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Corona-Infektionen vermeiden
"Einfache Regel: keine ungeschützten Kontakte in Innenräumen"

Der Modellierer Kai Nagel hält Kontakte in Innenräumen für eines der kritischsten Infektionsrisiken in der Corona-Pandemie. Lägen keine negativen Schnelltests vor oder sei Maskentragen nicht möglich, sollten private Besuche drinnen oder Aufenthalte in Büros ausbleiben, mahnte Nagel im Dlf.

Kai Nagel im Gespräch mit Jasper Barenberg |
Eine Frau und eine Mann sitzen in einem Büro und telefonieren
Großraumbüros sind ein Ansteckungsrisiko, warnt der Physiker Kai Nagel (imago/rheinmainfoto)
Vor dem Gipfeltreffen von Bund und Ländern am 22. März 2021 zur weiteren Pandemie-Bekämpfung spricht sich der Mobilitätsforscher und Modellierer Kai Nagel vor allem für eine Einschränkung der Kontakte in Innenräumen aus. Private Besuche oder Aufenthalt am Arbeitsplatz sollten nur mit Maske oder nach einem negativen Corona-Schnelltest möglich sein, ansonsten müsse man darauf verzichten.
Nagel und sein Team an der Technischen Universität Berlin simulieren in Computermodellen verschiedene Szenarien der Virusausbreitung und geben dazu regelmäßig den "Modus Covid"-Bericht heraus. Durch die hoch ansteckende Coronavirus-Variante B.1.1.7. befinden sich die Infektionszahlen in Deutschland derzeit in einer Phase exponentiellen Wachstums. Selbst die beim Bund-Länder-Treffen Anfang März vereinbarte sogenannten Notbremse würde nun nicht mehr reichen, um dieses zu stoppen, betonte Nagel. "Wir müssen irgendwie darüber hinausgehen."
Vor allem im privaten Bereich gebe es derzeit viele ungeschützte Kontakte. Geschäfte, wo die Kunden und Kundinnen Maske trügen, seien in den Modellrechnungen dagegen nicht so problematisch. "Insofern müsste man das eigentlich austauschen", so Nagel: "Man müsste sagen, Geschäfte offen ist okay, aber private Besuche gehen in dem Maße nicht mehr."
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Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Der Physiker Kai Nagel beschäftigt sich an der TU in Berlin mit Mobilitätsforschung und hat das in den letzten Monaten intensiv mit Informationen über die Infektionsdynamik des Coronavirus verbunden. Das macht es dann auch möglich, Gegenmaßnahmen zu beurteilen, zum Beispiel Kontaktsperren, Einkaufsmöglichkeiten oder Schulöffnungen. Herr Nagel, habe ich damit ganz grob, aber richtig umrissen, worum es bei Ihrer Forschung geht?
Kai Nagel: Ja, sehr gut zusammengefasst. Ich sage noch mal zwei Sätze dazu: Wir bauen Modelle, in denen sich synthetische Personen bewegen, Abbilder realer Personen, meistens im urbanen Kontext. Die treffen sich dann auch, und wenn sie sich treffen, kann Virus-Übertragung stattfinden. Das ist das, was wir dazu gebaut haben. Das heißt, wir setzen infizierte Personen in diese Simulationen und die treffen dann andere und dann gibt es wieder eine Infektion, und auf die Art und Weise brennt das dann immer weiter. Dann kann man sagen, wie viel Reduktion es gibt, wenn bestimmte Treffen nicht mehr stattfinden oder die während der Treffen eine Maske aufhaben oder ein Teil von denen geimpft ist.

Mehr "aushäusige Aktivitäten" als im Januar

Barenberg: Wenn Sie das noch ergänzen mögen: Welche Informationen über das aktuelle Mobilitätsverhalten können Sie zugrunde legen?
Nagel: In die Simulationen gehen tatsächlich auch tagesaktuelle Mobilfunkdaten ein. Was die für uns sagen ist, wie viel Prozent der normalen aushäusigen Aktivitäten am betrachteten Tag stattfinden. Da war jetzt zum Beispiel im Januar, dass noch etwa 67 Prozent der normalen Aktivitäten stattfanden; jetzt sind wir bei 76 Prozent. Das ist ein bisschen komisch, es ist genau der Zahlendreher. Aber das sind dann doch etwa zehn Prozent mehr, und das macht tatsächlich bezüglich Infektionen sehr viel aus. Das klingt nach nicht viel, aber man sieht das doch recht dramatisch in den Zahlen.
Barenberg: Eine Nachfrage hätte ich noch, weil Sie gesagt haben, Sie untersuchen das vor allem mit Blick auf den urbanen Kontext. Welche Folgen hat das für das, was Sie aussagen können über die Frage, wenn Mobilität jetzt verringert wird? Gilt das dann auf dem Land nicht oder weniger?
Nagel: Wir müssen uns vielleicht noch mal austauschen, wo überhaupt Infektionen stattfinden in diesem Modell. Aber gerade als Frage darauf: Wir haben am Anfang mal Berlin simuliert und München und dann den Großraum Köln, Düsseldorf, Heinsberg, weil Heinsberg ja früh dran war. Da war relativ klar: Wenn man eine bestimmte Maßnahmenstrenge in Berlin hat, dass das in München und in Köln und Düsseldorf auf jeden Fall auch funktioniert. Von daher gesehen sieht es im Moment so aus, als ob die urbanen Räume mehr Probleme hätten als die ländlichen, und von daher gesehen gehen wir einfach vom kritischsten Fall aus.
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"Wir müssen deutlich restriktiver werden"

