Wegen der Corona-Pandemie berät Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch erneut mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer. Politiker debattieren über verschärfte Kontaktbeschränkungen sowie über die Frage, ob Restaurants und Kneipen wie im Frühjahr wieder schließen müssen.
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sagte im Deutschlandfunk: "Wir wissen noch nicht, wie hart die Wirtschaft getroffen werden könnte." Wenn die zweite Welle nicht gestoppt werden könne und sich ähnlich stark ausbreite wie im Frühjahr, dann könnte die deutsche Wirtschaft "noch mal in einen Abschwung kommen". Fratzscher sprach sich für "Begrenzungen bei Kontakten im tagtäglichen Leben" aus auf maximal zwei Haushalte, die sich treffen dürfen.
Das vollständige Interview:
Stefan Heinlein: Das Corona-Frühjahr hat uns bekanntlich viele, viele Milliarden gekostet. Nun steigen die Infektionszahlen wieder rasant. Wie teuer wird dieser Pandemie-Herbst für Wirtschaft und Unternehmen?
Marcel Fratzscher: Das hängt davon ab, wie wir die zweite Welle stoppen können, oder wie schnell wir sie abflachen können und beenden können. Das ist letztlich der entscheidende Punkt. Was mich in der Diskussion stört, dass immer so dargestellt wird, Restriktionen, die die Gesundheit der Menschen schützen, seien schlecht für die Wirtschaft, und das ist ein falscher Widerspruch. Den gibt es nicht. Wir müssen uns bewusstmachen: Das, was Gesundheit schädigt oder Menschenleben kostet und der Wirtschaft Schaden zufügt, das ist letztlich das Virus. Das sind nicht die Restriktionen.
Die Antwort ist: Wir wissen noch nicht, wie hart die Wirtschaft getroffen werden könnte. Wenn die Welle nicht gestoppt werden kann und sich ähnlich stark ausbreitet wie im Frühjahr, dann könnte die deutsche Wirtschaft noch mal in einen Abschwung kommen. Dann könnte der Aufschwung, den wir in den letzten Monaten ja erlebt haben, durchaus zum Halt kommen.
"Ein bisschen ein Vabanquespiel"
Heinlein: Über den richtigen Weg in dieser Pandemie aus Sicht der Wirtschaft können wir gleich noch reden. Blicken wir erst mal zurück. Im Sommer kam die deutsche Wirtschaft ja ganz langsam wieder auf die Füße. Es ging aufwärts mit der Konjunktur. Wie groß ist denn Ihre Zuversicht für die kommenden Wochen und Monate? Oder blicken Sie ganz schwarz in die Zukunft?
Fratzscher: Eigentlich hatten wir eine recht gute Prognose für jetzt das vierte Quartal und auch fürs Frühjahr. Aber das, was wir vor einigen Wochen noch an Prognose angestellt haben, ging davon aus, dass die zweite Welle recht moderat bleiben würde, dass es nicht noch mal zu Restriktionen kommen muss. Und es ging auch davon aus, dass die Weltwirtschaft sich erholt. China läuft nach wie vor sehr gut. China ist die Wachstums-Lokomotive in den letzten Monaten gewesen, auch für die deutsche Wirtschaft. Denn die Exporte haben vor allem Deutschland stark geholfen. Fast die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung sind Exporte.
Die Antwort, wie es jetzt weitergeht, hängt natürlich nicht nur davon ab, wie es bei uns mit der zweiten Welle jetzt steht, sondern auch, wie das in anderen europäischen Ländern passiert, was in China passiert. Wir sehen zumindest in Europa, dass dort die zweite Welle noch stärker ist. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir jetzt zumindest zu einem Halt kommen, was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft, und wenn die zweite Welle doch nicht zu stoppen ist, dann könnte es wieder zum Abschwung kommen.
