Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, hat die Debatte über Lockerungen der Corona-Maßnahmen für Geimpfte als wichtig bezeichnet. Es werde schwer sein, die Freiheitsbeschränkungen aufrechtzuerhalten, wenn der Sachgrund entfalle. "Es gibt jetzt eine neue Situation. Denn Geimpfte scheinen nicht mehr ansteckend und können das Virus nicht mehr übertragen", sagte Alena Buyx im Deutschlandfunk. Diese Gerechtigkeitsfragen würden viele Menschen bewegen.
Maskenpflicht und Abstandsregeln auch weiterhin
Die harten individuellen Freiheitsbeschränkungen, wie eine Quarantäne, seien rechtlich sehr schwierig durchzusetzen, wenn die Infektiösität wegfalle, sagte Buyx. Sie prophezeite, dass die starken, schweren individuellen Freiheitsbeschränkungen sich nicht werden halten lassen. Maskenpflicht oder die AHAL-Regeln werden sich aber auch zukünftig für Geimpfte nicht zurücknehmen lassen.
Sie warnte aber davor, wesentliche Regeln im öffentlichen Raum infrage zu stellen. Im Privaten seien die Schrauben schon sehr weit angezogen. Im Arbeitsbereich dagegen könne man noch mehr machen. Zudem äußerte sich Buyx besorgt über die gesellschaftliche Schieflage zwischen Privilegien für Geimpfte und Nachteilen für Nichtgeimpfte. Eine solche Schieflage vermeide man durch mehr Tests für Nichtgeimpfte. Buyx forderte, auch das Tempo bei den Impfungen zu erhöhen.
Lesen Sie hier das vollständige Interview:
Jörg Münchenberg: Frau Buyx, die Politik diskutiert über einen harten Lockdown, angesichts hoher Infektionszahlen. Gleichzeitig werden die Rufe nach einer Streichung der Auflagen für Geimpfte immer lauter. Ist das ein gutes Timing?
Alena Buyx: Ich glaube, es ist nachvollziehbar. Das ist eine wichtige Debatte, weil es jetzt ja eine neue Situation gibt, was diese Frage anbelangt. Das RKI hat ja eines von zwei großen Problemen, die wir auch vom Deutschen Ethikrat beschrieben haben, mit Blick darauf, ob man diese Freiheitseinschränkungen für Geimpfte wieder zurücknehmen kann, letztlich aus dem Weg geräumt.
Das erste Problem, sind Geimpfte noch ansteckend, oder können sie das Virus noch übertragen, das scheint zu entfallen. Das sind ja erst mal sehr, sehr gute Neuigkeiten. Ich glaube, angesichts dessen sollte man dann jetzt sehr intensiv über das zweite Problem diskutieren.
Das macht natürlich keinen Spaß in einer Lockdown-Situation beziehungsweise in einer Situation, wo darum gerungen wird, wie und wann nun ein Lockdown noch mal kommt. Aber ich glaube, das ist wichtig mit Blick nach vorne, denn diese Gerechtigkeitsfragen, die bewegen viele Menschen.
Das macht natürlich keinen Spaß in einer Lockdown-Situation beziehungsweise in einer Situation, wo darum gerungen wird, wie und wann nun ein Lockdown noch mal kommt. Aber ich glaube, das ist wichtig mit Blick nach vorne, denn diese Gerechtigkeitsfragen, die bewegen viele Menschen.
Münchenberg: Frau Buyx, Sie haben das RKI angesprochen. Vollständig Geimpfte sind wohl nicht ansteckend. Sind da Beschränkungen für Geimpfte überhaupt noch zu rechtfertigen?
Buyx: Das sagen mir auch meine verfassungsrechtlichen Kollegen im Ethikrat immer ganz klar, dass diese ganz harten individuellen Freiheitsbeschränkungen rein rechtlich sehr, sehr schwierig durchzuhalten sind, wenn der sogenannte Sachgrund entfällt, der Sachgrund der Infektiösität. Ein klassisches Beispiel wäre dafür die Quarantäne. Das ist tatsächlich ein bisschen was anderes mit Blick auf eine ganze Reihe anderer Maßnahmen.
Deswegen plädiere ich auch dafür, dass man das nicht alles über einen Kamm schert, sondern dass man das sich jetzt mit Augenmaß anschaut. Wir haben ja dieses Problem in einer Situation, wo sich noch nicht alle impfen lassen können, die sich gerne impfen lassen möchten, dass diejenigen, die zurücktreten für die, die jetzt priorisiert werden beim Impfen, einen doppelten Nachteil haben. Sie sind nicht geschützt und sie könnten dann auch weniger machen.
