Die EU-Staats- und Regierungschefs beraten an diesem Donnerstag (21.02.2021) in einer Video-Konferenz über den weiteren gemeinsamen Kurs in der Corona-Pandemie. Im Zentrum steht die Eindämmung neuer Varianten des Coronavirus, die sich schneller verbreiten als der ursprüngliche Erreger. Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte im Vorfeld des Gipfel auch die Möglichkeit von Grenzschließungen wie schon im vergangenen Frühjahr ins Gespräch.
Thema beim Gipfel soll auch ein EU-weit anerkanntes Corona-Impfzertifikat sein. Die EU-Kommission hat dazu einen Vorschlag gemacht, den die EU-Staats- und Regierungschefs jetzt prüfen: Bis Ende Januar sollen sich die 27 auf ein gemeinsames Vorgehen bei "Impfzertifikaten" einigen. Ob damit einfacheres Reisen oder andere Privilegien verbunden wären, ließ die Kommission offen. Die Einwände gegen einen europäischen Corona-Impfpass sind zahlreich.
EU-Coronagipfel - Suche nach Einigkeit beim Impfzertifikat
Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs wird auch über die Einführung eines EU-weit anerkannten Impfausweises diskutiert. Länder, die in besonderem Maße vom Tourismus leben, machen hier besonders Druck. Doch es gibt zahlreiche Einwände.
Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs wird auch über die Einführung eines EU-weit anerkannten Impfausweises diskutiert. Länder, die in besonderem Maße vom Tourismus leben, machen hier besonders Druck. Doch es gibt zahlreiche Einwände.
Voraussetzung für die Einführung eines Corona-Impfpasses in der EU sei, dass jeder, der sich in der EU impfen lassen wolle, dies auch tatsächlich könne, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Momentan sei das noch nicht der Fall. Damit bestehe die Gefahr der Diskriminierung. Entschieden kritisierte Asselborn die Idee von neuerlichen Grenzschließungen in der EU. Dies hätte "große Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union". Es gehe dabei nicht um den Tourismus, sondern um die Menschen, die in den Grenzregionen lebten und grenzübergreifend arbeiteten.
Jörg Münchenberg: Herr Asselborn, wenn eine neue Infektionswelle rollt, dann können auch Grenzschließungen und Grenzkontrollen nicht ausgeschlossen werden. Wird es mit dem freien Reisen in Europa bald wieder vorbei sein?
Jean Asselborn: Sie haben die Aussagen der Kanzlerin jetzt zweimal gespielt. Ich weiß nicht, ob das eine Andeutung ist auf die Debatte, die dort stattfindet. Jedenfalls meine Meinung ist: Wenn wir wieder mit dem Schlagbaum operieren in der Europäischen Union an den Grenzen, ist das für mich – und ich glaube, ich bin nicht der einzige – besorgniserregend. Das war falsch 2020 und das ist noch falscher 2021, die Grenzen in der Europäischen Union zu schließen.
Ich nehme an, dass alles, was Madame von der Leyen gesagt hat, hierzu auch verstanden wird. Es ist nicht zielführend, um die Pandemie zu bekämpfen, und es ist auch gegen die Verträge. Ich glaube, Grenzschließungen sind nicht vereinbar mit geltendem Recht, wenn man das pauschal macht. Ich will noch einen Satz sagen: Es geht mir nicht um Tourismus. Es geht mir vor allem, weil ich in einer Grenzregion lebe, um die Grenzgänger und es geht mir um den kleinen Grenzverkehr.
"Dann bricht bei uns in Luxemburg das Gesundheitswesen zusammen"
Münchenberg: Grenzschließungen ist das eine, aber die andere Frage ist ja, ob Grenzkontrollen nicht durchaus Sinn machen, wenn das Virus sich weiter ausbreitet. Ein Problem sind ja zum Beispiel die Pendler.
Asselborn: Ja, Sie müssen aufpassen. In der Europäischen Union leben 30 Prozent der Menschen in Grenzregionen. Wenn man in Paris wohnt oder in Berlin, hat man, glaube ich, im Jahr vielleicht zwei-, dreimal mit Grenzen zu tun, aber wir haben täglich mit Grenzen zu tun. Wenn Pendler nicht mehr täglich aus Deutschland nach Luxemburg kommen, um das Beispiel zu nehmen – es sind 50.000 von einem Total von 200.000; 100.000 Franzosen, 50.000 Belgier kommen noch dazu -, dann bricht bei uns in Luxemburg das Gesundheitswesen zusammen.
60 Prozent der Menschen, die im medizinischen Bereich arbeiten, sind Grenzgänger, und die sind es, weil wir das so wollten in der Europäischen Union, weil wir den Leuten gesagt haben, dass in der Europäischen Union man frei in jedem Land, vor allem in Grenzländern arbeiten kann. Die Leute haben die Grenzen physisch überhaupt nicht mehr gesehen und wenn die Grenzen wieder physisch auch in dieser Pandemie noch einmal, wie das im Frühjahr letzten Jahres war, offensichtlich werden, dann hat das große Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union.