Heinlein: Nun haben wir es im Bericht von Frank Capellan aus Berlin gerade gehört. Die Kanzlerin favorisiert ja offenbar einen "Lockdown light". Übersetzt heißt das: Kneipen, Restaurants, öffentliche Veranstaltungen, das soll es nicht mehr geben. Die Türen sollen dichtgemacht werden. Schulen und Geschäfte sollen aber offenbleiben. Wie sinnvoll ist denn aus Ihrer Sicht dieser sanfte Weg?
Fratzscher: Die Frage ist, ob es funktioniert, und das ist ein bisschen ein Vabanquespiel. Natürlich hat man aus der Erfahrung der ersten Welle im Frühjahr gelernt. Da waren ja sehr starke Restriktionen da und auch für sehr lange Zeit. Der Versuch ist jetzt, dass man eher gezielter versucht, die zweite Welle zu stoppen, dass man nicht so starke Restriktionen hat. Deshalb der Begriff "Lockdown light", dass man mit weniger auskommt. Aber das ist letztlich ein Vabanquespiel.
Für die Wirtschaft sind der Faktor Zeit und der Faktor Vertrauen die beiden entscheidenden Faktoren. Je länger eine zweite Welle andauert, desto größer der wirtschaftliche Schaden. Wenn es jetzt gelingt, mit punktuellen Restriktionen die zweite Welle zu stoppen, dann ist das sicherlich der richtige Weg. Aber man geht ein Risiko ein, denn wenn man jetzt erst noch mal zwei, drei Wochen wartet, um zu sehen, funktioniert es, und stellt dann fest, nein, es hat nicht funktioniert, und geht dann trotzdem zu den härteren Restriktionen über, dann hat man zwei, drei Wochen an Zeit verloren, und das ist natürlich dann für die Wirtschaft sehr kostspielig, weil man dann nicht nur jetzt die kommenden Wochen zum Teil schon Einschränkungen hatte, sondern dann noch mal einen harten Lockdown benötigt. Es ist ein hohes Risiko in dieser Strategie, schrittweise vorzugehen, erst mal zu warten, funktioniert es, denn wenn es nicht funktioniert, dann steigt natürlich nicht nur der gesundheitliche Schaden für die Menschen, sondern auch der wirtschaftliche Schaden.
Kein voller Lockdown wie im Frühjahr
Heinlein: Ein hohes Risiko, sagen Sie, Herr Professor Fratzscher, ein Vabanquespiel. Verstehe ich Sie richtig? Für Sie aus Sicht der Wirtschaft, aus Sicht des Ökonomen wäre ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende? Kann man das so simpel zusammenfassen?
Fratzscher: Mein Punkt ist, dass es besser ist, jetzt konsequent zu handeln und jetzt wirklich die zweite Welle zu stoppen – sowohl aus wirtschaftlicher Perspektive als auch aus gesundheitlicher Perspektive. Denn nochmals: Der Faktor Zeit ist entscheidend. Wenn man jetzt wenig macht und hofft, dass es doch dann irgendwann funktioniert und die Menschen sich beschränken, dann begrenzt man den wirtschaftlichen Schaden nicht.
Ich halte einen kurzen, aber wirklich konsequenten Lockdown gesamtwirtschaftlich gesehen für die beste Option. Das mag Restaurants, Cafés, gewisse Branchen sehr, sehr hart treffen – natürlich -, aber gesamtwirtschaftlich gesehen wird das erlauben, dass man diese Restriktionen zeitlich beschränken kann, dass man sehr viel schneller wieder öffnen kann, dass wir schon vor Weihnachten wieder in der Erholungsphase sind und die Wirtschaft wieder hochfahren kann, so dass man diese Restriktionen zeitlich gesehen beschränken kann und dann möglichst schnell wieder in den Neustart kommt. Das ist meiner Ansicht nach die bessere Option, als jetzt Versuche zu starten zu sehen, funktionieren verschiedene Maßnahmen, und dann das Risiko läuft, dass man dann auch Weihnachten noch in steigenden oder hohen Infektionszahlen ist.
