Am 11. März war das Coronavirus in 114 Ländern nachgewiesen. 118.000 Menschen hatten sich nachweislich infiziert, fast 4.300 waren gestorben. Für den Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, kurz WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, war damit eine Schwelle überschritten. Bei seiner beinahe täglichen Lagekonferenz verkündete er, was seit Tagen erwartet worden war: Das Virus mit dem technischen Namen COVID-19 sei eine Pandemie.
Wie gefährlich ist das neue Coronavirus?
Die Zahl der Infizierten mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 steigt trotz Gegenmaßnahmen vieler Regierungen weiter - auch in Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation hat Ende Januar den "internationalen Gesundheitsnotstand" ausgerufen.
Die Zahl der Infizierten mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 steigt trotz Gegenmaßnahmen vieler Regierungen weiter - auch in Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation hat Ende Januar den "internationalen Gesundheitsnotstand" ausgerufen.
Mit der Erklärung hatte Tedros gezögert. Mehr als einen Monat zuvor hatte er den Corona-Ausbruch als internationalen Gesundheitsnotstand eingestuft - so wie in den Jahren zuvor zwei Ebola-Ausbrüche in Westafrika und im Kongo und die Welle von Zika-Infektionen, die 2016 vor allem in Südamerika zu schweren Schädigungen ungeborener Kinder führten. Doch am 11. März führte für Tedros nichts mehr an der Feststellung vorbei, dass das Coronavirus sich weltweit ausgebreitet hatte und damit die höchste Eskalationsstufe erreicht war.
"Den Begriff der Pandemie darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es ist ein Begriff, der, missbräuchlich verwendet, unverhältnismäßige Furcht auslösen kann, oder zur ungerechtfertigten Annahme führen kann, der Kampf sei vorbei, was dann zu unnötigem Leid und weiteren Toten führen kann. Dass wir von einer Pandemie sprechen, ändert nichts an der Einschätzung, die die WHO von diesem Virus und seiner Bedrohung hat. Es ändert nichts an dem, was wir tun, und an dem, was Staaten tun sollten."
Kritik am Umgang mit der Schweinegrippe-Pandemie
Die WHO, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, verfolgt seit mehr als 70 Jahren das Ziel, allen Menschen zum bestmöglichen Gesundheitsniveau zu verhelfen. Dazu gehören der Aufbau funktionierender Gesundheitssysteme, Impfkampagnen, globale Behandlungsrichtlinien und die Koordination globaler Gesundheitsnotstände. Das Atemwegssyndrom SARS, Vogelgrippe, Ebola - in der globalisierten Welt nehmen auch die globalen Epidemien zu.
Als erste Pandemie im 21. Jahrhundert wurde 2009 eine durch das H1N1-Virus verursachte Erkrankung, die sogenannte Schweinegrippe, ausgerufen. Nach WHO-Schätzungen starben an ihr allein im ersten Jahr zwischen 100.000 und 400.000 Menschen, vor allem Kinder und junge Erwachsene. Die Pandemie endete erst, als im Eilverfahren Impfstoffe zugelassen wurden. Für die WHO aber begann damit erst ein langer Weg der Analyse, wie zukünftigen Epidemien zu begegnen sei. Es hieß, die Pandemie sei viel zu früh erklärt worden. Selbst innerhalb der Organisation war die Kritik immens. Und von außen nahm der Druck in den Jahren nach H1N1 sogar noch weiter zu.
Zu Recht, wie Gian Luca Burci urteilt. Der Jurist leitet am Genfer Graduate Institute ein Programm für globales Gesundheitsrecht. Davor arbeitete er 17 Jahre lang für die WHO: "In der Ebolakrise von 2014 und 2015 war ich als Rechtsberater beteiligt an der Koordination. Es war eine sehr schwere Zeit für die WHO. Vor allem war die Organisation überhaupt nicht vorbereitet darauf. Es herrschte Chaos. Es gab keine klaren Entscheidungsstrukturen, jeder hatte andere Vorstellungen, was jetzt zu tun sei. Es war deprimierend."
