Zum Thema Virus-Mutationen gebe es viele verschiedene Meinungen, so Rasche. Zum Beispiel sei die Mutation in Kindergärten in Köln aufgetreten, dort sei sie aber schon 14 Tage vorhanden gewesen und hätte sich längst nicht so ausgebreitet, wie es der Virologe Christian Drosten vermutet hätte. Es gebe viele verschiedene Informationen und man müsse vernünftig und verantwortungsvoll damit umgehen, und nicht nur verbieten. Das sei nicht die Lösung, glaubt der FDP-Politiker.
Im Moment werde darüber debattiert, wo man in kleinen Schritten öffnen könnte, zum Beispiel mit Wechselunterricht in Grundschulen. Es sei jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, in einzelnen Bereichen etwas zu öffnen; den Menschen nicht nur die Perspektive zu geben, sondern auch den Glauben, sagte Christoph Rasche im Deutschlandfunk.
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Das Interview in voller Länge:
Philipp May: Am Mittwoch schalten sich die Ministerpräsidentinnen und Präsidenten wieder mit dem Kanzleramt zusammen. Ein Ende des Lockdowns ist eher unwahrscheinlich; zu groß ist die Sorge aufgrund der ansteckenden Virus-Mutation. Vor allem die Variante aus Großbritannien ist auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Doch weil die Fallzahlen trotzdem weiter sinken, werden die Forderungen nach einem Fahrplan raus aus dem Dauer-Lockdown lauter.
Druck, schneller zu lockern, macht die FDP, die im einwohnerstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen bekanntlich gemeinsam mit der CDU regiert. Sie hat bereits vor zehn Tagen einen Fahrplan für Lockerungen vorgelegt und den noch mal Ende der Woche konkretisiert, das alles ohne Abstimmung mit dem großen Koalitionspartner.
Am Telefon ist jetzt Christoph Rasche, Fraktionsvorsitzender der NRW-FDP. Haben Sie keine Angst vor den Mutationen?
Rasche: Natürlich haben wir großen Respekt vor der Mutation. Da sind viele Fragen offen. Wissenschaftliche Untersuchungen fehlen, zumindest liegen die Ergebnisse nicht vor, oder sie werden nicht bekannt gegeben. Womöglich wissen wir erst in einigen Wochen oder Monaten richtig Entscheidendes über die Mutationen und so lange – meine Überzeugung – können wir nicht mit der Öffnung warten.
May: Wobei es gibt ja schon wissenschaftliche Daten aus Großbritannien, die laut Christian Drosten, dem deutschen Virologen an der Charité, sehr präzise sein sollen. Demnach sagt man, 30 bis 50 Prozent höher soll die Ansteckungsgefahr sein bei dieser Variante.
Übervorsicht ist über das Ziel hinausgeschossen
Rasche: Es gibt viele Untersuchungen in der Tat, aber die sind noch oberflächlich. Und vor allem gibt es viele verschiedene Meinungen. Wir haben die Mutation jetzt auch in Kindergärten in Köln erlebt. Dort war sie überraschenderweise schon über 14 Tage vorhanden und hat sich definitiv nicht so ausgebreitet, wie es Herr Drosten im Vorfeld vermutet hat. Insofern gibt es unterschiedliche Informationen. Da müssen wir vernünftig und verantwortungsvoll mit umgehen, aber nicht nur verbieten. Das ist nicht die Lösung.
May: Verantwortungsvoll ist, wenn man dann lockert, weil man es nicht genau weiß?
Rasche: Wir haben den Menschen immer seit Monaten gesagt, wenn wir eine Inzidenz von 50 erreichen, öffnen wir wieder. Im Moment läuft die Diskussion dahin, dass wir darüber debattieren, und das ist schon ein Fortschritt, wo wir in kleinen Schritten öffnen können, zum Beispiel mit Wechselunterricht in Grundschulen. Das ist ja in dem Sinne keine Öffnung, der Lockdown geht weiter. Nur in einzelnen Bereichen etwas zu öffnen, den Menschen nicht nur die Perspektive geben, sondern auch den Glauben, dafür ist jetzt der richtige Zeitpunkt.
May: Wen meinen Sie mit "wir"? Meinen Sie da die Politik, oder meinen Sie die Landesregierung, wenn Sie den Inzidenzwert von 50 ins Spiel bringen?
