brandbeschleuniger Rechtspopulismus
Merkel, Multilateralismus und die Weltordnung
Ein dritter Versuch. Durch die nächste Brille schaut ein Politikwissenschaftler. Hans Maull verfolgt die multilaterale Politik seit Jahrzehnten. Nach Lehraufträgen in Trier und Bologna arbeitet er heute als Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Maull sagt, seiner Meinung nach gebe es doch eine alternative Umschreibung, nämlich "internationale Ordnung".
"Multilateralismus ist als Begriff deswegen so populär geworden, weil das, was er eigentlich einfangen möchte, immer prekärer wird. Also eine anspruchsvolle internationale Ordnung, eine regelbasierte, liberale, demokratischen Grundprinzipien entsprechende Ordnung ist etwas, das aus meiner Überzeugung seit 15 Jahren erodiert."
Ein Prozess, der sich nach Amtsantritt von Donald Trump dramatisch beschleunigt hat. Der Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, Trumps Haltung in Fragen des Welthandels, seine tiefe Skepsis gegenüber Organisationen wie der NATO oder dem Forum der G7-Industriestaaten, die Kündigung des Iran-Abkommens, das Ende von Rüstungskontrollverträgen wie INF und Open Skies und die aktuellen Angriffe des US-Präsidenten auf die Weltgesundheitsorganisation, es sind samt und sonders Tiefschläge gegen den Multilateralismus.
Ja, sagt Norbert Röttgen, America First sei genau das: das Abwenden von Allianzen und Ordnung.
Aber es sei nicht Trump allein:
"Nehmen sie die Politik Russlands, nehmen sie Politik Chinas, das sind beides Fälle großer Mächte, die sich dann, wenn es ihnen passt an die Regeln halten und dann, wenn es ihnen nicht in den Kram passt, dann verletzen sie sie und sogar mit militärischer Gewalt."
Und in dieser Gemengelage dominiert seit Anfang März Corona die internationale Agenda. In gewohnt nüchterner Tonlage klingt das in den Worten der Bundeskanzlerin so:
"Der Multilateralismus stand schon vor der Pandemie vor einer großen Herausforderung und diese Herausforderung ist nicht kleiner geworden."
Angela Merkel spricht hier aus deutscher Perspektive, aus Sicht einer Mittelmacht. Zu klein, um unilateral, also alleine, zu bestehen, zu groß, um in der Frage von Gestaltungsverantwortung auf andere verweisen zu können.
Maas und die "Allianz für den Multilateralismus"
Es gilt, angesichts der Rivalität zwischen Washington und Peking einen eigenen Weg, eine eigene Stimme zu finden. Arndt Freytag von Loringhoven, der Diplomat aus dem Auswärtigen Amt:
"Es ist sicherlich so, dass der Systemwettbewerb zwischen USA und China einen immer dunkleren Schatten auf den Multilateralismus insgesamt wirft. Wer kann eigentlich den Multilateralismus vorantreiben, wenn es wichtig wird, wie zum Beispiel jetzt, in der Corona-Pandemie. Früher hätten das ganz bestimmt die USA getan, wie etwa nach der globalen Finanzkrise und jetzt haben wir es da mit einem Vakuum zu tun gehabt. Und da war es sehr bezeichnend, dass sowohl die Europäische Union wie auch die ‚Allianz für den Multilateralismus‘ Initiativen ergriffen haben."
Diese "Allianz für den Multilateralismus", angestoßen von Außenminister Heiko Maas vor zwei Jahren, wurde zu einem deutsch-französischen Projekt. Im vergangenen Herbst kam man am Rande der UN-Vollversammlung zu einer Gründungsveranstaltung zusammen. Vertreter von etwa 60 Staaten waren dabei, neben vielen europäischen Ländern auch Kanada, Mexiko, Argentinien, Indonesien, Jordanien und Südafrika, um nur einige zu nennen.
Doch der Begriff "Allianz" führt in die Irre. Es geht hier nicht um ein Bündnis im klassischen Sinne, nicht um vertragsfeste Absprachen, es existiert nicht einmal eine Mitgliederliste. Es geht um ein Netzwerk. Nach dem Motto: Gemeinsam erreichen wir mehr. Wer will, macht mit, vielleicht bei einem Thema, vielleicht bei einem anderen.