Lehren aus Ebola-Pandemie gezogen
Als 2014 Ebola in Westafrika ausbrach, hatte die WHO gerade die schlimmsten Kürzungen in ihrer Geschichte hinter sich. Ein Viertel des Haushalts hatten die Mitgliedsstaaten ihr gestrichen, hunderte Mitarbeiter hatten ihre Jobs verloren. In Afrika waren gerade noch drei Notfallexperten stationiert. Die entsprechende Abteilung im Genfer Hauptquartier hatte noch 34 Mitarbeiter - von vorher einhundert. Das verzögerte die Hilfe. Am Ende starben mehr als 11.300 Menschen. Nachdem die Epidemie Anfang 2016 als beendet erklärt wurde, habe sich die WHO völlig neu aufgestellt, lobt Burci:
"Wenn man vergleicht, was die WHO in der Ebolakrise damals getan hat und was sie heute tut, dann gibt es unbestreitbare Verbesserungen. Die Einrichtung eines Programms speziell für Gesundheitsnotstände hat einen großen Unterschied gemacht, trotz der nach wie vor begrenzten Ressourcen und fehlender Mittel. Die WHO ist heute operativ tätig in einer Weise, die vor sechs, sieben Jahren vollkommen unvorstellbar gewesen wäre."
So klingt es dieser Tage auf der Zufahrt zum Gebäude der Weltgesundheitsorganisation im schweizerischen Genf, die an normalen Tagen die meisten der 1.600 Mitarbeiter im WHO-Hauptquartier mit dem Auto befahren. Bei Corona ist die WHO selbst auf allen Ebenen von der Pandemie betroffen, dem Virus, den sie bekämpft. Das gab es so noch nie. Die meisten Mitarbeiter arbeiten von zuhause. Doch der Notfallstab ist im Hauptquartier aktiv, unter strengen Hygieneauflagen. Immerhin hat es schon zwei bestätigte Infektionen gegeben.
WHO als globaler Krisenmanager in der Corona-Pandemie
An der Arbeitsfähigkeit der Organisation ändert das alles nichts, wie WHO-Chef Tedros versichert: "Seit der Bestätigung dieses Ausbruchs haben die WHO und ihre Partner die Beobachtung und die Durchführung von Tests vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ausgeweitet. Wir haben Wissenschaftler zusammengebracht, um Forschung und Entwicklung von Tests, Medikamenten und einer zukünftigen Impfung voranzutreiben. Wir sind mit den Medien und Regierungen im Gespräch, um Vorsorgemaßnahmen zu beschleunigen und die Bevölkerung zu sensibilisieren. Und wir arbeiten mit der Industrie daran, Lieferketten zu sichern und Engpässe zu bewältigen."
Die bürokratische, schwerfällige Organisation von einst ist zum Dreh- und Angelpunkt der globalen Bekämpfung des Coronavirus geworden. WHO-Expertenteams waren oder sind noch in China, im Iran oder Italien aktiv. Andere UN-Programme ordnen sich den Medizinern vorläufig unter. Etwa das Welternährungsprogramm WFP, das bedürftige Länder mit Corona-Tests, Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräten aus WHO-Beständen versorgt.
Dass die WHO als Koordinatorin weithin akzeptiert wird, ist nicht selbstverständlich. Vor ein paar Jahren wäre es sogar undenkbar gewesen. Doch die Organisation habe sich tatsächlich gewandelt, freut sich die Gesundheitsexpertin Ilona Kickbusch, die in einer Kommission an den jüngsten WHO-Reformen mitgewirkt hat. Gewandelt habe sich aber auch die Wahrnehmung der WHO:
"In unserem Teil der Welt hat man sich immer für immun gehalten gegenüber solchen Dingen. Und jetzt, wo ein Virus bei uns ist, da sieht man, dass man eigentlich die Organisation nicht ernst genug genommen hat."
Macher Ghebreyesus
Der gewachsene Einfluss der WHO hängt für Kickbusch direkt mit Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus zusammen, der die WHO seit Juli 2017 führt. Der Immunologe stammt aus Äthiopien, wo er zunächst Gesundheits- und später Außenminister war. Anders als seine Vorgängerin Margaret Chan gilt Tedros nicht nur als agiler und entscheidungsfreudiger Macher, sondern auch als Mann, der gerne in der Öffentlichkeit steht. In der Krise ein klarer Vorteil, urteilt Ilona Kickbusch:
"Es ist auch wichtig, dass die WHO sich inzwischen nicht mehr nur an ein professionelles Publikum und die Mitgliedsländer der Ministerien wendet. Der Generaldirektor spricht mit Premierministern, mit Präsidenten, die seinen Rat wollen, wie sie vorgehen sollen, und man macht den Outreach zur allgemeinen Bevölkerung bis hin zu einer Tiktok-Challenge."
