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Corona-Maßnahmen
Medizinstatistiker: Bevölkerung wird mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert

Dass rigorose Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie nicht unbedingt Erfolg brächten, zeige der Blick auf die Nachbarländer oder Spanien, sagte der Medizinstatistiker Gerd Antes im Dlf. Es fehlten Studien, die Steuerungsinstrumente für geeignete Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie liefern könnten.

Gerd Antes im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
Einige Menschen sitzen mit Mundschutz in der Straßenbahn in Hannover.
Ob Nahverkehr und Fernverkehr tatsächlicht nicht einer der großen Treiber der Pandemie sind? Das sollte wissenschaftlich überprüft werden, forderte Medizinstatistiker Gerd Antes im Dlf (dpa / Ole Spata)
Am kommenden Montag wird die Kanzlerin wieder mit den Regierungschefs und -chefinnen der Länder zusammensitzen, eine erste Bilanz ziehen zum sogenannten Lockdown light. Die Zahlen sind noch nicht rückläufig, doch der Anstieg ist gebremst worden. Sind die Maßnahmen richtig und zielführend?
Gerd Antes, Medizinstatistiker aus Freiburg, kritisierte im Deutschlandfunk, dass es kaum Studien gebe, die uns Steuerungsinstrumente liefern könnten, mit denen differenziertere Maßnahmen möglich seien. Außerdem werde die Bevölkerung mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert, das bringe eine Desorientierung mit sich.
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Jürgen Zurheide: Bevor wir jetzt reden und auch durchaus kritisch reden wollen, will ich eine Vorbemerkung machen, die ist mir allerdings auch wichtig: Sie sind kein Corona-Leugner oder keiner derjenigen, die da auf die Straße gehen und sagen, das ist alles Unsinn, oder?
Gerd Antes: Nein, im Gegenteil, ich nehme es sehr ernst, und die Lage ist auch tatsächlich sehr ernst.
"Bevölkerung wird mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert"
Zurheide: Das war mir wichtig, das vorwegzusagen, jetzt frage ich doch weiter: Warum haben Sie Schwierigkeiten – und ich sage, wir haben vorher mehr als einmal miteinander gesprochen –, warum haben Sie Schwierigkeiten mit Botschaften, die im Moment vom RKI-Präsidenten kommen, aber auch von dem einen oder anderen Politiker oder einen oder anderen Politikerin, erst mal grundsätzlich?
Antes: Ja, einmal habe ich natürlich Schwierigkeiten damit, dass die Bevölkerung dauernd mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert wird oder auch überrollt wird. Dann ist es irgendwann verhalten optimistisch, die Zahlen sagen das Gegenteil, oder die Kanzlerin sagt, oh, es ist ganz dramatisch, und wir versuchen, ein nicht einsames Weihnachten hinzukriegen. Dieses Spektrum ist natürlich eine extreme Desorientierung. Zweitens wird ein Lockdown gemacht, und wir haben eigentlich jetzt so, das fällt uns wirklich auf die Füße, den ganzen Sommer verpasst, genauere Angaben zu kriegen über das, was das bringt und was nichts bringt.
Antes: Es fehlen valide Daten für passende Steuerungsinstrumente
Zurheide: Das ist der entscheidende Punkt. Sie sagen, uns fehlt die Datenbasis. Da werden dann, was weiß ich, die Restaurants geschlossen, um nur ein Beispiel zu nennen, und um Bus und Bahnen kümmern wir uns nicht. Also was ist Ihre Grundkritik an dem Vorgehen im Moment?
Antes: Dass wir die Daten, die uns helfen könnten, was nicht so einfach ist, nicht gesammelt haben oder auch die Studien nicht gemacht haben, die jetzt die Steuerungsinstrumente liefern würden, mit denen wir differenziert vorgehen können und nicht das, was gerade auch ja viele Leute sehr verbittert – es heißt zwar light oder leichter Lockdown, aber für diejenigen, für die es jetzt durch eine Schließung, die lebensbedrohlich oder ökonomisch zumindest bedrohlich ist, für die ist es kein light, sondern wirklich ein ganz normaler Lockdown.
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Nahverkehr und der Fernverkehr - eins der ganz großen Fragezeichen
Zurheide: Das heißt, wir müssen noch mal konkret die verschiedenen Bereiche durchgehen. Ihr Hinweis oder Ihre Kritik lautet, das, was gemacht wird, ist am Ende nicht wissenschaftlich valide – das ist die Sprache der Wissenschaft. Also wenn wir fragen zum Beispiel, Restaurants zu, gibt es Validität dafür?