Arndt Freytag von Loringhoven kommt hier auch deshalb zu Wort, weil er der deutsche Sonderbotschafter für die "Allianz des Multilateralismus" ist. Er sagt, man habe sich sehr bewusst entschieden, nicht ein eindeutig westliches Verständnis von Multilateralismus zur Voraussetzung zu machen: "Ein Thema wie Klima, das kann oder muss man sogar mit einem Land wie China machen, aber beim Thema Menschenrechte oder Journalistenrechte würde man ganz andere Gruppierungen haben und das ist aus meiner Sicht die Stärke der Allianz, dass sie eben die Flexibilität hat, nicht mit der immer gleichen Gruppe zusammenzuarbeiten, dann wäre sie in der Summe nämlich relativ klein."
Mitte April hat sich die Allianz zu einer digitalen Konferenz versammelt, bei der Corona im Mittelpunkt stand. Neben der Forderung, Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation zu stärken, wurde in einer Erklärung die Vorbereitung auf eine universelle Bereitstellung eines Impfstoffs unterstrichen. Die Immunisierung gegen COVID-19 müsse als globales öffentliches Gut angesehen werden. Nach zunächst 24 Staaten haben inzwischen fast 60 Staaten die Erklärung unterzeichnet.
Wenig Bewusstsein für Westbindung
Der Nachteil dieser unverbindlichen Gesamtkonstruktion der Allianz ist aber auch offensichtlich. Sie ist als Ganzes kaum in der Lage, Position zu beziehen. Wenn ein Land wie China, das sich als multilateral betrachtet, Partner in der Allianz ist, wird sie als Bollwerk gegen den Einfluss der Großmächte nicht überzeugen können.
Mikko Huotari leitet in Berlin den China-Thinktank "MERICS": "Grundsätzlich ist die Idee richtig und es ist richtig, dass sich Deutschland auch andere Partner, außerhalb der EU, suchen muss, um in diesem harten Spiel zwischen den USA und China für Werte, Interessen und Institutionen einzustehen, die uns wichtig sind. Ich glaube, in der Praxis ist da ein relativ großer Grad an Naivität und auch noch ein Mythos des Multilateralismus vorhanden. Was ich damit konkret meine ist, dass das internationale Machtgefälle international und der Mahlstrom in dieser Auseinandersetzung zwischen den USA und China gerade nicht in der Schärfe gesehen wird und diese zaghaften Versuche in vielerlei Hinsicht nicht ausreichen."
Die Schärfe, von der Huotari spricht, hat während der aktuellen Pandemie noch zugenommen. Beide Großmächte wissen, dass sie durch Entstehung und/oder Management der Krise unter besonderer Beobachtung stehen. Dabei werden hierzulande erstaunliche Bewegungen registriert.
Ronja Scheler leitet das Programm Internationale Politik der Körber-Stiftung in Berlin:
"Wir haben vor wenigen Wochen eine Umfrage durchführen lassen, im Auftrag der Körber-Stiftung, die Ergebnisse haben wir in der letzten Woche veröffentlicht, wo herauskam, dass ungefähr gleich viele Menschen in Deutschland glauben, enge Beziehungen zu den USA sind notwendig oder enge Beziehungen zu China. Wir haben einen wahnsinnigen Aufwuchs derer gesehen, die Beziehungen zu Peking favorisieren."
Möglicherweise signalisiert das Ergebnis weniger Sympathie für China als tiefe Enttäuschung über die amerikanische Regierungspolitik, Scheler unterstreicht aber ein Detail:
"Was ein wichtiger Punkt ist, den wir auch immer wieder in unseren Umfragen sehen, dass dieses Bewusstsein für eine Westbindung, für eine enge Beziehung zu den USA vor allem in der jüngeren Generation immer stärker abnimmt. Das hat einerseits damit zu tun, dass viele der jüngeren Befragten in den letzten Jahren politisch sozialisiert wurden, in denen eben Präsident Trump in den USA regiert, die aber auch insgesamt die historische Tragweite der Westbindung gar nicht mehr so präsent haben, und das ist in jedem Fall ein bedenklicher Trend."
Ein Trend, der sich vermutlich selbst durch eine Abwahl Trumps im November nicht plötzlich wieder umkehren wird. Der CDU-Politiker Norbert Röttgen sieht in den hohen Werten pro China ein Zeichen von Naivität und Unwissen gegenüber dem Regime in Peking.
Europäische Handlungsfähigkeit
Mikko Huotari von MERICS verweist auf einen anderen Aspekt der Umfrage: "Was mir viel wichtiger an dieser Umfrage ist, ist die Feststellung, dass wirklich nur ein geringer Prozentteil der Befragten antwortet, dass China ein Partner Deutschlands in der Außenpolitik ist. Ich glaube, das ist ein realistisches Assessment. Als Partner wird vor allem Frankreich gesehen, wird Europa gesehen und insofern eine realistische Einschätzung, wie die Welt ist. In vielerlei Hinsicht ist China kein Partner in der Gestaltung."