Münchenberg: Herr Asselborn, nun macht aber gerade die Mutation des Virus große Sorgen, die ja offenbar viel ansteckender ist als das bisherige Corona-Virus. Insofern ist es doch schon verständlich, wenn die einzelnen Mitgliedsländer versuchen, sich zu wehren. Der Vorschlag oder die Forderung nach Grenzkontrollen kommt um Beispiel auch aus Frankreich, nicht nur aus Deutschland.
Asselborn: Ja. Aber wissen Sie, ich kann nur von dem Beispiel reden, was ich kenne. Es gibt Länder wie zum Beispiel unser Land. Die Pendler werden mit getestet im Large Scale Testing. Sie werden auch in Luxemburg mit geimpft. Man muss sich die Lage auch dann ansehen in den einzelnen Ländern, bevor man auf einen solchen Weg geht.
Mit Frankreich haben Sie nicht recht. Wir haben 100.000 Pendler aus Frankreich. Frankreich hat bis jetzt nie eine Restriktion von uns gefragt und wird auch jetzt keine Restriktion fragen.
Rede von Grenzschließungen erzeugt Unmut
Münchenberg: Aber es gibt Wortmeldungen aus Frankreich, die sagen, auch wir wollen uns die Option Grenzkontrollen offenhalten.
Asselborn: Ja. Ich habe nichts dagegen, dass Menschen, die in Luxemburg arbeiten und in Deutschland wohnen, dass die auch systematisch selbstverständlich getestet werden. Das ist ja nicht das Problem. Das Problem ist, wenn man wieder von Grenzschließungen redet, wie das jetzt geschehen ist aus Berlin, das macht Unmut. Ich sage Ihnen, das macht großen Unmut, und das ist auch nicht, glaube ich, was zu dem Bild in Europa passt. Es gibt andere Möglichkeiten, um auch die Mutation zu bekämpfen.
Ich sage noch einmal: Es geht hier nicht um Tourismus. Es geht um das normale Leben an Grenzen. Hier in Luxemburg ist Deutschland, Saarland, Rheinland-Pfalz, Luxemburg zusammengewachsen mit Frankreich auch noch und das dürfen wir nicht noch einmal auseinanderdriften, wie wir das gemacht haben im Frühjahr. Damals haben wir im Mai gesagt, nie wieder so eine Situation, dass die Brücken an der Mosel von Polizeiautos bewacht sind und zu sind. Dann dürfen wir jetzt nicht noch einmal auf diesen Weg gehen, sondern schauen, was können wir tun, auch in Europa, um diese ganz gefährliche Mutation, dass man das bekämpfen kann mit den Mitteln, die zur Verfügung stehen.
Ich sehe kein Land, kein Land, das ich kenne, hier in dieser Region, weder Frankreich noch Belgien noch Holland noch wir als Luxemburger, die die Regeln nicht befolgen und versuchen, andere Wege einzuschlagen als die Deutschen. Wir haben Unterschiede mit den Deutschen, die Franzosen haben Unterschiede, die Belgier haben Unterschiede, aber es ist keiner hier, der provoziert, um effektiv die Regeln nicht einzuhalten.
EU sollte sich auf Impfungen konzentrieren
Münchenberg: Trotzdem, Herr Asselborn, gibt es ja keine gemeinsame europäische Corona-Strategie. Jeder macht letztlich so, was er für richtig hält. Dann könnte man ja auch fragen, braucht die EU am Ende nicht mehr Kompetenzen beim Gesundheitsschutz? Sollte das nicht auch eine der Lehren aus der Corona-Pandemie sein?
Asselborn: Ich bin total mit Ihnen einverstanden. Aber sehen Sie, Deutschland ist ein Föderalstaat so wie Belgien. Frankreich ist ein Jakobinerstaat, ein Zentralstaat. Sie wissen ja schon aus Deutschland - Sie haben 16 Länder, wenn ich richtig informiert bin -, wie schwierig es ist, hier einen Konsens zu finden. Und in Europa gibt es Unterschiede. Es gibt Unterschiede in den Regionen. Ich nenne nur ein Beispiel: In der Weihnachtszeit, Neujahr hatten wir in Luxemburg eine Ausgangssperre 21 Uhr. Das hattet ihr nicht in Deutschland. Wir haben jetzt Ausgangssperren in Frankreich, in Belgien und in Luxemburg, was Deutschland nicht hat. Die Restaurants, die Cafés sind zu, in Deutschland, in Luxemburg, in Frankreich, in Belgien. Die Geschäfte sind unter sehr strikten Bedingungen geöffnet.