Bei der "Safe Hands-Challenge" ruft Tedros Tiktoker und Youtuber auf, richtig Hände zu waschen: "Es gibt verschiedene praktische Maßnahmen, wie Du Dich vor dem Virus schützen kannst", erklärt Tedros in die Kamera – und führt sie selber vor. 115.000 Menschen haben dem WHO-Chef bisher beim Händewaschen zugeschaut, Ungezählte die Herausforderung angenommen und ihr eigenes Händewaschvideo gedreht.
Chinas Corona-Management als Vorbild umstritten
Das ist mehr als Marketing und Gesundheitsvorsorge, sondern auch ein Stück weit Emanzipation von den Staaten, die Tedros – wie er selbst öffentlich erklärt - zu zögerlich handeln. Doch was genau bedeutet zögerlich? Ist China der alleinige Maßstab, wo nach Bekanntwerden des Corona-Ausbruchs wochenlange Ausgangssperren für Millionen verhängt und mit Gewalt durchgesetzt wurden? Der Genfer Gesundheitsexperte Gian-Luca Burci findet das problematisch:
"China zeigt nach SARS leider erneut sein wahres Gesicht: Am Anfang wurde die Epidemie versteckt und unterdrückt, dann wurde eine militärische Antwort gegeben, die im Rest der Welt undenkbar wäre. Jede Kritik oder jeder Hinweis, was man hätte besser machen können, wurde auf paranoide Weise zurückgewiesen. So funktioniert China, das ändert sich nicht. Und es ist ein großes Risiko für die WHO, dass sie gerade jetzt, wo die Spannungen zwischen China und den USA wachsen, als zu chinafreundlich empfunden werden könnte."
Auch Tedros persönlich sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, China mit Samthandschuhen anzufassen. Dass die Regierung in Peking den Corona-Ausbruch wochenlang verschwieg, was sie inzwischen selbst einräumte, kritisierte der WHO-Chef mit keinem Wort. Im Gegenteil lobte er Chinas Vorgehen und die angeblich totale Offenheit seiner Führung. Propaganda wie die eines Regierungssprechers, die US-Armee könne das Virus nach Wuhan eingeschleppt haben, blieb unkommentiert. Dabei warnt die WHO vor Falschmeldungen im Zusammenhang mit dem Virus.
Experten: chinesischer Weg nicht alternativlos
Nach der offiziell verkündeten Eindämmung der Corona-Epidemie in China feiert sich die Regierung in Peking nicht nur als Vorbild. Sie hilft bereits mit Ärzten und Material aus, etwa in Afrika, wo die Fallzahlen seit Tagen ansteigen. Experten wie Burci oder Kickbusch halten den chinesischen Weg indes nicht für alternativlos. In Deutschland oder der Schweiz, aber auch in Singapur oder Korea werde das Virus mit weniger autoritären Maßnahmen bekämpft. Doch Tedros ruft die Staatengemeinschaft dazu auf, alles Regierungshandeln der Corona-Bekämpfung und -Kontrolle unterzuordnen:
"Refocus the whole of government on suppressing and controlling COVID-19."
Doch abgesehen davon, ob das sinnvoll sei, sei es auch leichter gesagt als getan, kritisiert der Medizin-Professor Philippe Humbert, der an der Uniklinik von Besançon unterrichtet hat: "Die WHO-Experten empfehlen vor allem eins: Testen, testen, testen. Und tatsächlich ist es vollkommen richtig, dass man nur dann entscheiden kann, wer in strikte Quarantäne muss. Leider sind etwa bei uns in Frankreich derzeit die nötigen Tests nicht vorhanden. Das heißt, wir haben gar nicht die Möglichkeit, den Empfehlungen der WHO zu folgen, diejenigen zu isolieren und ärztlich zu versorgen, die positiv getestet werden."
Abhängig von der Unterstützung der Regierungen
Humberts Beispiel zeigt die Grenzen dessen, was die WHO erreichen kann - eine globale Organisation, die weltweit 8.000 Mitarbeiter und ein Budget hat, das gerade einmal dem der Genfer Uniklinik entspricht. Obwohl die WHO ihr Netzwerk zu Universitäten und der Wirtschaft ausgebaut hat, ist sie vor allem auf die Unterstützung von Regierungen angewiesen.