Rasche: Der Inzidenzwert von 50 spielte ja schon im letzten Sommer eine riesen Rolle, und das war die Politik in Gänze. Auch die Kanzlerin, Herr Braun, Herr Spahn, selbst Herr Lauterbach haben gesagt, wenn wir die Inzidenz von 50 erreichen, dann haben wir ein wesentliches Ziel erreicht und können öffnen. Von dieser These haben sie allerdings wieder Abstand genommen. Sie sind vorsichtig, das finde ich gut, aber eine Übervorsicht, die dazu führt, dass man die Wirtschaft komplett runterfährt – so hat es Herr Lauterbach noch vor vier Wochen vorgeschlagen -, das ist einfach eine Nummer zu viel, ist über das Ziel hinausgeschossen.
May: Nun plädieren aber die Mehrzahl, die deutliche Mehrzahl der Virologen und Epidemiologen eher dafür, noch einmal zu verschärfen, um die Zahlen noch schneller, noch weiter zu drücken, weil sie sagen, dieser Inzidenzwert von 75 oder auch 50 ist immer noch viel, viel zu hoch. Lockern hieße in dieser Situation sofort wieder exponentielles Wachstum.
Rasche: Wir sprechen als Politiker mit vielen, vielen Beratern, und das ist gut so. Ich habe den Eindruck, dass einige Virologen sehr einseitig denken und andere Aspekte, soziale und auch wirtschaftliche außen vor lassen. Ich möchte einen verantwortungsvollen Gesundheitsschutz. Das Gesundheitssystem darf nie überlastet werden. Das haben wir in Deutschland gut hinbekommen. Aber jetzt erwarten die Menschen Lockerungen und wenn wir diesen Wünschen der Menschen nicht folgen, sondern sie einfach fast ohne Begründung oder nachvollziehbare Begründung ablehnen, dann wird uns die Akzeptanz abhandenkommen, und da sehe ich eine riesengroße Gefahr. Deswegen müssen wir etwas tun.
"Die Mutationen erleben wir vor allem über Spekulationen"
May: Aber ist es nicht eine nachvollziehbare Begründung, wenn man sagt, 50 ist zu hoch, das geht sofort wieder in ein exponentielles Wachstum über, so wie wir es ja auch hatten bei diesem Inzidenzwert? Deswegen sind wir überhaupt erst damals im November in den Lockdown gegangen.
Rasche: Bisher war die Begründung für 50 immer, dass nur bis dahin die Gesundheitsämter in der Lage sind nachzuvollziehen, wo man sich angesteckt hat. Daran hat sich nichts geändert. Diese andere Argumentation wurde einige Monate später auf den Tisch gelegt. Die wundert mich. Und in Wahrheit ist es doch so: Die meisten Gesundheitsämter sind mittlerweile so gut ausgestattet, dass sie sogar mehr als bei einer Inzidenz von 50 nachverfolgen können. Das ist eher eine Begründung, den Wert etwas anzuheben. Aber ich glaube, wir brauchen eine kluge Mischung, den Menschen Perspektive geben, leicht zu öffnen, und trotzdem den Gesundheitsschutz zu gewähren.
May: Dann können wir mal auf Ihr Konzept schauen. Nordrhein-Westfalen – nehmen wir Ihr Bundesland – ist bei einem Inzidenzwert von 73, habe ich gesehen. Das hieße laut Ihrem Stufenplan mehr Präsenzunterricht jetzt sofort in Schulen und eingeschränkter Regelbetrieb in Kitas. Außenbetrieb von Gastronomie wäre wieder möglich, auch Hallensport und Außensport wäre wieder möglich. Das wären ja schon deutliche Lockerungen, die jetzt kommen müssten.
Rasche: Unser Papier ist ein Vorschlag, um die Debatte zu beleben. In Wahrheit hat man ja noch vor einer Woche die Debatte um Öffnungen von einigen Parteien wie der SPD komplett abgelehnt, allein schon die Debatte. Deshalb sind wir froh, dass wir mit unseren Papieren die Debatte maßgeblich angestoßen haben. Das was wir dort geschrieben haben, ist ja nicht in Stein gemeißelt, sondern wir wollen mit Partnern, mit allen Verbänden, mit allen Beteiligten diskutieren, wo ist der kluge, richtige Weg. Aber es muss eine Mischung sein von Öffnen, von Sicherheit und von Freiheit, und dazu tragen wir bei. Mir wäre ganz, ganz wichtig, dass wir den Grundschulkindern wieder eine Alternative bieten – vermutlich erst mal im Wechselunterricht. Beispielsweise besuchen die kleinen Kinder dann zwei Tage die Grundschule, sind drei Tage zuhause, das im Wechsel, das nach klaren Hygienekonzepten. Ich glaube, das ist verantwortlich und gibt den Kindern auch in Bezug auf Bildung und soziale Erlebnisse wieder das, was sie dringend brauchen.
