Aus seiner Wohnung in Bochum ruft Arian Hassib über Skype seine Familie in Kabul an. Er ist besorgt um seine Mutter.
"Meiner Mutter geht es sehr schlecht. Seit zehn Tagen. Sie ist an Corona erkrankt. Die Situation ist sehr bedrohlich. Sie war zwischendurch bewusstlos", so Arian Hassib. Am anderen Ende der Leitung in Kabul: Arians Mutter. Bibi Haja Hassib, 65 Jahre alt, Mutter von acht Kindern:
"Ich fühle mich schlecht. Ich versorge mich mit Sauerstoff und Medikamenten, so gut es geht. Im Krankenhaus, wo ich war, hat man mir nicht helfen können. Deine Schwestern Khatol und Thamina sind beide infiziert, auch ihre Kinder. Es hat uns alle erwischt."
Seit Tagen schickt Arian seiner Mutter deshalb Geld nach Kabul. Und hofft, sie so am Leben zu erhalten: "Ich kann im Moment nur beten und Geld rüberschicken, damit meine Mutter die Sauerstoffflaschen besorgen kann. Eine Sauerstoff-Flasche kostet circa 300 Euro. Also drei Monatsgehälter. Eine Flasche hält etwa für zehn Stunden."
Immunsystem durch den Fastenmonat geschwächt?
Ohne das Geld für die Sauerstoff-Flaschen wäre seine Mutter möglicherweise schon tot. Auch Anke, Arians Frau, leidet mit. Die beiden haben einen kleinen Sohn.
"Das nimmt einen sehr mit. Ich merke auch, wie es Arian sehr mitnimmt und ihn ständig beschäftigt. Es schockiert. Denn die Hoffnung scheint irgendwie zu schwinden, weil alle schwer erkrankt sind. An den Stimmen hört man es auch", sagt seine Frau.
Arian hat an der Ruhr-Uni in Bochum promoviert und ist als Ingenieur tätig. Er lebt seit über 15 Jahren in Deutschland. Wie er schicken viele Afghanen aus Deutschland ihrer Familie Geld in die Heimat, damit sie überleben kann.
"Normalerweise schicke ich immer 50 Prozent von dem, was ich verdiene, nach Kabul", so Arian Hassib. "An meine Mutter, meine Brüder, an meine Schwestern. Damit sie über die Runden kommen. Aber mittlerweile sind es 80 Prozent dessen was ich verdiene. Das macht auch mir auf jeden Fall einen erheblichen Druck. Ich habe alle meine Rücklagen aufgebraucht. Da steht man dann ohne Unterstützung da."
Familien beerdigen ihre Angehörigen heimlich
Fraglich ist, warum sich in Afghanistan so viele Menschen seit Ende des Fastenmonats Ramadan, Ende Mai also, infiziert haben.
"Ich habe die starke Vermutung, dass nach dem Fastenmonat ihre Körper sehr schwach geworden sind. Dann kamen die Festtage und durch Kontakt muss das Virus irgendwie mit reingebracht worden sein in die engen Räume, wo es schwer ist, Abstand zu halten", so Arian Hassib.
Mittlerweile sterben immer mehr Menschen in Kabul zuhause. Sie werden nachts beerdigt, quasi im Verborgenen. "Die nächtlichen Beerdigungen haben zugenommen. Viele Familien haben Angst, stigmatisiert zu werden. Da ist eine Art Scham. Die Familien-Mitglieder schämen sich dafür, dass jemand aus ihren Reihen an Corona gestorben ist. Dass sie ausgestoßen werden könnten. Oder man sich von ihnen distanzieren könnte".
Intellektueller: In Bezug auf Corona problematisch - die orientalische Großfamilie
Der afghanische Intellektuelle Massoud Rahel, der bald 50 Jahre in Deutschland lebt, berichtet ebenfalls von Freunden in Kabul, die nach dem Ramadan-Fest binnen weniger Tage gestorben seien.
"Ich bin überrascht, wie schnell einige Freunde gestorben sind", so Rahel. "Es gibt eine riesige Diskrepanz zwischen den Informationen der Regierung und den Informationen, die man privat mitbekommt. Die Regierung sagt: wir haben in Afghanistan bislang 22.000 Infizierte. Man hat den Eindruck, die Regierung ist in diesem Fall nicht transparent und die Informationspolitik nicht korrekt. Man hört zum Beispiel, dass bei Amrullah Saleh, dem Vize-Präsidenten, die ganze Familie infiziert ist."
Afghanistans Gesundheitssystem ermöglicht nur wenige Coronatests. Auf die Ergebnisse müssen Betroffene bis zu drei Wochen warten. Das System ist überfordert.
"Die Maskenpflicht zum Beispiel: Inwieweit wurde das eingehalten? Oder die Versammlungsverbote? Es ist eine Tatsache, dass nach dem Eid-Fest an Ramadan die Zahlen der Infektionen exponentiell zugenommen haben. Und wir haben natürlich das klassische Problem der orientalischen Welt - das ist die Großfamilie", so Rahel.
Social Distancing in einer Stadt wie Kabul ist schwierig
Die ersten Fälle von COVID-19 gab es im Februar, als afghanische Migranten aus dem Iran zurück nach Afghanistan kehrten.
"Wir haben im Iran Zehntausende afghanische Gastarbeiter. Und ein Teil von ihnen wurde von den Iranern ausgewiesen. Und sie haben diesen Virus mit sich getragen. Und das afghanische Gesundheitssystem – überhaupt die Gesundheitssystem in der sogenannten Dritten Welt sind gar nicht vorbereitet, mit so einem Phänomen umzugehen. Wie kann man feststellen, dass jemand infiziert ist?", so Rahel.
Regeln wie in Deutschland hält er in Afghanistan für nicht machbar. "Wie soll ein afghanischer Arbeiter, der sehr wenig verdient, sich zuhause halten? Er muss arbeiten! Und in einer Stadt wie Kabul, wo drei Millionen Leute leben, ist die Einhaltung von social distancing sehr schwierig. Da muss man sogar Militär einsetzen."
Hassib: Zeit für einen Spendenanruf
Würde es deshalb Sinn machen, Hilfsgelder für Afghanistan umzuschichten? "Man sollte die finanziellen Quellen, die man für andere Projekte hat, direkt zur Bekämpfung von Corona anwenden. Da sollte man schnell reagieren. Denn das ist auch eine Gefahr für Europa. Wir leben in einer globalen Welt. Und die zweite Welle ist schon von der Tür."
Auch Arian Hassib fordert mehr Hilfe aus Deutschland: "Es ist Zeit, einen Spendenaufruf zu tätigen. Wie bei einem Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen. Gerade passiert eine Katastrophe in Afghanistan."