Ein besonders Problem sind Grenzschließungen: Wenn sich das Virus einmal ausgebreitet hat, gelten diese unter Epidemiologen als weitgehend sinnlos. Im Gegenteil: Sie halten wichtige Hilfslieferungen und internationale Experten auf. Selbst in Europa standen Lieferwagen mit dringend benötigten Masken tagelang im Stau, mussten Ärzte so lange an Grenzen warten, dass sie verspätet in die Kliniken kamen. In anderen Teilen der Welt könnten die Folgen noch dramatischer sein, warnt die Afrika-Direktorin der WHO, Matshidiso Moeti:
"Wir erhalten Hilfsanfragen aus vielen Ländern. Da werden verschiedene Experten benötigt, und da sind geschlossene Grenzen ein großes Problem für uns. Wir setzen auf Verhandlungen, auf Diskussionen, um humanitäre Korridore einzurichten, sodass für die Pandemiebekämpfung wirklich entscheidende Güter und Personen Grenzen überqueren und gleichzeitig die grundlegenden Dienstleistungen für die Bevölkerung aufrechterhalten werden können."
Unterfinanziert und ohne Druckmittel
Grenzschließungen sind aus Sicht von Epidemiologen vor allem politisch motiviert. Für die WHO bedeutet das: Sie kann nur appellieren. Sanktionsmöglichkeiten hat sie keine. Noch nicht. Wenn es nach Ilona Kickbusch geht, sollte sich das in Zukunft ändern. Sie fordert, zumindest die bisher ignorierten Vorsorgemaßnahmen gegen Pandemien mit finanziellen Druckmitteln zu verbinden.
"Das kann zwar weniger über die WHO geschehen wegen der rechtlichen Grundlagen, aber es könnte zum Beispiel durch die WTO geschehen, es könnte durch die Finanzorganisationen geschehen. Das heißt, man würde bestimmte finanzielle Unterstützung, bestimmte Anleihen nicht mehr bekommen als Land, wenn man nicht auch in die Vorbereitung von Pandemien investiert."
Beschließen müssten das allerdings die Staaten, die bisher wenig Interesse an der Vorbeugung gezeigt haben. Ob das Coronavirus den notwendigen Sinneswandel auslöst, wird vermutlich davon abhängen, wie lange und wie schlimm die Pandemie noch wütet. Für die langfristige Gesundheit der WHO entscheidender dürfte die Frage sein, wie die Organisation in Zukunft finanziert werden soll. So wie bisher könne es jedenfalls nicht weitergehen, urteilt Gian Luca Burci.
"Die WHO hat die dysfunktionale Situation, dass 80 Prozent ihrer Mittel aus freiwilligen Zuwendungen kommen. In einer Notfallsituation, wo man sofort handeln muss, ist das kein gutes Modell. Die WHO hat zwar für solche Fälle einen Notfallfonds gegründet, aber auch der war zuletzt mit 40 von 100 Millionen Dollar absolut unterfinanziert. Was man braucht, sind klare Mittelzusagen, Gelder, die flexibel und sofort einsetzbar sind. Abhängigkeit von den Gebern darf es nicht geben."
WHO und globales Gesundheitssystem stärken
Doch nach der Corona-Krise rechnen Ökonomen mit einer Weltwirtschaftskrise. Werden Länder gerade dann der WHO mehr Geld bereitstellen als bisher? Ilona Kickbusch ist skeptisch, sieht aber keine Alternative: "Die Länder sind sehr darauf konzentriert, im eigenen Land ihr Geld auszugeben. Von daher ist die finanzielle Situation weiterhin nicht gut. Aber nach dieser Krise muss man sich diese Finanzierungsmodelle neu ansehen. Das kann nicht auf diesen Zufälligkeiten beruhen bleiben."
In der Not hat die WHO bereits zu ungewöhnlichen Mitteln gegriffen. Mittels Crowdfunding hatte sie bis Mitte vergangener Woche mehr als fünf Millionen Euro gesammelt. Firmen und Stiftungen, unter ihnen Tiktok oder der Fußballweltverband FIFA, spendeten ihrerseits Millionenbeträge, um den Kampf gegen das Coronavirus zu unterstützen. Auf lange Sicht aber wird das Gesundheitssystem als Ganzes gestärkt werden müssen, inklusive der WHO.
Wie richtungsweisend ihr Abschneiden in dieser Krise ist, weiß ihr Chef sehr gut. Bei einer seiner Pressekonferenzen betonte Tedros: "Wir zimmern dieses Schiff zusammen, während wir es segeln. Und da ist es entscheidend, dass wir weiterhin alle Erkenntnisse und Innovationen teilen, so dass wir Überwachung, Vorbeugung und Behandlung verbessern können."
Tedros meinte den Kampf gegen das Coronavirus. Doch genauso hätte er vom globalen Gesundheitssystem sprechen können. Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Bis dahin sollte die Weltgemeinschaft die WHO noch mehr stärken, als sie nach einer erfolgreich gemeisterten Corona-Krise hoffentlich sein wird.