Und diejenigen, die schon geimpft sind, haben einen doppelten Vorteil. Sie haben früher den Schutz und sie könnten mehr machen. Das ist, glaube ich, schon etwas, was man berücksichtigen muss. Dieses Problem ist allerdings auch inzwischen etwas entschärft worden, weil es jetzt doch breit verfügbar die Tests gibt. Deswegen ist zum Beispiel eine Gleichstellung von Geimpften und Getesteten aus ethischer Perspektive unproblematisch, weil man damit beiden Gruppen einen Zugang gewährleistet. Deswegen ist es sehr wichtig, dass man sich genau anschaut, über welche Maßnahmen spricht man jeweils.
"Diese starken Freiheitsbeschränkungen, die werden sich nicht halten lassen"
Münchenberg: Nun hat ja, Frau Buyx, sich der Ethikrat - Anfang Februar war das, glaube ich - doch sehr zurückhaltend geäußert, hat sich aber diese Hintertür offen gelassen, bei geklärtem Ansteckungsrisiko seien Rücknahmen der Freiheitsbeschränkungen gegebenenfalls geboten. So heißt es da. Sollte der Ethikrat sich da nicht jetzt doch klarer und neu positionieren?
Buyx: Ich glaube, wir haben das tatsächlich nicht in allen Details ausbuchstabiert, aber schon in dieser Empfehlung ziemlich klar angelegt. Diese starken, schweren, individuellen Freiheitsbeschränkungen, die werden sich nicht halten lassen.
Gleichzeitig gibt es eine ganze Reihe von Beschränkungen, bei denen wir klar gesagt haben, die sollten auch weiter für Geimpfte gelten, weil sie keine starken Einschränkungen der Grundrechte beispielsweise darstellen: Die Maskenpflicht, die Abstandspflicht, Hygiene, diese ganzen Basismaßnahmen. Das sind mal zwei Pflöcke, die wir eingehauen haben.
Dann wird es spannend werden - und das muss man jetzt im Einzelnen sich anschauen -, wie es in dem Bereich in der Mitte passiert. Die Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum - da würde ich dafür plädieren, da sehr vorsichtig zu sein, da irgendetwas früh zurückzunehmen, denn die brauchen wir einfach noch in dieser dritten Welle.
Und man muss sich auch klarmachen, dass solche Rücknahmen und Unterschiede, wie Menschen sich jetzt im öffentlichen Raum verhalten können, dazu führen, dass es sehr, sehr schwer wird, dass diese Regeln überhaupt noch aufrechterhalten werden können.
Gleichzeitig ist es ganz wichtig, dass man mit Blick auf solche Dinge wie Restaurants und so etwas, was wir uns ja alle erhoffen, dass es irgendwann in der Zukunft wieder möglich wird, dass man da ganz flächendeckend Zugangsmöglichkeiten über Tests generiert für diejenigen, die sich noch relativ lange nicht werden testen lassen können.
"Weiter unheimlich Tempo machen beim Impfen"
Münchenberg: Frau Buyx, nun sind Sie ja Ethikerin. Jenseits aller medizinischen Erwägungen - rund 15 Prozent der Deutschen sind bislang geimpft, sechs Prozent vollständig. Mit anderen Worten: Für die große Mehrheit der Deutschen blieben die neuen Freiheiten erst einmal unerreichbar. Da stellt sich ja schon die Frage: Hält eine Gesellschaft so eine Schieflage aus?
Buyx: Ganz richtig. Das ist genau eine der großen Sorgen. Wir hoffen ja alle, dass das Impftempo jetzt, wo die Hausärzte mitimpfen, weiter zunimmt. Das sind ja sehr ermutigende Zahlen gewesen aus der letzten Woche.
Aber genau deswegen ist es wichtig, dass man eine solche Schieflage vermeidet über das flächendeckende Angebot von Tests, damit man diese Gleichstellung erreicht zwischen Geimpften und Getesteten und nicht die eine Gruppe sehr viel mehr darf als die andere. Das wäre, glaube ich, wirklich sehr, sehr schwierig.
Wir haben ja jetzt tatsächlich da ein Mittel, mit dem man das, wenn auch nicht perfekt, aber doch zumindest im Grundzug für viele, viele Bereiche wird gewährleisten können, und ich plädiere dafür, da wirklich stark voranzukommen. Gleichzeitig muss man natürlich weiter unheimlich Tempo machen beim Impfen. Das ist extrem wichtig, auch mit Blick auf die dritte Welle.
Münchenberg: Nun haben wir jetzt laufend eine Debatte über Änderungen des Infektionsschutzgesetzes mit mehr Kompetenzen beim Bund. Besonders umstritten - das haben wir heute Morgen auch mit FDP-Chef Christian Lindner besprochen - sind die Ausgangssperren, die da drohen. Da stellt sich auch die Frage, jenseits der rechtlichen Erwägungen: Muss es dann auch nicht für Geimpfte zum Beispiel Ausnahmen geben, was so eine Ausgangssperre betrifft?