Antes: Man versucht irgendwie, ich nenne es inzwischen immer mit der Holzhammermethode, die Kontakte runterzufahren, aber gerade an der Stelle hab ich erhebliche Zweifel daran, ob es nicht vielleicht sogar besser wäre, sozusagen das Treffen abends zwischen Menschen – und wir sind ja Menschen, die sich gerne treffen – nicht doch in einem kontrollierbaren öffentlichen Bereich zuzulassen, statt das in den Privatbereich zu drücken. Das ist nur ein Beispiel. Dann ist der Nahverkehr und der Fernverkehr weiterhin eins der ganz großen Fragezeichen, was da eigentlich passiert, und ich glaube, das ist einer der großen Treiber, obwohl er nicht so genannt wird.
Zurheide: Da haben wir in dieser Woche gerade vom Verkehrsminister auf Bundesebene gehört, es gibt eine Untersuchung, und die sagt, in den Bahnen zumindest passiert gar nichts. Wie bewerten Sie diese Untersuchung?
Antes: Ja, das ist sogar grob fahrlässig und falsch. Es gibt eine Studie, aber die erstens gemacht worden Ende Juni, also die erste Datenerfassung, zu Zeiten, wo die Züge mit unter 50 Prozent Belegung rumfuhren und teilweise fast leer – das habe ich selbst öfter erfahren. Zweitens hat die Studie eindeutig das Ziel gehabt, die Belastung des Zugpersonals zu untersuchen, und das zu übertragen auf die Fahrgäste, ist auch jetzt – da muss man kein sehr qualifizierter Wissenschaftler sein, um das festzustellen –, die ist auch völlig unangemessen.
Rigorose Maßnahmen, schlechte Zahlen in Nachbarländern
Zurheide: Was müssten denn für Untersuchungen gemacht werden? Wenn man Ihnen jetzt sagen würde, untersuchen Sie, wo würden Sie anfangen oder was müsste gemacht werden? Es scheint ja weltweit da ein Problem zu bestehen.
Antes: Die ganze Welt rätselt, was eigentlich bewirkt wird mit einzelnen Maßnahmen. Das schönste Beispiel ist immer direkt bei unseren Nachbarn, von hier aus 20 Kilometer, die sehr viel rigorosere Maßnahmen haben, für Spanien gilt das Gleiche, und trotzdem schlechtere Zahlen. Dann wird sofort heruminterpretiert, na ja, wir sind halt früher dabei gewesen, wir haben schneller reagiert, aber wenn man das mal genauer aufschreibt und dann anschaut, dann ist das nicht schlüssig.
"Experimentieren mit der Situation und uns selbst"
Zurheide: Aber die Frage ist ja, das war auch meine Frage jetzt, was müsste eigentlich untersucht werden, damit wir da mehr Evidenz kriegen und wissen, da sollten wir mehr tun und da vielleicht etwas weniger. Es wird am Ende ja dann differenzierte Antworten geben. Aber welche Form von Untersuchungen brauchten wir?
Antes: Da gibt es jetzt wissenschaftlich formuliert den schönen Satz, wir sind gerade gegenwärtig in einer riesigen Beobachtungsstudie, wir experimentieren praktisch mit der Situation und mit uns selbst rum. Um ein Beispiel zu nennen: Jetzt könnte ich zum Beispiel mir eine Stadt raussuchen, wo die Nahverkehrsfahrer oder -fahrerinnen vorne mit einer Plastikplane abgetrennt sind und die Türen vorne zu sind, und dann schaue ich woanders hin, wo das nicht gemacht wird, und guck mal, ob da die Infektionsraten deutlich unterschiedlich sind, als ein Beispiel. Ich muss also jetzt irgendwo Bedingungen schaffen, wo ich zwei verschiedene Gruppen habe unter unterschiedlichen Isolierungsbedingungen oder Infektionsmöglichkeiten, und schauen, was passiert. Dann wüsste ich an der Stelle, wenn ich das mache, das ist eine wirksame Maßnahme. Das kann man durchziehen durch alle Bereiche, ist nicht einfach, sehr fehlerträchtig, und trotzdem wäre das eigentlich das, was angemessen gewesen wäre.
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Reale Beobachtungsstudie durchführen - und richtig interpretieren
Zurheide: Auf der anderen Seite, ich will jetzt nicht sagen, das ist fast zynisch, ich meine, das heißt, wir setzen dann bestimmte Leute Risiken aus, oder sagen Sie, das tun wir im Moment ohnehin?