Heinlein: Aber offenbar sind sich ja nicht nur die Virologen nicht ganz einig über den richtigen Weg im Kampf gegen diese Pandemie, sondern auch die Ökonomen. Ihr Kollege Thomas Straubhaar hat heute Morgen bei uns vor Hysterie gewarnt und vor dem erneuten Herunterfahren des wirtschaftlichen, des öffentlichen Lebens. Er will eigentlich den Weg der Kanzlerin, nicht den großen Hammer, sondern viele kleinere Maßnahmen. Ist die Wirtschaft, Herr Professor Fratzscher, sich nicht einig, ähnlich wie die Virologen?
Fratzscher: Ja, natürlich sind wir uns nicht einig, weil keiner in die Zukunft schauen kann und man muss letztlich eine Abwägung von Risiken einschätzen. Ich halte auch einen vollen Lockdown wie im Frühjahr nicht mehr für notwendig, dass ich da sehr klar bin. Aber ich warne halt…
Sehr harte Begrenzungen bei Kontakten im tagtäglichen Leben
Heinlein: Wo sollten denn die Unterschiede sein, Herr Professor Fratzscher? Kein voller Lockdown wie im Frühjahr, sondern ein anderer Lockdown? Schulen offen, oder was ist Ihr Vorschlag ganz konkret?
Fratzscher: Ich denke, das was wir gelernt haben ist, dass Schul- und Kita-Schließungen einen extrem hohen Schaden nicht nur für Familien, sondern letztlich auch für die Wirtschaft verursacht haben, weil viele Eltern gar nicht mehr arbeiten können oder nur sehr beschränkt arbeiten können. Schul- und Kita-Öffnungen halte ich für ein ganz wichtiges Thema.
Aber dass man Begrenzungen bei Kontakten im tagtäglichen Leben sehr hart umsetzt, wirklich sehr stark wieder auf diese maximal zwei Haushalte, die sich treffen dürfen, dass man …
Heinlein: Oder Ausgangsbeschränkungen wie in Tschechien?
Fratzscher: Das halte ich in einer Demokratie oder in den meisten Demokratien - Tschechien ist auch eine Demokratie-, auch in Deutschland für schwer umsetzbar. Denn wir können natürlich nicht Maßnahmen wie in China umsetzen. Letztlich müssen die Menschen die Maßnahmen akzeptieren. Die Akzeptanz ist wichtig und deshalb ist es so wichtig, Menschen mitzunehmen, zu erklären, wieso jetzt gewisse Restriktionen eingeführt werden, wieso das der richtige oder der beste Weg ist, um möglichst den Schaden für alle zu beschränken und möglichst schnell wieder aus dieser zweiten Welle herauszukommen. Das ist die Aufgabe der Politik. Und wenn hier Kakofonie groß ist, wenn jeder etwas Anderes sagt und jeder etwas Anderes tut, dann schwindet das Vertrauen und auch die Akzeptanz in der Bevölkerung.
Ich glaube, für mich ist noch mal wichtig klarzumachen: Es gibt keinen Widerspruch zwischen Schutz der Gesundheit und Schutz der Wirtschaft. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Restriktionen, die erfolgreich das Virus stoppen, mögen zwar einzelne Branchen treffen. Gastronomie und Einzelhandel sind sicherlich stark exponiert. Aber gesamtwirtschaftlich gesehen ist das der wirtschaftlich bessere Weg als das Prinzip Hoffnung, erst mal alles weiterlaufen zu lassen. Deshalb glaube ich schon, das was die Bundeskanzlerin vorgeschlagen hat, ist ein guter Weg. Wir brauchen mehr Restriktionen, vielleicht nicht das volle Programm wie im Frühjahr, aber das ist auch wirtschaftlich gesehen der wahrscheinlich beste Weg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.