Deutschland und Frankreich, Frankreich und Deutschland. Zusammen haben sie die "Allianz für den Multilateralismus" auf den Weg gebracht, zusammen wollen sie die wirtschaftlichen Corona-Folgen in der Europäischen Union bewältigen.
Die Allianz bezeichnet Politikwissenschaftler Hanns Maull als Nebenkriegsschauplatz. Sein Blick auf die Europäische Union ist ein anderer. Die zentrale Frage auf dem Weg zur Selbstbehauptung Europas betreffe die Handlungsfähigkeit der EU, so Maull.
Und Norbert Röttgen, der Vorsitzende im Auswärtigen Ausschuss, stimmt zu: "Wir werden ein Nichts werden, wenn es uns nicht gelingt, selber handlungsfähig zu werden. Es gibt keine Macht mehr, die uns das abnimmt. Wir müssen es selber machen. Es geht, das ist die entscheidende Aufgabe, das kann man jetzt auch als geschichtliche Aufgabe verstehen, darum, europäische Handlungsfähigkeit in der Welt und gegenüber der Welt zu entwickeln. Das ist das A und O."
Wie das gehen soll? Nun, auch hier sind zunächst Deutschland und Frankreich gefragt. Inhaltlich hält Huotari die deutsch-französische Kooperation mit Blick auf China für weitgehend intakt, Beispiele sind hier Investitionsprüfungen der vergangenen Jahre oder Positionierungen zum Marktwirtschaftsstatus Chinas in der Welthandelsorganisation.
Schaufenster-Diplomatie
Doch natürlich reicht die deutsch-französische Verständigung allein nicht aus. Und Josep Borell, der EU-Außenbeauftragte, hat erst vor wenigen Tagen bei der Botschafterkonferenz in Berlin auf tiefe Differenzen innerhalb der Europäischen Union verwiesen. Auf den Mangel an strategischer Kultur im Kreis der 27 Staaten. Eine Kultur, die Peking in den vergangenen Jahren wieder und wieder demonstriert hat, durch Investitionen, entlang der geplanten Seidenstraße und durch eine Diplomatie, etwa im sogenannten "17+1 Format", in dem sich China mit Mitgliedsstaaten aus Ost- und Mitteleuropa auch aus der EU trifft. Ein Format, das vermeintlich harmlos als "multilateral" ins Schaufenster gestellt wurde, letztlich aber als gegen Brüssel und auf Spaltungen in der EU angelegt wahrgenommen wurde.
Mikko Huotari warnt vor falschen Schuldzuweisungen: "Mir ist es wichtig, an der Stelle stark darauf hinzuweisen, dass es ein typisch Berliner Phänomen ist von diesem Spaltpilz 17+1 zu sprechen. Der Spaltpilz für eine europäische China-Politik sitzt in Berlin. Es ist Deutschland. Der Blick wie wir uns positionieren ist das Kritische und der Blick auf die Peripherie in der China-Politik ist, glaube ich, völlig verfehlt. Wenn wir keine Klarheit haben, beispielsweise in der Huawei-Frage, können wir nicht von den Polen erwarten, dass sie sich in der Seidenstraßen-Frage anders positionieren, da tun wir sehr gut daran, zuerst auf unsere Hausaufgaben zu schauen und dann den Zeigefinger zu erheben."
Es gibt in den nächsten Wochen und Monaten konkrete Anlässe, um die Entwicklung eines belastbaren europäischen Wegs zwischen Peking und Washington überprüfen zu können.
Was China angeht: Das Stichwort Huawei ist gerade gefallen, über die Risiken eines von chinesischer Technologie geprägten 5G-Netzwerks wird in Europa erbittert gestritten. Skeptiker sehen gravierende Sicherheitslücken und wachsende Abhängigkeiten. Sie verweisen deshalb auf das Potenzial durch eigene, europäische Unternehmen.
"Kotau-Politik"
Der politische Druck Pekings auf Hongkong ist ein zweiter konkreter Test für europäisches Selbstbewusstsein. In Berlin und Brüssel wird Besorgnis Ausdruck verliehen, Erwartungen werden formuliert. Kritikern wie Norbert Röttgen ist das zu wenig, der CDU-Außenpolitiker spricht von "Kotau-Politik".
Außenminister Heiko Maas reagiert empfindlich auf Fragen nach möglichen Sanktionen gegen die Hongkong-Politik Pekings: "Es wird immer gleich über Sanktionen gesprochen, ich glaube, die Vergangenheit hat gezeigt, dass es vor allen Dingen wichtig ist, einen Dialog mit China zu führen, in dem die Europäische Union sehr geschlossen nicht nur ihre Themen, sondern auch ihre Grundsätze zur Geltung bringt und dann wird man sehen, wozu dieser Dialog führt."