May: Nun sagen aber beispielsweise Jens Spahn und Markus Söder, der Ministerpräsident in Bayern, es geht gerade gar nicht anders, als auf Sicht zu fahren. Ist das nicht ein Punkt, gerade wenn man die Mutationen sieht – ich bringe sie noch mal ins Spiel -, wie die die Spielregeln dieser ganzen Pandemie gerade verändern?
Rasche: Die Mutationen erleben wir vor allem über Spekulationen. Da sagt der eine das, der andere behauptet, das ist sehr gefährlich, der andere behauptet, na ja, so ganz genau wissen wir das nicht. Und in Köln erleben wir, da hat sich das viel leichter ausgewirkt als vorher vermutet. Insofern fehlt uns da wirklich die richtige wissenschaftliche Grundlage, um das wirklich beurteilen zu können. Deshalb wollen wir ja nicht vieles öffnen oder ganz öffnen, obwohl wir vielleicht schon bald eine Inzidenz um 50 erreichen, sondern verantwortungsvoll in kleinen Schritten öffnen. Ich glaube, da ist kein Widerspruch, sondern das, was wir machen, ist absolut logisch. Und ich bin mir sicher, dass sich am Ende Klugheit und Vernunft durchsetzen wird, und da sind wir dabei.
"Argumente kamen oft sehr kurzfristig"
May: Klugheit und Vernunft auch bei Ihrem Koalitionspartner, der CDU?
Rasche: Ja. Sie sagten im Einspann, das hätten wir im Alleingang gemacht. Joachim Stamp hat dieses Papier vorgelegt. Ich habe mich eine Woche vorher geäußert. Aber täglich reden wir mit unserem Koalitionspartner – fair, verlässlich, so wie es in keiner anderen Koalition in Deutschland funktioniert. Insofern: Das, was wir wiedergeben, ist im Grunde eine Zusammenfassung von dem, was wir diskutieren. Aber jetzt kommen andere ins Spiel. Armin Laschet muss natürlich mit den anderen Ministerpräsidenten, mit der Kanzlerin verhandeln, was am Ende machbar ist. Womöglich kommen dort auch noch neue Informationen auf den Tisch, die uns bisher noch nicht bekannt sind. So war es bisher immer. Die muss man dann auch bewerten, und das werden wir gemeinsam ganz friedlich in dieser Koalition tun.
May: Neue Informationen bezogen auf das Virus, auf die Gefährlichkeit des Virus, oder welche Informationen meinen Sie?
Rasche: Ich könnte mir vorstellen, dass es einmal um die Mutationen geht, dass dann mehr Informationen auf dem Tisch liegen – wissenschaftliche. Ich könnte mir vorstellen, dass es zum Impfprozess neue Informationen gibt, zum Beispiel wie man doch relativ zeitnah in zwei, drei, vier Wochen bei den Hausärzten impfen kann, wie man Schnelltests insbesondere bei Altenheimen und anderen vergleichbaren Gebäuden forcieren kann, so dass wir mehr schützen, mehr Sicherheit gewinnen und parallel mit guten Hygienekonzepten öffnen können. Das wird eine Mischung, sowohl mehr Sicherheit als auch mehr Freiheit. In der Regel ist es immer so gewesen: Kurz vor Schluss, kurz vor der entscheidenden Debatte kamen plötzlich (wahrscheinlich nicht zufällig) neue Argumente auf den Tisch und die müssen wir dann bewerten.
May: Sehen Sie darin Methode?
Rasche: Ja.
May: Das heißt? Können Sie das ausführen? Das heißt, das wird extra so gesteuert, glauben Sie, oder wie?
Rasche: Na ja. Es ist zu oft passiert, dass hier kurzfristig mit Argumenten gespielt wurde, die die Grundlage verändert haben, die kurzfristig auf den Tisch kamen. Oft kamen sie auch schon ein, zwei, drei Tage vorher, aber in der Regel immer über die Medien und nicht über Informationen an die Parlamente.
May: Waren diese Argumente nicht stichhaltig? Das ist ja letztendlich das Entscheidende.
Rasche: Stichhaltig? – Wir bewegen uns ja in einem Bereich, wo Stichhaltigkeit gleich wissenschaftliche Erkenntnis nicht auf dem Tisch liegt, sondern wir erleben immer wieder neue Spekulationen, die auch mit Angst zu tun haben, mit Chancen zu tun haben, mit Sicherheit zu tun haben. Das ist so eine bunte Mischung, wo es anscheinend dazu gehört, den Politiker gegenüber am Tisch zu überraschen, um eigene Ziele zu erreichen. Dass wir in der Politik wie in der Bevölkerung Personengruppen haben, die sich mehr auf die Sicherheit konzentrieren, und andere Personengruppen haben, die sich auch auf die Öffnung konzentrieren, das steht ja fest.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.