Barenberg: Jetzt haben Sie ja schon zwei Zahlen genannt. 67 Prozent der durchschnittlichen Mobilität, haben Sie gesagt, war es im Januar; jetzt sind wir bei 76 Prozent. Wenn Sie diesen Zusammenhang in den Blick nehmen von Mobilität und der Entwicklung auf der einen Seite und der Ausbreitung der Pandemie jetzt vor allem auch mit den neuen Varianten, für wie gefährlich halten Sie die Situation im Augenblick?
Nagel: Wir haben in unserem Modell versucht, diese Zahlen nachzuspielen, die ja auch Spahn genannt hat, wo über die Zeit der Anteil oder die Menge von dieser neuen Mutation immer mehr wurde. Was wir an der Stelle tatsächlich in das Modell reinstecken mussten, ist, dass das doppelt so ansteckend ist wie die Version vorher. Wir wissen jetzt nicht genau, ob das dort ist, wo man sich aufhält, oder weil das vielleicht eine doppelt so lange Phase ist, wo die Ansteckung ist, aber es ist schon dramatisch viel mehr. Es ist im Einzelfall mehr, als es im Gesamtkontext nachher rauskommt. Da werden ja oft diese 35 Prozent genannt. Das heißt, wir müssen jetzt doch noch mal sehr deutlich restriktiver werden mit uns selber, irgendwie Kontakte vermeiden. Und die einfache Regel ist eigentlich für einen selbst immer: Kontakte in Innenräumen müssen vermieden werden, wenn sie ungeschützt sind.

"Die Notbremse wird nicht reichen"

Barenberg: Würden Sie vor diesem Hintergrund jetzt sagen, mit Blick auf die Beratungen und die Debatte darüber, ob man die bisherigen Lockerungen vielleicht halten kann, oder ob wir sie wieder einschränken müssen: Ist es Zeit für die Notbremse heute, wenn die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin sich beraten?
Nagel: Das Schlimme ist, dass die Notbremse nicht reichen wird. Das ist so viel ansteckender, dass, wenn wir nur zurückgehen auf unsere Regeln und unser Verhalten vom Januar, das exponentielle Wachstum nicht gestoppt wird. Wir müssen irgendwie darüber hinausgehen. Unser regelmäßiger Vorschlag ist genau das: keine ungeschützten Kontakte in Innenräumen. Das heißt, entweder Masken aufsetzen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, oder vorher einen Schnelltest machen, und wenn das aus irgendeinem Grunde nicht möglich ist, auf die Begegnung verzichten.
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Umfassende Teststrategie

Barenberg: Es wird in den letzten Tagen immer stärker diskutiert, dass wir im Grunde in einer Situation sind, wo wir diese starke Dynamik haben, vor allem durch die Mutationen, wo wir auf der anderen Seite aber keine umfassende Teststrategie haben, wie wir das heute Morgen etwa am Beispiel von Tübingen hier im Deutschlandfunk diskutiert haben. Wäre denn eine umfassende Teststrategie ein wirksames Gegenmittel gegen die Dynamik der dritten Welle?
Nagel: Ja, das würde auf jeden Fall helfen, und das müsste man dann hochfahren. Aber es bettet sich gut ein in das, was ich eben schon mal gesagt habe. Wenn wir erst mal sagen, Kontakte in Innenräumen, die ungeschützt sind, gehen nicht mehr, dann würde man sagen, was kann man denn machen? Ich kann erst mal die Maske aufsetzen. Das finde ich vielleicht nicht bequem, und dann sage ich, ich versuche einen Schnelltest zu machen, und dann kriege ich den vielleicht nicht, und dann kann ich sagen, kann ich vielleicht das Treffen nach draußen verlagern. Das ist ja gerade bei privaten Treffen doch häufig auch eine Möglichkeit. Wenn das nicht geht, dann werden wir, glaube ich, erst mal darauf verzichten müssen, und dann ist es so, wenn diese Schnelltest-Strategie schnell genug aufgebaut wird und die Kapazitäten dann entsprechend da sind, dass man das dann entsprechend auch wieder akzeptieren könnte, dass man solche Begegnungen wieder zulässt.