Mit Blick auf die USA könnte ein anderes Thema zum Lackmus-Test für erfolgreichen Multilateralismus in Zeiten von Corona werden. Die Suche nach einem Impfstoff und nach Medikamenten gegen COVID-19. Donald Trump hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er dabei unilateral vorgehen will und zuerst an die Amerikaner denkt.
Die EU hat nicht zuletzt deshalb im Mai eine internationale Geberkonferenz organisiert und setzt in dieser Frage auf die Weltgesundheitsorganisation. Hier wird ein zusätzlicher Aspekt von Multilateralismus sichtbar, die Rolle von Nichtregierungsorganisationen. Die Bill & Melinda Gates-Stiftung bekommt mit ihrem milliardenschweren Engagement in der WHO viel Gegenwind, ihre demokratische Legitimierung wird infrage gestellt, durch finanzielle Verflechtungen der Stiftung werden Interessenskonflikte problematisiert, in den sozialen Medien kursieren Verschwörungstheorien.
Caroline Schmutte hat jahrelang für die Gates-Stiftung gearbeitet, heute leitet sie das deutsche Büro des Wellcome-Trusts. Sie verurteilt die persönlichen Angriffe auf Bill und Melinda Gates. Über den Wellcome Trust wird weit weniger öffentlich kontrovers diskutiert, obwohl auch diese Stiftung mit 25 bis 30 Milliarden Euro Vermögen zu den größten Akteuren der Szene gehört.
Gerechte Verteilung eines Impfstoffs
Schmutte erklärt sich das neben anderen Gründen auch so: "Wir haben keinen lebenden Stifter, wir sind also eine etwas klassischere Stiftung, wie viele auch hier in Deutschland. Wir haben einen Aufsichtsrat, das heißt, wir sind weniger von einer Person gesteuert oder von zweien und haben natürlich entsprechende Gremien."
Für Caroline Schmutte sind die Entwicklung, die Produktion und die Verteilung eines Corona-Impfstoffs Steilvorlagen für den Multilateralismus, das wirtschaftliche Risiko wird geteilt, ein großer multinationaler Markt steht danach bereit.
Kein einzelnes Unternehmen wird in der Lage sein, den Bedarf am Anfang schnell genug zu decken, sagt sie, auch da sei Zusammenarbeit gefragt. Schmutte sieht natürlich die Konkurrenz zu Trump und "America First", niemand wisse momentan, wer diesen Wettlauf gewinnt:
"Was jetzt die wichtigste zusätzliche Komponente ist, ist Zeit. Wenn ein einzelnes Land wie die USA sagt, wir legen euch Milliarden auf den Tisch, schießt los, dann ist das natürlich auch ein sehr starkes Argument und multilaterale Strukturen brauchen einfach immer ein paar Wochen länger, um in der Lage zu sein, ein solches Versprechen zu geben, schließlich bündelt man ja viele Länder. Diese zeitliche Komponente ist sehr, sehr, sehr wichtig und da muss die Weltgesundheitsorganisation auch beweisen, dass sie trotz einer großen Bürokratie schnell und agil reagieren kann und diesen Prozess gemeinsam mit allen anderen Partnern aufsetzen kann."
Schwächung der Großmächte China und USA
Der wichtigste dieser Partner führt in den politischen Wettbewerb zurück, es ist die Europäische Union. 7,4 Milliarden Euro wurden unter EU-Schirmherrschaft Anfang Mai für die Erforschung eines Impfstoffs gesammelt, ein Anfang, der die EU als multilateralen Akteur sichtbarer macht, als es bislang gelang. Erfolge wie diese würden über Corona hinausstrahlen. Washington ist seit langem gestaltungsmüde, Chinas Gestaltungsdrang stößt zunehmend auf Kritik.
Der Politikwissenschaftler Hanns Maull sieht in der aktuellen Krise beide Großmächte geschwächt: "Das eröffnet Möglichkeiten für die europäische Politik und ich würde auch denken, dass die Europäische Union hier einen großen Vorteil hat gegenüber den USA und gegenüber China. Sie hat eine lange Erfahrung der Kooperation. Sie hat eine lange Erfahrung dabei, internationale Ordnungsstrukturen im europäischen Rahmen zu schaffen und sich über Souveränitätsvorbehalte hinwegzusetzen. Das kann die Europäische Union besser als China und die USA."
Und so ist es kein Zufall, dass eine Formulierung ganz oben steht auf der Liste der Bundesregierung, die ab ersten Juli die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt: "Stärkung des Multilateralismus".