Was unterscheidet die Impfstrategie der Briten von der der Kontinentaleuropäer? Wer das in einem Wort beantworten will, verweist auf den sprichwörtlichen britischen Pragmatismus. Das Königreich hat früh, beherzt und mit vollem Einsatz aufs Impfen gesetzt. Nirgendwo sonst in Europa ist man damit weiter. Und darauf ist London mächtig stolz. Gesundheitsminister Matt Hancock.
In den letzten drei Tagen, brüstet sich Hancock, haben wir mehr Menschen geimpft als Frankreich insgesamt seit Beginn der Pandemie.
Großbritannien hat vieles anders gemacht
Tatsächlich haben die Briten vieles anders – und wenn die Vakzine sich nachhaltig als sicher und ungefährlich erweisen, wohl auch manches besser gemacht als die Europäische Union.
Das Königreich hat früher und gemessen an seiner Einwohnerzahl auch viel mehr Impfstoff bestellt: insgesamt 370 Millionen Dosen bei sieben Herstellern. Schon im Sommer wurden Verträge geschlossen. Seit Anfang Dezember wird in Britannien geimpft, zunächst mit den beiden Erstzulassungen von Pfizer Biontech und Astra Zeneca.
London hat viel Geld investiert
London bezahlte dafür einen Preis: Es investierte von Anfang an viel Geld in Entwicklung, Produktion und Beschaffung der Vakzine, siebenmal mehr pro Kopf als die Kontinentaleuropäer, wie Experten jüngst vorrechneten. Die Notfallzulassung, für die sich Großbritannien entschied, gilt im angelsächsischem Wissenschaftsbetrieb als sicher genug. Aber auch sie hatte einen Preis: Downing Street entließ die Hersteller aus der Haftung.
Ein Risiko, aber dass das Virus total außer Kontrolle gerät und die Menschen ihm nichts mehr entgegensetzen können, beunruhigt die Regierung offenbar mehr. Die britische Strategie ist klar und bisher ziemlich erfolgreich. Die Lieferengpässe, versprechen die Hersteller, werden keinen Einfluss auf das Königreich haben. Allerdings würden die Briten gern noch mehr Impfstoff kaufen, um noch mehr Menschen noch schneller versorgen zu können.
Geimpft wird in Heimen, Krankenhäusern und Apotheken
Lieferengpässe, warnt der Gesundheitsminister, beeinträchtigen die Impfrate. Bisher kann die sich allerdings ganz gut sehen lassen. Geimpft wird in Heimen, Krankenhäusern, bei Hausärzten, Apothekern und in großen neuen Impfzentren. Wenn genug Impfstoffe da sind, sollen sie rund um die Uhr, sieben Tage die Woche gespritzt werden. Und zwar in der Reihenfolge klar definierter Gruppen. Zuerst die Ältesten, die Menschen in Pflegeheimen, höchste und hohe Risikopatienten. Auch Key Worker, Arbeitnehmer in Schlüsselfunktionen, Ärzte und Pflegepersonal vor allem, werden gleich zu Beginn immunisiert. Bis Mitte Februar soll das erledigt sein.
Ziel der Regierung: Zwei Millionen Impfungen pro Woche
Danach sind alle anderen dran. Zwei Millionen Impfungen pro Woche: Das ist das Ziel der Regierung. Gestern war man bei 6,6 Millionen insgesamt angelangt. Ein Zehntel der Bevölkerung immerhin nach nur sieben Wochen. Dreiviertel der höchsten Altersgruppe haben ihre erste Dosis bereits bekommen. Auf die zweite müssen die meisten Briten allerdings drei Monate und damit viel länger als die von den Herstellern empfohlenen drei Wochen warten.
Die Regierung will möglichst früh möglichst viele Menschen mit dem Erstschutz versorgen. Sie geht dafür das Risiko ein, dass die Zwei-Dosen-Präparate weniger gut, am Ende vielleicht gar nicht mehr wirken. Das ist gefährlich.
Zweite Dosis wird später verabreicht
Betty Boothroyd, die legendäre einzige Unterhaus-Sprecherin, die es je gab, schäumte jüngst im Fernsehen vor Wut. Die Brille auf der Nase, das knisternde Papier in der Hand, las die 90-Jährige aus dem Beipackzettel von Biontech vor.
"Da steht: Es gibt keine Daten dafür, dass die Wirkung später als 21 Tage nach der ersten Impfung aufrechterhalten wird. Das widerspricht völlig dem, was die Regierung jetzt behauptet."
Sie habe in der Pandemie ja schon viele Kehrtwenden des Premiers erlebt, empörte Betty Boothroyd sich, aber die Verzögerung der zweiten Impfdosis schlage dem Fass jetzt den Boden aus.
"Impfung zu strecken ist riskant"
Die Britische Ärztevereinigung warnte erst gestern, die Impfung über mehr als sechs Wochen zu strecken, sei viel zu riskant. Die Impfkommission widersprach dem vehement. Die Streckung, sagt sie, schade nicht nur nicht, sie könne die Impfung zumindest mit Astra Zeneca sogar effektiver machen. Dabei berufen sich die Experten auf noch nicht veröffentlichte Daten. Und kündigen an: Ihre Veröffentlichung stehe kurz bevor. Noch diese, spätestens nächste Woche sei es soweit.