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Corona-Kontaktbeschränkungen
Über die Auswirkungen von Verzicht auf die Gesellschaft

Kontaktbeschränkungen in Zeiten von Corona bedeuten Verzicht. Kinder dürfen nicht mit anderen Kindern spielen, Jugendlichen fehlt ebenfalls der direkte Kontakt zu Freunden, Erwachsene können nicht verreisen. Doch welche Auswirkung und Bedeutung hat dieser Verzicht auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft?

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger |
Hände an einer Scheibe
Die soziale Distanz während der Coronakrise ist für viele belastend. (picture alliance / abaca / Alfred Yaghobzadeh)
Alte Menschen verzichten nach wie vor auf den Besuch ihrer Kinder und Enkel, Letztere auf das gemeinsame Spielen und Lernen in der Kita. Prof. Jörg Fegert weist auf eine bislang wenig beachtete Altersgruppe hin: Jugendliche müssen derzeit ohne ihre gewohnte Ausbildung in Schule und Lehre auskommen, sagt der ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Ulm.
"Aber das Zentralste würde ich eigentlich finden der Verzicht auf persönliche Treffen in ihrer Welt mit Jugendlichen. Natürlich gibt es Kontakte über das Internet, über alle möglichen Messenger-Dienste. Aber das ersetzt natürlich einfach nicht, dass man in der Gruppe loszieht. Und wir wissen von der Entwicklungspsychologie her, dass gerade im Jugendalter die Peer-Gruppe, die Gleichaltrigen-Gruppe, ganz stark an Bedeutung gewinnt."
Mädchen mit Mundschutz und Schulrucksack
COVID-19 - Kinder und Jugendliche in der Coronakrise
Der Corona-Shutdown, das Herunterfahren sozialer Kontakte und die daraus folgende Vereinzelung, führt in Familien zu Stress. Wie gehen Kinder mit der neuen Situation um? Wie erleben sie die Kontaktsperre? Was sind wichtige Regeln für Kinder und Erwachsene in Krisenzeiten? Ein Überblick.
Bei Problemen fehlt Jugendlichen der direkte Kontakt
Zwar gehen manche Jugendliche kreativ mit dem aktuellen Verzicht um und treffen sich beispielsweise paarweise zum Sporttreiben. Doch sobald Probleme auftreten, können sie sich nicht wie sonst im direkten Kontakt ihren Freunden oder einer Lehrkraft anvertrauen, sagt der Psychotherapeut.
"Wir merken das auch in den Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, weil wir weniger Empfehlungen haben an Eltern, Kinder mal oder Jugendliche vorzustellen, weil einfach die Probleme derzeit nicht so auffallen. Gleichzeitig haben wir mehr Notfallvorstellungen mit Suizidversuchen, mit eskalierten Situationen, weil einfach dieses dichte Netz dazwischen wegbricht. Und in diesem Netz dazwischen, da sind fürsorgliche Freunde und Freundinnen was ganz ganz Wichtiges."
Verzicht hat in der Coronakrise mit sozialer Ungleichheit zu tun
Je kleiner die Wohnung, desto schwieriger wird skypen, ohne dass die ganze Familie zuhört. Verzicht hat, auch in der Corona-Pandemie, viel mit sozialer Ungleichheit zu tun, sagt der Soziologe Stephan Lessenich. Im öffentlichen Diskurs werde allerdings so getan, als seien alle gleichermaßen betroffen. Aber:
"Der Verzicht, auf die Straße zu gehen oder soziale Kontakte zu pflegen, der trifft ja Menschen, die alleine wohnen beispielsweise ganz anders als Familien. Das betrifft die Menschen, die viele Ressourcen haben, um sich daheim zu versorgen mit allen möglichen Unterhaltungsangeboten oder die in der Lage sind, sich selber zu beschäftigen, anders als diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind. Es ist eine Ressourcenfrage, ob Verzicht weh tut, wie lang man ihn durchhält. Und das sehen wir jetzt in der Corona-Krise auch: Wer in einer kleinen Wohnung lebt, der hat an dem Verzicht, die Wohnung zu verlassen, schon ganz schön zu knabbern."
Sich nicht unbesorgt in die Arme fallen, einkaufen, ins Konzert gehen zu können, das sei Verzicht aus europäischer Perspektive, sagt der Professor für Soziologie an der Uni München. Global gesehen gehöre jedoch gerade dies zur täglichen Realität vieler Menschen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Menschen können nur vorübergehend auf ein Minimum verzichten
Die Bereitschaft, zugunsten eines höheren Gutes – der Gesundheit insbesondere der sogenannten Risikogruppen – auf eigene Interessen zu verzichten, sei noch hoch, stellt Tilo Wesche fest. Der Professor für Praktische Philosophie an der Uni Oldenburg hält es allerdings nur für vorübergehend denkbar, dass Menschen einem Minimum an Einkommen, an Grundrechten oder sozialen Kontakten entsagen müssen.
"Und davon unterschieden ist dann der Verzicht auf einen Standard überhalb dieses Minimums, das heißt der Verzicht auf Lebensqualität. Wenn ich zum Beispiel auf viele Reisen verzichte, oder wenn ich auf mehrere Autofahrten verzichte. Und davon drittens ist zu unterscheiden der Verzicht auf Erwartungen. Wenn ich zum Beispiel auf Gewinnerwartungen in der Zukunft verzichte. Und da kann man sehr schön sehen, dass die Lasten nicht gleich verteilt sind: Es wird von einigen erwartet, auf ein Minimum zu verzichten, indem sie zum Beispiel ihrem Beruf nicht nachgehen können. Und andererseits auf Gewinnerwartungen wird nicht verzichtet."