"Absehbar sehr kritische Dynamik"

Barenberg: Wenn wir jetzt in einige Einzelheiten gehen, würde das zum Beispiel heißen, dass in dieser ganzen Debatte darüber, was wir an Reisen verantworten können jetzt über Ostern, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, sondern eher darauf ankommt, wie wir reisen, ob man sich schützt, ob man Abstand hält, ob man Maske trägt, ob man möglicherweise einen Schnelltest dazunimmt?
Nagel: Im Prinzip ist das größtenteils richtig, würde ich das genauso bestätigen, wie Sie das sagen. Die Frage ist, wie man das durchsetzt. Sagen wir mal, wenn jetzt Leute im eigenen Auto irgendwo hinfahren und dann gehen sie da in ein Ferienhaus und gehen vielleicht mal mit einer guten Maske in den Supermarkt zum Einkaufen, dann ist das wahrscheinlich nicht problematisch. Wenn sie am Zielort in ein Restaurant oder in eine Kneipe gehen, dann ist das plötzlich problematisch. Und es ist auch durchaus so: Sagen wir mal, man fliegt jetzt irgendwo hin, wo gerade nicht viel los ist, aber in den zwei Wochen gibt es eine starke Dynamik; dann bringt man natürlich das Resultat der Dynamik wieder mit hierhin. Ich würde jetzt mal sagen, von der Logik her ist das vielleicht nicht alles auszuschließen, aber von der Art, wie wir das handhaben können in der jetzt doch absehbar sehr kritischen Dynamik, würde ich das für problematisch halten, das genau jetzt zu erlauben.

"Viele ungeschützte Kontakte im privaten Bereich"

Barenberg: Kann Politik, können die Verantwortlichen das in ihrer Kommunikation leisten, ein differenziertes Bild zu zeichnen von dem, was wir machen sollten und was wir lassen sollten?
Nagel: Ich glaube schon, dass diese, im Grunde doch sehr einfache Regel, keine ungeschützten Kontakte in Innenräumen, gut kommunizierbar ist. Wenn wir uns daran alle beteiligen, dann ist das, glaube ich, auch leistbar. Das ist ja dann Schulen, Arbeitsplätze und Freizeitbereich, private Besuche, und wir sehen das immer wieder, dass das vielleicht doch nicht klar genug kommuniziert wurde. Das wirkte so, als ob ein Besuch pro Tag in einem anderen Haushalt noch akzeptabel ist. Die Rechnungen zeigen ganz klar, dass das viel zu viel gewesen wäre, und die meisten Leute haben ja Gott sei Dank auch weniger gemacht.
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Barenberg: Ich habe noch nicht ganz verstanden, muss ich Ihnen sagen, weil Sie ja prinzipiell gesagt haben, wir müssen nicht nur die Notbremse ziehen, sondern wir müssen eigentlich darüber hinausgehen. Was wäre Ihr Rat denn an die Runde bei den Beratungen heute? Sollen die Geschäfte wieder geschlossen werden? Ein heikler Punkt ist ja immer auch die Schulen, weil da noch viele andere Gesichtspunkte mit eine Rolle spielen, ob man die jetzt wieder zumachen soll oder weiter geöffnet lassen soll, wenn das begleitet wird von einer Teststrategie. Was wäre Ihre Antwort?
Nagel: Das ist ein bisschen komisch. Man wiederholt sich immer. Die kritischen Punkte sind diese ungeschützten Kontakte, und da müssen wir irgendwie dran. Da sind sehr viele, zumindest nach unseren Rechnungen, im privaten Bereich. Im Gegenzug dazu sind Geschäfte, wo man ja eine Maske aufhat und auch nicht sehr lange bleibt und mit einer Ausdünnung der Kundenzahl, nach unseren Rechnungen tatsächlich nicht sehr problematisch. Insofern müsste man das eigentlich austauschen. Man müsste sagen, Geschäfte offen ist wahrscheinlich okay oder ist okay, aber private Besuche gehen in dem Maße nicht mehr.
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"Private Besuche nur mit Schnelltest"

Barenberg: Haben Sie Vertrauen – das zum Schluss, Herr Nagel –, dass wir einigermaßen gut mit den Möglichkeiten, die wir haben, durch diese dritte Welle kommen können?
Nagel: Die Möglichkeiten, die wir haben, reichen, glaube ich, aus. Aber ich glaube, es ist in der jetzigen Situation schon gut, wenn die Bevölkerung, die Bürger, wir alle auch Verantwortung dafür übernehmen und sagen, wenn wir denn schon private Besuche machen wollen, dann nur mit einem Schnelltest vorher. Wenn wir das nicht hinkriegen, weil lange Schlangen vorm Testzentrum, dass wir dann tatsächlich auch konsequent sind und sagen, wir verzichten darauf. Und auch, dass wir das an den Arbeitsplätzen einfordern. Großraumbüros mit vielen Leuten oder Besprechungen oder Maske oder so was, das werden wir alles die nächsten Wochen bleiben lassen müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.