Buyx: Das ist tatsächlich jeweils pro Maßnahme anzuschauen. Ich glaube, wichtig ist, dass insgesamt das Paket der Maßnahmen so effektiv wie möglich ist und so ausgewogen wie möglich. Ich persönlich habe das schon mehrfach gesagt, dass im privaten Bereich die Schraube jetzt wirklich schon sehr eng angezogen ist und es noch andere Bereiche gibt, Stichwort Arbeit.
Da kann man sicherlich noch sehr viel mehr machen und man weiß auch, dass in diesem Bereich relativ viele Ansteckungen erfolgen. Ich hoffe sehr darauf, dass die Maßnahmen, die jetzt beschlossen werden, gleichzeitig effektiv, aber auch ausgewogen stattfinden.
Was Ausnahmen für Geimpfte anbelangt, noch mal: Optimal ist es, wenn man immer eine Gleichstellung erreichen kann - nicht nur über die Impfung, sondern auch über das Testen. Aber man muss sich das dann - das wird man tun müssen - im Einzelnen anschauen, wie stark eine Maßnahme jeweils die Menschen tatsächlich einschränkt, ob man eine solche Gleichstellung tatsächlich rein praktisch hinbekommt und ab wann es dann gegebenenfalls gerechtfertigt wäre zu sagen, selbst wenn man das nicht schafft, wenn das Maßnahmen sind, wo das über die Tests nicht gewährleistet werden könnte, ob man das dann trotzdem irgendwann für die Geimpften aufheben kann. Das ist aus meiner Sicht schon eine wichtige Debatte.
Ich glaube allerdings, dass wir in einer Situation, in der jetzt diese dritte Welle wirklich ganz intensiv anbrandet, vielleicht vorerst nicht über Dinge sprechen sollten, die uns ganz wesentliche Regeln von der Normbefolgung im öffentlichen Raum zerschießen. Ich glaube, das ist schon eine gerechtfertigte Überlegung.
Münchenberg: Noch ganz kurz zu einem anderen Thema - Stichwort Impfgerechtigkeit. Das gehört ja zu dem Ganzen trotzdem dazu. Das Impftempo hat zwar zugenommen, seitdem die Hausärzte mit dabei sind. Das hat aber auch zur Folge, dass die Impfpriorität, die Reihenfolge doch nicht immer eingehalten wird. Wie sehr beunruhigt Sie das?
"Man muss allen allen ein Impfangebot machen"
Buyx: Vorweg gesagt: Die Priorisierung war und ist noch richtig und wichtig. Die hat viele Leben gerettet. Wir haben aber auch immer gesagt, das ist erstens eine Priorisierung auf Zeit für diese initiale Knappheit - vor allem ganz am Anfang und natürlich nicht für immer.
Zweitens haben wir auch von Anfang gesagt, da darf man eine gewisse Flexibilität und einen gewissen Pragmatismus haben. Das darf keine Fessel sein beim Impfen. Denn natürlich ist auch das Tempo beim Impfen ein ethisches Gebot. Da irgendwie überbürokratisch und überrigide bis zur letzten Stelle - ich sage es jetzt mal so ungereimt - hinterm Komma das durchzuziehen, das ist tatsächlich auch aus ethischer Situation problematisch. Wir haben immer gesagt, man darf schon mal überlappend impfen, man kann die eine Gruppe schon einladen, bevor man mit der anderen noch gar nicht fertig ist.
Und ich erwarte tatsächlich, wenn jetzt die Lieferungen wirklich so kommen, wie sie angekündigt sind für dieses Quartal, dass man dann relativ bald allen Gruppen ein Angebot gemacht hat. Dann kann man die Priorisierung aufgeben. Man muss wirklich nicht warten, bis alle in diesen Gruppen geimpft sind. Man muss allen oder sollte allen ein Angebot gemacht haben. Aber dann müssen wir so schnell es geht in die Breite gehen. Das ist das eine.
Und letzter Satz vielleicht noch: Ich würde mir da auch wirklich wünschen, weil ich immer wieder ganz beunruhigende Hinweise höre, dass das Schlimmste passiert, was passieren kann im Moment, nämlich dass wegen der Sorge um die Priorisierung am Ende von einem Tag in Impfzentren tatsächlich Impfdosen weggeschmissen werden, und das ist natürlich das Allerschlechteste auch aus ethischer Perspektive.
Da würde ich mir ein bisschen mehr Kreativität wünschen, was weiß ich, dass die Impfzentren ab einer gewissen Zeit per Twitter ankündigen, wir haben noch Dosen übrig, wer möchte kann vorbeikommen, damit man da nicht irgendeinen Missbrauch betreibt, aber dass man einfach sagt, jetzt machen wir das hier kurzfristig auf, damit wir nicht was wegwerfen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.