Dass die meisten Menschen aus Einsicht in die Notwendigkeit Verzicht üben, bezeichnet Regina Kreide als Idealfall. Wie freiwillig ist das Verzichten?, fragt die Professorin für Politische Theorie an der Uni Gießen, und kritisiert, dass Sicherheit und Freiheit gegeneinander ausgespielt würden.
Freiheit und Sicherheit bedingen sich gegenseitig
Um Gesundheit und ökonomischen Wohlstand zu sichern, sollen aufgeklärte Bürger derzeit nicht nur auf Sozialkontakte verzichten, sondern darüber hinaus auf einen Großteil ihrer Freiheitsrechte.
"Das geht für eine Zeit. Auch im demokratischen Staat kann man diese Rechtsbeschränkung eine Zeitlang durchhalten, es ist auch legitim, das zu machen. Aber man muss erstens immer die mildesten verfassungsrechtlichen Mittel wählen. Und zweitens sollte es nicht, wie jetzt vielerorts geschehen, so völlig an der parlamentarischen Kontrolle vorbeigehen. Das wird einfach entschieden. Und drittens ist es entscheidend, dass es nur temporär ist."
Die Notwendigkeit des Verzichts wird noch länger bestehen, prophezeit Stephan Lessenich. Corona könnte uns wellenartig noch über mehrere Jahre hinweg begleiten.
"Wir werden uns auf den Verzicht auf soziale Nähe, also jenseits der Kernfamilie oder des engeren Haushalts, werden wir uns wahrscheinlich erstmal gewöhnen müssen. Wir werden uns gewöhnen müssen an den Verzicht auf die üblichen Mobilitätsformen, die wir an den Tag gelegt haben, was nicht nur Fernreisen, Flugreisen in entfernte Weltregionen betrifft, sondern die ganz normale Verkehrspraxis wird sich verändern – was natürlich auch relevant ist für die Frage, wie wollen wir in Zukunft die Klimakrise bearbeiten?"
Den Verzicht üben
Dafür kann die Gesellschaft jetzt üben. Philosophieprofessor Tilo Wesche bezeichnet die Corona-Zeit mit Blick auf die Zukunft als Erfahrungsraum "...wo wir eben die Erfahrung sammeln, auf vieles verzichten zu müssen, zum Beispiel das Fliegen, das Reisen, soziale Kontakte. Und wir werden die Erderwärmung nicht bekämpfen können, wenn wir nicht auch den Verzicht üben. Das scheint mir eine positive Erfahrung gegenwärtig zu sein, dass wir sehen, individuell, aber auch gesellschaftlich funktioniert es, geht es, wenn wir auf einiges verzichten oder sogar verzichten müssen."
Worauf sie verzichten müssen, sei allen Menschen klar, sagt Regine Kreide: weniger fliegen, Tiere anders halten, weniger und nachhaltig produzierte Waren konsumieren.
Regeln für den Verzicht
Die Politikwissenschaftlerin ist überzeugt, dass sich dies nur durch Regeln für Großunternehmen und Individuen einerseits sowie durch ein gewisses Maß an Einsicht in diese Regeln andererseits erreichen lässt. Sie schlägt vor, genau hinzuschauen, wie sich die Menschen in der Coronakrise verhalten. Wer hält sich an welche Regeln und warum?
"Auf der einen Seite sieht man, dass es eine gewisse Lust an der freiwilligen Unterwerfung unter die gesetzten Regeln gibt. Also man hat geradezu den Eindruck, Menschen würden alles Mögliche tun im Moment und auf noch mehr Freiheit verzichten, wenn gesagt würde: Das hilft, den Virus einzudämmen. Also geradezu erschreckend. Auf der anderen Seite führen zu starke Regulierungen, vor allen Dingen jene, von denen man nicht unbedingt einsehen kann, dass sie sinnvoll sind und warum man nun auf etwas verzichten muss, sehr schnell zu Widerstand und Trotzverhalten."
Jugendliche handeln den Verzicht sehr unterschiedlich
Aus der Forschung insbesondere zu Traumata weiß Jörg Fegert, dass jenen Jugendlichen das Verzichten nicht so schwer fällt, die bereits eine solche Erfahrung hinter sich haben - zum Beispiel, dass ihre Eltern sich getrennt haben. Andere hätten es viel schwerer:
"Da sind vor allem die bedroht, die entweder bisher noch nie eine Belastung erlebt haben, weil die dann oft wirklich überwältigt sind von dem, was jetzt an Verzicht gefordert wird und diejenigen, die extrem viele Belastungen, die ganz viel Pech im Leben gehabt haben, also Kinder, die misshandelt wurden, vernachlässigt wurden, ein Elternteil ein Suchtproblem hat, also wenn solche frühe belastenden Kindheitsereignisse in großem Maß zusammen kommen, dann brauchen die jetzt viel Hilfe und Unterstützung."
Die große Herausforderung bestehe für Jugendliche darin, dass es mit dem Verzichten nicht so schnell vorbei sei. Damit sie die Situation nicht nur als fremdbestimmt wahrnehmen, appelliert Jörg Fegert an Politiker und Pädagogen, in den Sommerferien für Angebote in kleinen Gruppen zu sorgen.
"Wir werden keine großen Zeltlager haben, wir werden keine Klassenreisen haben, wir haben keine Sommerferien, die viele Jugendliche allein ins Ausland gemacht haben. Das wird alles wegfallen. Warum kann man nicht Pädagogikstudierende jetzt über den Sommer und im Herbst im Sinne von Studienpraktika praktisch einbinden, um vor Ort Angebote für Jugendliche zu machen, AG's zu machen usw.? Ich glaube, das wäre ganz wichtig, um den Verzicht nicht zu groß werden zu lassen."