Und die Schulen in Luxemburg zum Beispiel sind geöffnet, weil wir 48 Prozent Ausländeranteil haben und viele Kinder verlieren, wenn wir keinen Unterricht machen oder wenn wir nur Digitalunterricht machen. Da gibt es schon selbstverständliche Unterschiede, aber ich glaube, heute in Brüssel wäre die Europäische Union gut beraten, wenn wir uns konzentrieren würden auf die Impfungen, was Sie auch ganz richtig betont haben, und nicht uns wieder verstricken und verlieren in Grenzschließungen. Das ist nicht das, was wir in Europa brauchen.
Und die Schulen in Luxemburg zum Beispiel sind geöffnet, weil wir 48 Prozent Ausländeranteil haben und viele Kinder verlieren, wenn wir keinen Unterricht machen oder wenn wir nur Digitalunterricht machen. Da gibt es schon selbstverständliche Unterschiede, aber ich glaube, heute in Brüssel wäre die Europäische Union gut beraten, wenn wir uns konzentrieren würden auf die Impfungen, was Sie auch ganz richtig betont haben, und nicht uns wieder verstricken und verlieren in Grenzschließungen. Das ist nicht das, was wir in Europa brauchen.
Impfpass setzt Impfmöglichkeit für jeden voraus
Münchenberg: Herr Asselborn, Sie haben vorhin gesagt, es geht Ihnen nicht um den Tourismus. Aber für andere Länder geht es sehr wohl um den Tourismus. Aus Griechenland kam ja der Vorschlag, dass man eine Art Impfpass ins Leben ruft, um Reisen wieder zu ermöglichen. Ist das eine gute Idee, eine realistische Idee?
Asselborn: Es gibt einen Unterschied zwischen der Impfbescheinigung, das was in Deutschland und in Europa, glaube ich, kein Problem ist. So wie die Menschen gegen Tetanus, Diphterie oder die Kinderlähmung geimpft werden, werden sie auch geimpft gegen Corona. Dann wird das aufgeschrieben auf ein Zertifikat, eine Impfbescheinigung. Aber dann gibt es einen Unterschied zwischen einer Impfbescheinigung, glaube ich, und einem Impfpass in diesem Moment.
In diesem Moment kann nicht jeder Mensch in Europa verlangen, dass er direkt geimpft wird, und solange das nicht der Fall ist, wenn nicht jeder eine Zulassung zur Impfung hat, wenn nicht jeder geimpft werden kann, könnte oder müsste es eigentlich interpretiert werden als eine Diskrimination, dass die einen Menschen, die geimpft wurden, reisen dürften, und die anderen, die noch nicht die Chance hatten, geimpft werden zu können, dass die nicht raus dürfen.
Münchenberg: Auf der anderen Seite ist das Gegenargument, dass man sagt, das sind ja keine Privilegien, sondern man hat in vielen Ländern Grundrechte ausgesetzt, die kann man nicht mehr ausüben, insofern ist es nur eine Rückgabe von Grundrechten, wenn man sagt, ihr seid geimpft, ihr könnt deshalb wieder zum Beispiel reisen.
Asselborn: Herr Münchenberg, Sie haben total recht. Aber dann muss jeder die Chance haben, auch Zugang zu der Impfung zu bekommen. Das ist mein Einwand. Das ist, glaube ich, jetzt nicht der Fall. Das kann in drei Monaten der Fall sein und ich hoffe, dass es in drei Monaten der Fall ist, wenn jeder Zugang zur Impfung hat. Dann, glaube ich, kann man wirklich auch über einen Impfpass ganz klar und konkret nachdenken.
Impfen darf nicht obligatorisch sein
Münchenberg: Aber werden am Ende nicht zum Beispiel Unternehmen Fakten schaffen, indem sie einfach einen Impfnachweis verlangen?
Asselborn: Ja, das ist eine große Frage. Ich glaube, das ist dieselbe Frage wie, ist Impfen obligatorisch in verschiedenen Bereichen. Ich kenne kein europäisches Land, was Impfungen obligatorisch macht, sondern die Impfungen empfiehlt. Dasselbe ist jetzt im Arbeitsrecht, was eine schwierige Frage ist. Ich habe sehr große Probleme in meinem Kopf damit, dass der Mensch sich impfen muss, um an seinen Arbeitsplatz zu gehen oder um irgendwie in der Gesellschaft sich noch zu artikulieren.
Ich hoffe noch einmal, dass wir so schnell wie möglich alles tun, dass nicht die Bestellungen der Impfungen – wir könnten drei Milliarden Impfungen bestellen in der Europäischen Union, aber dass die Produktion, dass das nicht hemmt, und dass alle Länder dann so viel Impfstoff zur Verfügung bekommen, wie sie es brauchen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.