Über vier Jahre liegt der Start der Coronapandemie im Jahr 2020 nun zurück – doch viele Wunden aus dieser Zeit sind noch nicht geheilt. Es sieht so aus, als hätte der Kampf gegen das Virus die Gesellschaft langfristiger gespalten. Forderungen nach einer Aufarbeitung werden immer lauter.
Wer fordert eine Aufarbeitung der Coronapandemie?
Über ein großes Parteienspektrum verteilt, sprechen sich Politikerinnen und Wissenschaftler für eine Aufarbeitung aus. Zum Beispiel FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, der Linken-Abgeordnete Gregor Gysi, das Bündnis Sahra Wagenknecht, Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann, AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der Virologe Christian Drosten, Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin und viele mehr.
Was ist Auslöser der Debatte?
Mit ins Rollen gebracht wurde die Diskussion durch das Online-Magazin „Multipolar“. Dieses hatte juristisch durchgesetzt, dass Protokolle des damaligen RKI-Krisenstabs freigegeben werden müssen – und die Dokumente veröffentlicht.
Die Protokolle bestärkten sie in ihrem Eindruck, „dass es an der Zeit ist für eine verantwortungsvolle Aufarbeitung der Coronapandemie“, sagt Frauke Rostalski. Sie lehrt Strafrecht in Köln und ist Mitglied des Deutschen Ethikrats. „Wir können daran sehen, dass bei vielen auch freiheitsrechtlich relevanten Entscheidungen eine empirische Sachlage zu Grunde gelegt worden ist, über die schon damals Besseres oder Anderes bekannt war.“ Das tangiere unmittelbar die juristische Bewertung der ergriffenen Maßnahmen und es stelle Fragen nach der Verantwortung der Beteiligten, so die Juristin.
Welche damaligen Maßnahmen sind zur Aufarbeitung im Gespräch?
Unter anderem diese:
Einschränkung von Kindern
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist der Ansicht, dass Maßnahmen wie Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen für Kinder zu weit gegangen seien: „Zumindest hätten wir uns viel mehr darum kümmern müssen, dass die Kinder eine gute digitale Beschulung bekommen“, sagte er.
Impfpflicht
Viel wurde über das Für und Wider einer Impfpflicht diskutiert. Bei einer Abstimmung im Bundestag votierten letztendlich mehr dagegen. Während Lauterbach zu den Befürwortern zählt, kritisiert der frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin hohen Druck auf Leute, die sich nicht impfen lassen wollten - u.a. am Beispiel des Fußballers Joshua Kimmich. „Der ist Anfang 20. Er hat völlig recht! (…) Der war nicht bedroht durch Covid.“
Dauer von Lockdowns
Stimmen derer, die aufgrund der Lockdowns ihre Grundrechte bedroht sahen, musste man damals nicht lange suchen. Virologe Christian Drosten sieht es andersrum. Im Teil-Lockdown zwischen Herbst 2020 und Frühling 2021 ging es auch darum, vulnerable Personengruppen zu schützen. „Man hätte nur noch ein paar Wochen bis Monate länger konsequent sein müssen. Dann hätte man vielen Menschen das Leben gerettet.“
Überhöhen von Einzelmeinungen
Drosten kritisiert, dass damals einzelne Stimmen, die zugleich viele verunsicherten, eine breite Bühne bekommen hätten – „obwohl deren Meinungen nicht wissenschaftlich verifizierbar sind.“ Rückblickend sagt er: „Wir haben es in der Wissenschaft versäumt zu zeigen, wo die Hauptmeinung liegt.“
Zerrbild der Wissenschaft
Nida-Rümelin beobachtet eine sprachliche Reduzierung auf nur eine Wissenschaft. „Als habe die Wissenschaft bestimmte Positionen gehabt. Das ist (…) vereinfachend. Es gab ein breites Spektrum.“
Bevölkerung zu wenig Eigenverantwortung zugestanden
In manchen Bereichen hätten starre Vorgaben durch Länder und Kommunen weggelassen und durch Eigenverantwortung ersetzt werden können. Davon ist Christian Drosten überzeugt. „Die Pfeile auf dem Boden im Kaffeeladen, wer wo hinlaufen darf, oder irgendwelche Richtlinien zum Händewaschen an bestimmten Stellen (…), da ist sicherlich vieles schiefgelaufen.“
In welchem Rahmen könnte eine Aufarbeitung stattfinden?
Während etwa Teile der FDP eine Enquete-Kommission fordern, betont Lauterbach, dass er sich auf die konkrete Form der Aufarbeitung nicht festlegen will. „Wenn eine parlamentarische Aufarbeitung kommt, muss auch das Parlament entscheiden, wie das zu geschehen hat.“
Nida-Rümelin sieht hingegen klare Vorteile darin: „Eine Enquete-Kommission argumentiert sehr sachlich, protokolliert, bringt verschiedene Positionen auf.“
Laut Medienberichten aus dem Sommer 2024 konnte sich die Ampelkoalition im Bund bisher nicht auf die Art der Aufarbeitung einigen, so dass es dazu wohl nicht mehr in dieser Legislaturperiode kommen dürfte. Debattiert wurde im Bundestag aber über Einzelaspekte wie die Masken-Beschaffung in der Amtszeit des früheren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). In einigen Landtagen hat es ebenfalls Beratungen und Diskussionen gegeben.
Drosten hält eine gemeinsame Aufarbeitung unterschiedlicher Berufszweige für problematisch: „Ich würde denken, dass so eine politische Kommission dazu führt, dass bestimmte Kräfte eine Bühne bekommen, die gar nicht im Zentrum der Diskussion stehen sollten, sondern ich glaube, die Medien, die Wissenschaft, die Politik müssen jeweils für sich ihre Methoden einer Aufarbeitung wählen.“
jma, tei