Antes: Ja, wir tun das zwangsläufig ohnehin, und deswegen darf man so was auch nicht experimentell machen. Bei normalen klinischen Studien, da kann man ja dann – kennt man ja inzwischen auch – gegen Placebo testen. Hier darf man das nicht machen, weil man dann ja tatsächlich Menschen vorsätzlich gefährden würde, das würde auch aus ethischen Gründen gar nicht gehen, aber man kann natürlich das beobachten, was sowieso passiert. Also man sammelt die Daten ein, und dann hätte man eine reale Beobachtungsstudie, und die müsste man dann richtig interpretieren.
Zurheide: Nur wenn ich jetzt einen Strich unter den bisherigen Teil unseres Gespräches ziehe, dann kann ich nur sagen, was die Politik macht, ist der Blindflug.
Antes: Ja, das haben Sie jetzt gesagt, aber ich kann dem nicht widersprechen, ja, leider ja.
Hoffnung auf Normalisierung im nächsten Sommer unrealistisch
Zurheide: Was heißt das eigentlich jetzt mit Blick auf die Zukunft? Erstens stellen wir fest, wir müssten viel mehr vernünftig, wissenschaftlich valide Untersuchungen machen und die dann auch evidenzbasiert auswerten – das ist ja übrigens Ihr großes Thema gewesen, Medizin muss evidenzbasiert sein, das heißt, sie muss auf Fakten beruhen. So, jetzt kommt der Impfstoff, und wir müssen testen. Manche sagen, damit haben wir jetzt die Lösung, was sagen Sie?
Antes: Wir haben einen Teil der Lösung, und das ist, was es so komplex macht. Wir haben einen Strauß von Maßnahmen, und da ist aber natürlich – andersrum gesagt: Das einzig wirklich Belastbare ist ein sehr, sehr großer Abstand zum nächsten Menschen, und das ist natürlich faktisch nicht durchführbar auf Dauer. Aber wenn ich das jetzt durchhalten könnte – da gibt es einen schönen Spruch –, dann ist das Problem nach 14 Tagen aus der Welt. Und jetzt kommt mit der Impfung eine weitere Maßnahme dazu in diesen Maßnahmenstrauß, und die wird natürlich enorm was bewirken, Gott sei Dank, es kommen aber auch noch viele Fragezeichen dazu. Es kann zum Beispiel sein, dass wir Spätfolgen, negative Auswirkungen von der Impfung haben, da müssen wir auch noch mit einigen Sachen rechnen, die nicht auszuschließen sind, aber insgesamt wird die Situation besser, aber sie wird auf keinen Fall innerhalb von Monaten so durchschlagend erfolgreich sein, dass wir damit das Problem weghaben. Überall sieht man zwischen den Zeilen die Hoffnung, im nächsten Sommer ist wieder alles ganz normal, da kann man, glaube ich, ziemlich sicher sagen, dass das nicht passieren wird.
Impfbereitschaft könnte durch Impfunfall schlagartig sinken
Zurheide: Na ja, da muss man einfach nur rechnen und wissen, wie viel Menschen am Tag maximal geimpft werden können, und dann weiß man, wie lange das dauert. Von welchen Fristen gehen Sie da aus?
Antes: Das sind mehrere Sachen. Einmal ist es die Logistik, die ja extrem schwierig ist, gerade bei diesem ersten Impfstoff, wegen der tiefen Temperaturen, die lückenlos …
Zurheide: Minus 80 Grad.
Antes: … die lückenlos geliefert werden müssen, und dann kommen aber die beiden anderen Sachen dazu: Erstens, 90 Prozent klingt gewaltig, aber das sind auch noch mal erst mal 90 Prozent unter Studienbedingungen, ob man die wirklich halten kann, werden wir sehen. Und dann muss man das natürlich gleich zusammen multiplizieren mit der Impfrate, da gibt es jetzt ja auch Schätzungen, wie viel Menschen bereit sind, sich impfen zu lassen. Da braucht nur irgendein Impfunfall öffentlich zu werden, da bin ich davon überzeugt, dass das schlagartig runtergehen wird. Die beiden Dinge oder diese drei Sachen, die kommen zusammen, und deswegen müssen wir sehen – und da traue ich mir auch keine Voraussage zu –, dass wir im nächsten Sommer die Zahlen erreichen, die wirklich was bewirken. Und dann muss man sich auch wieder reindenken in die ganze Situation, auch wenn ich selbst nicht geimpft bin, ist natürlich die Gesamtsituation, wenn um mich herum sehr viel geimpft worden ist, auch für mich nützlich. Das ist dann ein bisschen egoistisch, aber ich muss mich vielleicht gar nicht impfen lassen. Wenn alle anderen sich impfen lassen würden, wäre das Problem auch aus der Welt. Und da geistern dann so Zahlen herum, dass 70 Prozent geimpft werden sollten, aber die sind auch alle hoch spekulativ.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.